Der schrullige Onkel
27. März 2021 von Thomas Hartung
Sein Leben war mit schwierigen Toden verwoben. 1910 starb seine jüngste Schwester Carla ebenso durch Suizid wie 1927 seine Schwester Julia, 1944 seine zweite Frau Nelly, die unter schweren Alkoholproblemen gelitten hatte, und 1949 sein Neffe Klaus („Mephisto“). Seine erste, geschiedene Frau, die Schauspielerin Maria Kanová, war wegen ihrer jüdischen Abstammung drei Jahre im KZ Theresienstadt interniert und erlag kurz nach Kriegsende den Folgen der Haft.
Sein Leben war auch von der Rivalität mit seinem jüngeren Bruder Thomas gezeichnet. Der fühlte sich bspw. von „dieser Fratzenwelt der krassen Effekte“ im Roman „Die Jagd nach Liebe“ (1903) abgestoßen und mutmaßte, „die Begierde nach Wirkung“ habe seinen Bruder „korrumpiert“. Der noch ästhetisch-literarisch begrenzte Konflikt der Brüder erreichte 1909 mit dem Roman „Die kleine Stadt“ ein neues Niveau und wurde nach dem Erscheinen von Thomas Manns „Gedanken im Kriege“ (1914), in denen dieser sich deutschnational äußerte, politisch. Nach des Älteren Essay „Zola“ (1915) herrschte zwischen den Brüdern bis 1922 komplette Funkstille. Nach Thomas‘ Nobelpreis 1929 war die Rivalität mindestens literarisch zu Gunsten des jüngeren entschieden – aufgrund seiner politischen Dimension erreicht der Ältere nicht „das ewig Gültige“.
Und sein Leben war mit politischen Wirren verbunden. Sein Roman „Professor Unrat“ (1905) wurde in seiner Heimatstadt Lübeck totgeschwiegen. Als er, inzwischen Präsident der Sektion Dichtkunst der Preußischen Akademie der Künste, gemeinsam mit Käthe Kollwitz und Albert Einstein 1932 und 1933 gleich zweimal den „Dringenden Appell zur Aktionseinheit der Kommunistischen Partei Deutschlands und der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands gegen die Nationalsozialisten“ unterzeichnet hatte, drohte der spätere Kultusminister Bernhard Rust, die Akademie aufzulösen, wenn er nicht abträte. Er tat’s, verließ Deutschland und sah sein Vaterland nie wieder.
Seine Schriften waren die ersten, die bei der berühmt-berüchtigten Bücherverbrennung in Berlin am 10. Mai 1933 in die Flammen flogen. Während seiner Emigration wurde er Vorsitzender des Vorbereitenden Ausschusses der deutschen Volksfront (Lutetia-Kreis) und Ehrenpräsident der SPD. 1949 wurde er schließlich zum Präsidenten der Deutschen Akademie der Künste in Ost-Berlin gewählt, starb jedoch im Exilland USA, bevor er das Amt antreten konnte: Heinrich Mann. Am 27. März 1871 wurde er in Lübeck als Sohn eines Kaufmanns und dessen brasilianisch-deutscher Ehefrau geboren.
Wortführer des „Aktivismus“
Er wuchs in wohlhabenden Verhältnissen in Lübeck auf, wo sein Vater von 1877 bis zu seinem Tod 1891 Senator für Wirtschaft und Finanzen war. Heinrich brach sowohl das Gymnasium als auch eine Buchhandelslehre in Dresden ab und volontierte von 1890 bis 1892 beim S. Fischer Verlag in Berlin, um sich auf eine journalistische Laufbahn vorzubereiten. Nach einer Lungenblutung 1892 unternahm er mehrere Kurreisen u.a. mit seinem Bruder nach Italien; die Familie zieht derweil nach München. Er veröffentlicht erste Erzählungen und poetische Texte und ist als Herausgeber der nationalkonservativen und antisemitischen Monatsschrift „Das Zwanzigste Jahrhundert. Blätter für deutsche Art und Wohlfahrt“ tätig.
