Der große Schweiger
23. April 2021 von Thomas Hartung
Er hat, anders als etwa Clausewitz oder Baudissin, kein systematisches Lehrgebäude seiner militärischen Auffassungen hinterlassen. Aufgrund einer Vielzahl unvorhersehbarer Faktoren hielt er einen Feldzug nur bis zum Beginn der ersten Feindberührung für vorausplanbar. So war Strategie für ihn ein „System von Aushilfen“, die der Lage entsprechend durch gesunden Menschenverstand anzuwenden waren. Die daraus resultierende Handlungsfreiheit für die militärischen Unterführer, die er im Rahmen der „Auftragstaktik“ gewährte, setzte allerdings ein einheitliches operatives Denken voraus, zu dem er während seiner langen Dienstzeit im Generalstab seine Offiziere erzogen hatte: Damit habe er „eine der besten Traditionen militärischen Führungsdenkens in deutschen Streitkräften begründet“, befand sein Biograph Heinrich Walle.
Er erkannte sehr früh die Wichtigkeit konsequenter Nutzung technischer Errungenschaften, wirtschaftlicher und industrieller Ressourcen, und forderte sie so vehement wie kaum einer seiner Zeitgenossen ein. Außer dem Einsatz moderner Waffen wie dem Zündnadelgewehr waren vor allem Eisenbahn und Telegraph die entscheidenden Mittel, mit denen die raschen strategischen Bewegungen der von ihm erstmals geführten Massenheere überhaupt möglich geworden waren. Er gilt als erster Feldherr in Europa, der die Möglichkeiten des neuen Verkehrsmittels Eisenbahn in voller Konsequenz in seine Planungen einbezog, indem er zur Kontrolle jeder einzelnen Strecke den Eisenbahnbeamten Generalstabsoffiziere zuordnete: Ein „Wegbereiter des industrialisierten Volkskrieges“, so Walle. Er habe dessen technisch-wirtschaftliche Voraussetzungen in aller Schärfe erkannt und die dafür notwendigen führungstechnischen Grundlagen geschaffen: Generalfeldmarschall Helmuth Karl Bernhard Graf von Moltke, der am 24. April 1891 in Berlin starb.
Der dritte Sohn des späteren dänischen Generalleutnants Friedrich Philipp Victor von Moltke, der zum mecklenburgischen Uradel zählte, kam am 26. Oktober 1800 in Parchim zur Welt. Da der Vater die von seinem bürgerlichen Schwiegervater erworbenen Besitzungen nicht halten konnte, ließ er seine drei ältesten Söhne eine militärische Laufbahn einschlagen. Seine Kindheit soll Helmuth nicht als glücklich empfunden haben. Nach dem Besuch von Kadettenanstalt und Kadettenakademie in Kopenhagen wurde er 1819 Leutnant. Schon drei Jahre später bewogen ihn die geringen Karriereaussichten in der kleinen dänischen Armee, in preußische Dienste zu treten. Im ersten Anlauf bestand er die Aufnahmeprüfung für die Allgemeine Kriegsschule in Berlin, die er von 1823 bis 1826 besuchte. Schon 1833 wurde der vielseitig Interessierte in den Großen Generalstab berufen.
Nach zwei Jahren erhielt er Urlaub für eine Bildungsreise in den Südosten Europas, wurde von 1836 bis 1839 als Instrukteur der osmanischen Truppen abkommandiert und bereiste in dieser Zeit Konstantinopel, die Schwarzmeerküste, das Taurusgebirge und die Wüste von Mesopotamien. 1837 begleitete er Sultan Mahmud II. auf dessen Reise in die Donaufürstentümer und plante dort eine Verteidigungslinie gegen die Russen. Nach seinen Plänen wurden vier Festungen entlang der Donau erbaut, darunter die Festung Silistra, die nie erobert wurde und noch bis 1956 der örtlichen bulgarischen Militärakademie diente. 1838 nahm er an einem Feldzug gegen die Kurden teil und beteiligte sich am Kampf gegen die ägyptischen Truppen in Syrien. Dabei wohnte er der entscheidenden Niederlage der Osmanen in der Schlacht von Nizip am 24. Juni 1839 bei und veröffentlichte 1841 unter dem Titel „Briefe über Zustände und Begebenheiten in der Türkei“ eine glänzend geschriebene Reise- und Militärchronik, die ihn als scharfen und sensiblen Beobachter auswies und zum Bestseller wurde.
