„in Katastrophen zu leben“
2. April 2021 von Thomas Hartung
Er gilt als einer der meistverfilmten Autoren des 20. Jahrhunderts: Im Zeitraum 1934 bis 2010 waren 66 Filme nach seinen Romanen, Stücken und Erzählungen entstanden. Die Liste der Hauptdarsteller liest sich wie ein Who is who der Filmgeschichte: Laurence Olivier, Alec Guinness, Anthony Hopkins, Ralph Fiennes oder Michael Caine. Das trifft auch auf die Liste der Regisseure zu: Fritz Lang, John Ford, Ken Annakin, Otto Preminger oder George Cukor. 1950 war er für seine Arbeit an „Kleines Herz in Not“, eine Verfilmung seines eigenen Stoffes, für den Oscar in der Kategorie Bestes adaptiertes Drehbuch nominiert.
Dabei wäre er fast nicht zum Schriftsteller geworden: Als Jugendlicher unternahm er – unter anderem durch Russisches Roulette – mehrere Selbstmordversuche, weil er in einem Loyalitätskonflikt zwischen seinen Mitschülern und seinem Vater stand – der war sein Schulleiter. Prompt wurde er im Alter von 16 Jahren nach London zu einer halbjährigen psychoanalytischen Behandlung geschickt. Als 18jähriger war er für kurze Zeit Mitglied der Kommunistischen Partei und während des Zweiten Weltkriegs gar Geheimdienstmitarbeiter. Doch seine publizistische Prägung – über seine Mutter war er Großneffe von Robert Louis Stevenson („Die Schatzinsel“), ein jüngerer Bruder wurde später Generaldirektor der BBC – tat schließlich ihr Übriges, um den Journalisten seine literarische Berufung finden zu lassen: (Henry) Graham Greene. Am 3. April von 30 Jahren starb er.
Geboren am 2. Oktober 1904 in Berkhamsted, Hertfordshire nördlich von London viertes von sechs Kindern eines wohlhabenden Pädagogen, der seine Cousine geheiratet hatte, studierte er nach seiner depressiven Schulzeit, die für manche Biographen seine Rolle als Außenseiter begründete, Geschichte in Oxford und veröffentlichte 1925 einen unbeachteten Gedichtband. Er arbeitete dann vier Jahre lang als Journalist, zunächst beim Nottingham Journal, dann als sub-editor im Redaktionsstab der Times. Nach einer Korrespondenz mit der gleichaltrigen Katholikin Vivien Dayrell-Browning konvertierte der Agnostiker mit 22 Jahren zur Überraschung seiner anglikanischen Umgebung zum Katholizismus, so dass 1927 eine Trauung möglich wurde. Der Ehe entstammen zwei Töchter.
Nach der positiven Resonanz auf seinen ersten Roman „The Man Within“ (1929) fühlte er sich ermutigt, die journalistische Tätigkeit zu beenden und von nun an als Romanschriftsteller zu leben. Die beiden nächsten Versuche waren Fehlschläge, der Durchbruch kam 1932 mit „Orient Express“, der schon 1934 verfilmt wurde. Greene selbst unterteilte seine Werke lange in novels („ernste“ Romane wie „Schlachtfeld des Lebens“ 1934) und entertainments (Unterhaltungsromane wie „Jagd im Nebel“ 1939), gab diese Unterscheidung aber später auf. Er schrieb daneben Drehbücher, Erzählungen, Kinderbücher, ab 1953 auch Dramen sowie Essays für Zeitungen, zum Beispiel Filmkritiken für The Spectator, in denen er Alfred Hitchcock verriss.
„kritischer Katholik“
Beim Magazin Night and Day war er Mitherausgeber. Äußerungen über den US-Kinderstar Shirley Temple in seiner Besprechung des Films Wee Willie Winkie (1937) führten zu einem Verleumdungsprozess, der die Zeitschrift in den Ruin trieb. Greene war unterdessen nach Mexiko gereist und wartete dort das Prozessende ab. In dieser Zeit begann seine Leidenschaft für das Reisen, die sich dann auch in umfangreicher Reiseliteratur spiegeln sollte. Greene war als Schriftsteller außerordentlich produktiv, außerdem war er ein gefürchteter Verfasser von Leserbriefen.