Zur Zeit des wilhelminischen Kaiserreiches entstanden politische und kulturkritische – zum Teil aber auch antisemitische – Essays, so 1900 „Im Schlaraffenland. Ein Roman unter feinen Leuten“ und 1903 „Die Göttinnen oder Die drei Romane der Herzogin von Assy“, in denen Heinrich Eindrücke verarbeitet, die er durch seinen gemeinsam mit seinem Bruder Thomas verbrachten längeren Aufenthalt in Italien, vor allem in Riva am Gardasee, gewonnen hatte. Gottfried Benn, René Schickele und Otto Flake waren begeistert. „Es sind die Abentheuer einer großen Dame aus Dalmatien. Im ersten Theile glüht sie vor Freiheitssehnen, im zweiten vor Kunstempfinden, im dritten vor Brunst“, schreibt Mann an seinen Verleger Albert Langen. 1910 bis 1913 wurden in Berlin alljährlich Schauspiele Heinrich Manns uraufgeführt.
An dem Roman „Der Untertan“ arbeitete er ab 1912. Der Vorabdruck in der „Zeit im Bild“ fiel der Zensur zum Opfer und wurde mit Beginn des Ersten Weltkrieges unterbunden. Das Werk erschien 1915 zuerst auf Russisch und ab 1916 als Privatausgabe in deutscher Sprache. Erst nach Kriegsende 1918 wurde der Roman in nennenswerter Auflage in Deutschland veröffentlicht. Darin kritisiert er, wie auch schon im „Unrat“, in pointierten, zuweilen belustigenden Formulierungen die politischen und sittlichen Verhältnisse im wilhelminischen Deutschland, die Servilität des deutschen Bürgertums und die sozialen Ungerechtigkeit dieser Zeit.
„Alle seine schreiberischen Fähigkeiten – Witz und Pointenreichtum sowie ein unbestechlicher Blick für Phrasen, Floskeln, Denkschablonen, die er hinreißend aufzuspießen vermag – explodieren förmlich in diesem literarischen Al-fresco-Gemälde“, lobt Tilman Krause in der Welt. Zugleich das zugänglichste von Heinrich Manns vielen Büchern, schuf der Autor mit seinem Helden Diederich Heßling, der so gern wie „unser herrlicher junger Kaiser“ Wilhelm II. sein will, dem er in schneidigem Auftreten, vor allem aber in operettenhafter Inszenierung von Macht und Stärke nacheifert, einen Typus, der nicht auf den Wilhelminismus beschränkt ist: den gewissenlosen Karrieristen und Opportunisten. 1951 verfilmte den Stoff Wolfgang Staudte für die DEFA mit Werner Peters in der Hauptrolle.
Die moralische Entrüstung über die, wie er empfand, „heuchlerische Wohlanständigkeit“ seiner Zeit- und Standesgenossen, ihren „dumpfen Nationalismus“ und ihre „rücksichtslose Ausbeutung“ der arbeitenden Bevölkerung war auch Thema vieler Erzählungen. Seit dem Erscheinen dieser Romane und der zuvor publizierten politisch-kulturpolitischen Essays „Voltaire – Goethe“ und „Geist und Tat“ galt er der jungen expressionistisch-literarischen Generation als Wortführer des „Aktivismus“. Mann gehörte bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs zu den wenigen europäischen Intellektuellen, die sich gegen die chauvinistische Kriegsbegeisterung wandten. 1914 heiratete er Maria Kanová, zieht mit ihr nach München, wo zwei Jahre später Tochter Leonie zur Welt kommt, sein einziges Kind.
„das beste Deutschland“
In den ersten Jahren der Weimarer Republik versuchte er, den Erfolg des „Untertan“ fortzusetzen. Dem negativen Bildungsroman des imperialistischen Bourgeois fügte er die Darstellungen des Proletariats („Die Armen“, 1917) sowie der Großindustrie, der leitenden Bürokratie und der Diplomatie („Der Kopf“, 1925) an; er begriff diese drei Werke als „die Romane der deutschen Gesellschaft im Zeitalter Wilhelms II.“ und fasste sie unter dem Titel „Das Kaiserreich“ zusammen. Geschult an den Franzosen, besonders an Zola, sah er sich selbst als einen linksengagierten Schriftsteller und wurde auch von den Zeitgenossen so eingeordnet. Die literarische Wirkung der Fortsetzungen blieb allerdings gering.