Krieg als Glied der göttlichen Weltordnung
Nach seiner Rückkehr nach Deutschland wurde Moltke als einer der wenigen preußischen Offiziere mit Kriegserfahrung zum Major befördert und heiratete 1842 Mary Burt, eine Stieftochter seiner Schwester Auguste. Durch die Heirat wurde sein Neffe Henry gleichzeitig sein Schwager – er war zeitweise sein Adjutant und gab nach dessen Tod den Briefwechsel zwischen Moltke und seiner Frau heraus. Helmuth selbst wurde Adjutant des Prinzen Karl Heinrich von Preußen und, nach einem Intermezzo als Chef des Generalstabs des IV. Armee-Korps, 1855 Adjutant von Kronprinz Friedrich Wilhelm. Nach Reisen unter anderen nach Schottland, England, Russland (zur Krönung Alexanders II.), Paris und Breslau wurde er 1857 im Range eines Generalmajors mit der „Wahrnehmung der Geschäfte des Chefs des Generalstabs der Armee“ beauftragt und am 18. September 1858 zum Generalstabschef der preußischen Armee ernannt.
Er erhielt das Recht, dem Feldheer im Namen des Königs direkt und ohne Vermittlung des Kriegsministers Befehle zu erteilen, so dass er militärische Operationen unmittelbar selbst leiten konnte. Dieser gestiegene Einfluss kam in der nach der Deutschen Reichsgründung üblichen Bezeichnung Großer Generalstab zum Ausdruck. Helmuth galt als genialer Stratege und war in leitender Verantwortung maßgeblich an der Ausarbeitung der Pläne für den Deutsch-Dänischen Krieg (1864), den Preußisch-Deutschen Krieg von 1866 gegen die Truppen des Deutschen Bundes und den Deutsch-Französischen Krieg (1870/1871) beteiligt. Die entscheidende Schlacht bei Königgrätz gegen Österreich führte Moltke persönlich – auf einem Gelände von etwa zehn Kilometern Breite und fünf Kilometern Tiefe bekämpften sich hier über 400.000 Soldaten. Durch den Sieg wurde Preußen Führungsmacht in Deutschland, und Kanzler Bismarck setzte damit die kleindeutsche Lösung durch. Zuvor bereits mit dem erblichen Titel eines Grafen belohnt, erreichte Moltke mit der Ernennung zum Generalfeldmarschall am 16.6.1871 den Gipfel seiner militärischen Laufbahn.
1867 hatte er in Schlesien das Gut Kreisau als Alterssitz erworben und dort für seine Frau, die ein Jahr später kinderlos gerade 42jährig starb, ein Mausoleum gebaut, das bis heute existiert. Im selben Jahr wurde er Mitglied der Konservativen Partei und saß im Norddeutschen bzw. Deutschen Reichstag. Er galt mit Bismarck und Kriegsminister von Roon als Schmied der Reichseinigung von 1871 – Bismarck aus politischer, Moltke aus militärischer Sicht. Für ihn war Krieg im idealen Sinne ein Glied der göttlichen Weltordnung wie Unwetter, Not oder Krankheit, der ewige Friede in diesem Sinne nur „ein Traum und nicht einmal ein schöner“.
In Weiterentwicklung Clausewitz‘scher Ideen stellte er fest: „Der Krieg hat zum Zweck, die Politik der Regierung mit den Waffen durchzuführen“, und betonte die Eigengesetzlichkeit des Krieges, dem sich während seiner Dauer alles unterzuordnen habe. Dadurch geriet er 1866 und vor allem 1870/71 in Konflikt mit Bismarck, dem sein rein militärisch gefasster Strategiebegriff zu eng erschien. In tiefer Loyalität zu seinem Monarchen, der ihm auf diesem Wege voranging, beugte er sich aber Bismarcks überlegenem politischen Verstand und seinem eisernen Durchsetzungswillen. Die Denkweise Moltkes spielte allerdings eine Rolle beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs, als sein Neffe Helmut Johannes von Moltke an der Spitze der Militärführung stand.
Ab 1872 war Helmuth auch Mitglied des Preußischen Herrenhauses, 1881 wurde er Alterspräsident des Reichstags. Tonaufnahmen Moltkes – angefertigt im Oktober 1889 – sind die wahrscheinlich einzigen bis heute überlieferten Aufnahmen eines im 18. Jahrhundert geborenen Menschen. Wiederholte Gesuche um Verabschiedung aus dem aktiven Dienst aus Altersgründen lehnte Kaiser Wilhelm I. stets ab. Wilhelm II. entband ihn am 10.8.1888 auf eigenen Wunsch unter gleichzeitiger Ernennung zum Präses der Landesverteidigungskommission von seinen Pflichten als Chef des Großen Generalstabes. Noch in seiner letzten Reichstagsrede, die er als fast 90-Jähriger am 14. Mai 1890 wenige Monate nach Bismarcks Entlassung hielt, warnte er eindringlich vor einem neuen Krieg in Europa mit den Worten: „Meine Herren, es kann ein siebenjähriger, es kann ein dreißigjähriger Krieg werden – und wehe dem, der zuerst die Lunte in das Pulverfaß schleudert!“
„Erst wägen, dann wagen“
Gestorben in seiner Berliner Dienstwohnung, wurde er im Mausoleum auf Gut Kreisau beigesetzt. Seine Gebeine gingen am Ende des Zweiten Weltkriegs allerdings verloren – das Gut, inzwischen bewohnt von Helmuth Urgroßneffen James, der 1945 gehenkt wurde, war Zentrum des „Kreisauer Kreises“, der im Gefolge Stauffenbergs in drei großen Tagungen Grundsatzerklärungen für eine Neuordnung Deutschlands nach Weltkriegsende verfasste. Moltkes bevorzugte Maxime war die Vernichtung des Gegners in einer Umfassungsschlacht bei der Vereinigung der getrennt marschierenden Heeresteile. Um diese Entwicklung nicht in Sichtweite des Gegners vorzunehmen und diesen dadurch zu warnen, dirigierte er getrennt aufmarschierende Streitkräfte zur selben Zeit gegen die Flanken und die Hauptfront des Feindes.
Dabei zeichnete er sich durch eiserne Gelassenheit aus, gepaart mit persönlicher Bescheidenheit und Wortkargheit, die zu seinem Spitznamen beitrugen. Als junger Hauptmann hatte Hindenburg mit einem Kameraden gewettet, Moltke werde das Hoch an Kaisers Geburtstag in weniger als elf Worten ausbringen, und gewann, denn Moltke erhob sein Glas nur mit den Worten: „Meine Herren, der Kaiser hurra, hurra, hurra!“. Es gibt sogar einen Fernsehkrimi, der mit dem Schweigen des Preußen spielt: Der 214. „Tatort“. Schimanski wurde darin mit einem Fall konfrontiert, in dem aus dem Hauptverdächtigen während der Ermittlungen kein Wort herauszubringen ist. Die Presse, so sah es das Drehbuch vor, verpasste ihm daraufhin den Spitznamen „Moltke“, den er auch während seiner Haftstrafe behielt, da er weiterhin beharrlich schwieg. „Wenn er dann mal etwas von sich gegeben hat, dann meistens etwas in der Art wie ‚Getrennt marschieren, vereint schlagen‘“, erläutert Jörg Kirchhoff, Pressesprecher der Berliner Universität der Künste, in der Rheinischen Post.
Wie Bismarck war Moltke einer von nur vier Trägern beider Klassen des Pour le Mérite. Die Zahl seiner Auszeichnungen, Ehrenbürgerschaften und Namenspatenschaften etwa für Straßen und Plätze ist kaum überschaubar. Bereits zu seinen Lebzeiten wurden an seinem 80. Geburtstag in vielen Orten des Deutschen Reichs Eichen gepflanzt. Einige davon stehen noch heute, darunter die am Leisniger Platz in Dresden. Guinea gab 2012 eine Briefmarke heraus, die Moltke und eine preußische G 12 zeigen. Die Bundeswehr pflegt seine „Auftragstaktik“ als eine Stärke in der Führungsstrategie. Laut Walle gilt er „bis heute als Inkarnation des an sittliche Maßstäbe gebundenen genialen Feldherren und vielseitig gebildeten Soldaten, dessen operative Prinzipien und Führungsgrundsätze zu den besten Traditionen deutschen Soldatentums zählen.“