Bedeutsamer als sein belletristisches war sein publizistisches und essayistisches Werk der 20er Jahre. In ihm setzte er sich für die deutsch-französische Verständigung sowie für eine paneuropäische Bewegung ein. Nach der Trennung von Maria, auf die 1930 die Scheidung folgen sollte, zog Mann 1928 wieder nach Berlin, wo er ein Jahr später seine zweite Ehefrau Nelly Kröger kennenlernte und danach den Welterfolg der UFA-Verfilmung von „Professor Unrat“ als „Der blaue Engel“ mit Marlene Dietrich und Emil Jannings miterlebt. 1932 brachte ihn der Publizist Kurt Hiller als möglichen Reichspräsidenten ins Spiel.
Nach der Machtergreifung der Nazis – er stand auf der ersten Ausbürgerungsliste, als einem der ersten Prominenten wurde ihm die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt – floh er im Februar 1933 nach Nizza, wo er bis 1940 lebte und durch sein umfängliches publizistisches Engagement zu einem intellektuellen Wortführer der antinazistischen Emigration wurde. Bereits 1933/34 veröffentlichte er in Paris die beiden politischen Streitschriften „Der Haß“ und „Der Sinn dieser Emigration“. „Die Emigration … ist die Stimme ihres stumm gewordenen Volkes, sie sollte es sein vor aller Welt. […] Die Emigration wird darauf bestehen, dass mit ihr die größten Deutschen waren und sind, und das heißt zugleich: das beste Deutschland“, heiß es darin. Zudem schrieb er zahllose Beiträge für Exil-Zeitschriften wie Die Neue Weltbühne.
In der Emigration schrieb Mann aber auch die großangelegten Romane „Die Jugend des Königs Henri Quatre“ (1935) und „Die Vollendung des Königs Henri Quatre“ (1938). Er stellte mit diesem Volkskönig des Toleranzedikts von Nantes einen vorbildlichen humanistischen Politiker dar, der die von ihm selbst propagierte Synthese von „Macht“ und „Geist“ praktizierte. Dieser historische Roman sollte gemäß seinem pragmatischen Geschichtsdenken ein „wahres Gleichnis“ für die Gegenwart sein und wurde als solches von Kollegen und Kritikern wie Arnold Zweig, Lion Feuchtwanger oder Bertolt Brecht erkannt und gerühmt. 1936 wurde ihm die tschechische Staatsbürgerschaft gewährt, 1939 feiert er Hochzeit mit Nelly.
1940, nach der Niederlage Frankreichs, musste der fast Siebzigjährige noch unter abenteuerlichen Umständen über die Pyrenäen und Lissabon nach Amerika fliehen, gemeinsam mit seiner Frau Nelly, seinem Neffen Golo sowie Franz Werfel und Alma Mahler-Werfel – von einer „Actionszene der Weltliteratur“ schreibt Krause. Dort lebte er in Hollywood, dann in einem anderen Stadtteil von Los Angeles und zuletzt in Santa Monica in äußerst eingeschränkten Verhältnissen – er kam in den USA nie wirklich an geschweige wurde dort heimisch. Hier entstand – in Dialogformen und Struktur teilweise angeregt durch seinen Broterwerb als Scriptwriter für die Filmgesellschaft Warner Brothers – das bisher weitgehend unbeachtet und unverstanden gebliebene Alterswerk, darunter die Antinazi-Satire „Lidice“ (1943), mit der er auf die „Ausmerzung“ des böhmischen Dorfes durch die SS am 9.6.1942 reagierte.
„Gespür für Atmosphäre“
Sein letztes Opus, „Ein Zeitalter wird besichtigt“, beschwöre wie kein anderes Memoirenwerk der deutschen Literatur das herauf, was Heinrich „Lebensgefühl“ nennt, so Krause: „Das Lebensgefühl der Deutschen unter der späten Monarchie und der ersten Republik hat jedenfalls niemand so anschaulich wie er gespiegelt, vielleicht weil auch niemand sonst ein solches Gespür für Atmosphäre besaß.“ Nach dem Freitod Nellys zieht er sich mehr und mehr in die Einsamkeit zurück. Auch die Versuche der Kulturpolitiker der späteren DDR, ihn als „intellektuelle Galionsfigur“ zur Umsiedelung zu bewegen, trugen keine Früchte. 1947 wurde Heinrich Mann die Ehrendoktorwürde der Philosophischen Fakultät der Humboldt-Universität verliehen, 1949 der Nationalpreis 1. Klasse für Kunst und Literatur der DDR. Er wurde instrumentalisiert und ließ sich instrumentalisieren.
Warum er, trotz seiner erklärten Sympathie für Stalin und seiner Annahme der Wahl zum Präsidenten der DDR-Akademie der Künste doch mit der Abreise zauderte, sich vor den Karren der DDR-Propaganda spannen zu lassen, war lange Forschungsgegenstand. Heute erscheint plausibel, dass es neben Alter, Hinfälligkeit und der Angst vor Veränderung auch ein gravierendes politisches Problem für Heinrich gab: die Abneigung gegen Walter Ulbricht, den er kannte und dem er nicht traute. Nach seinem Tod am 11. März 1950 infolge einer Gehirnblutung wurde Manns Urne 1961 nach Deutschland überführt und auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin beigesetzt, die Grabstätte gehört heute zu den Ehrengräbern des Landes Berlin. Darüber hinaus wurde nach ihm der Heinrich-Mann-Preisbenannt, der seit 1953 jährlich verliehen wird. Anfangs mit 10.000 DDR-Mark für Prosa datiert, wird er seit der Wiedervereinigung als Preis für Essayistik vergeben, das Preisgeld beträgt 20.000 Euro.
Die Hinneigung zum „Regime von Pankow“, um es mit Adenauer zu sagen, der dabei das „w“ so verächtlich mitsprach, hat ihm in der BRD gewaltig geschadet. Dass man in der Bundesrepublik seine Bücher über Jahrzehnte hinweg nur als DDR-Lizenzausgaben bekommen konnte, marginalisierte ihn. Auch als die gesamte Familie Mann in den Nullerjahren zur deutschen Vorzeigesippe aufgewertet wurde, profitierten davon alle – Thomas und Katja, Klaus und Erika, Golo und Elisabeth – nur Heinrich nicht. Er blieb der schrullige Onkel, selbst noch in dem populären und –zigfach preisgekrönten Fernsehmehrteiler von Heinrich Breloer „Die Manns“ (2001).
Heinrich Manns politische Position ist nicht einfach zu verstehen, lässt sich aber mit dem Begriff der „Freiheit“ auf einen Nenner bringen. Er kämpfte für ein freiheitliches und republikanisches Deutschland, teilweise mit sozialistischer Grundierung. Für diese Ideale trat er bereits vor dem Ersten Weltkrieg ein, am engagiertesten in seinem Zola-Essay. In der Weimarer Republik kämpfte er für ihren Erhalt und nahm sie gegen überzogene Erwartungen in Schutz, zögerte aber auch nicht, bestehende Missstände anzuprangern. Als Hindenburg 1932 erneut als Reichspräsident kandidierte, wählte er ihn in der Hoffnung, dass die Republik so überleben würde. Seine „Republik-Romane“ lesen sich wie ein moralischer Appell, die Würde der Demokratie zu verteidigen.
Im Exil bekämpfte er den Nationalsozialismus und überzog ihn mit Orgien des Hasses und der Verachtung. Er glaubte an den Erfolg einer deutschen Volksfrontbewegung gegen den Faschismus und sah nicht, dass die Kommunisten kein republikanisches freiheitliches Deutschland anstrebten. Als er von Paul Merker gebeten wurde, ein Vorwort zur DDR-Verfassung zu schreiben, lehnte er darin jedwede Form der Parteiendiktatur ab. Er schrieb: „Wer die ganze Wahrheit wünscht, rechnet mit der Verschiedenheit der Meinungen.“