In Mexiko reiften in ihm Ideen für jenen Roman, der oft als sein Meisterwerk bezeichnet wird: „Die Kraft und die Herrlichkeit“ (The Power and the Glory, 1940). Darin beschreibt er als „kritischer Katholik“, der zeitlebens Kritiker der Amtskirche war, den blutigen Kampf eines jungen revolutionären Offiziers in Lateinamerika, vermutlich Mexiko, gegen einen der letzten Arme-Leute-Priester der katholischen Kirche auf dem Land. Weder der eine noch der andere dieser beiden diametralen Figuren wird denunziert: Beide sind in die Ideale ihrer gegensätzlichen Bewegungen und zugleich in ihre Verbiegungen verstrickt, das Recht und nicht weniger das Unrecht sind auf beiden Seiten zu finden. 1953 belegte Giuseppe Kardinal Pizzardo, Sekretär der Kongregation für die Glaubenslehre, den Roman mit einem Bannspruch, der bis heute nicht aufgehoben ist.
Während des Zweiten Weltkrieges arbeitete Greene von 1942 bis 1943 in einer Sondermission des britischen Auslandsgeheimdienstes für das Außenministerium in Westafrika. Aus dieser Zeit stammen seine präzise Kenntnisse der verborgenen Seiten des Diplomatischen Korps, die er in seinen Romanen genussvoll ironisierend darstellte, etwa in „Unser Mann in Havanna“ (1958). Greene wurde von dem ewigen Gefühl der Langeweile getrieben, dem er entkommen wollte, wie er in seiner Autobiographie „Ways of Escape“ erzählt. Das führte ihn zum Alkohol, der in vielen seiner Romane eine Rolle spielt, so beim „Schnaps-Priester“ in „Die Kraft und die Herrlichkeit“. Greene reiste in die Krisengebiete seiner Zeit, er stürzte sich in viele Affären und war auch ein häufiger Gast in Bordellen. Das Ehepaar Greene trennte sich 1947 wegen der zahlreichen Affären, blieb aber bis zu seinem Tod verheiratet.
Besonders in seinen frühen Romanen bis „Ein ausgebrannter Fall“ (1960) herrscht eine schäbige, triste Atmosphäre, in der die Menschen Erlösung suchen und für die sich im englischen Sprachgebrauch der Begriff „Greeneland“ etablierte. In seinen reifen Jahren wurde Greene zu einem scharfen Kritiker des Kolonialismus und seiner Auswüchse, aber auch der US-Außenpolitik, und unterstützte die Politik von Fidel Castro. In „Der stille Amerikaner“ (1955) kritisierte er implizit die US-Außenpolitik in Indochina. Olaf Ihlau und Jürgen Kremb erkennen im Spiegel eine „Parabel auf die Verstrickung von fehlgeleitetem Idealismus mit Terrorismus, auf die Konfrontation zwischen amerikanischem Sendungsbewusstsein und europäischer Melancholie“. Der Roman galt in den USA weithin als antiamerikanisch. Der Guardian hat 2002 aus US-Regierungsdokumenten erschlossen, dass das Buch, zusammen mit anderen kritischen Äußerungen Greenes, Anlass dafür war, dass er bis zu seinem Tod vom US-Geheimdienst überwacht wurde. Als er in dem Roman „Die Stunde der Komödianten“ (1966) das Terrorregime in Haiti darstellte, wurde er von Staatschef François Duvalier mit Verleumdungen verfolgt.
„nicht moralisch genug“
Zwar war Greene in der Öffentlichkeit über vierzig Jahre lang präsent, sein Privatleben hielt er jedoch möglichst abgeschirmt. Bis heute wird kolportiert, dass er seine Arbeit für den Geheimdienst nach dem Zweiten Weltkrieg nicht wirklich beendet habe – zumal er dem Doppelagenten Kim Philby unterstellt war. Im „Orientexpress“ heißt es: „Ein Romanschriftsteller ist so etwas wie ein Spion.“ Greens großer Freundeskreis umfasste Autorenkollegen wie Evelyn Waugh, Politiker wie Panamas Präsidenten Omar Torrijos oder Filmemacher wie François Truffaut, in dessen „Die amerikanische Nacht“ (1973) Greene eine stumme Rolle spielte. Seinen letzten Lebensabschnitt verbrachte er in Vevey am Genfersee, wo er sich mit Charlie Chaplin anfreundete und bis zu dessen Tod 1977 regelmäßigen Umgang pflegte. Greene selbst starb an Leukämie, seine geschiedene Frau überlebte ihn um 12 Jahre. Sein Grab befindet sich auf dem Friedhof von Corseaux im Kanton Waadt.
Geheimnisse und zwielichtige Figuren bevölkern Graham Greenes zum Teil außerordentlich erfolgreiche Romane. Die nuanciert wiedergegebene Psychologie der Figuren, die straffe Handlungsführung, die politischen Hintergründe und die kritischen Untertöne zu diesen heben seine Bücher von der Trivialliteratur ab. Ihm ging es immer um das gewöhnliche Böse in den Menschen, das er dennoch, einem Entertainer gleich, mit teilweise schwarzem Humor und ausgeprägtem Hang zu Täuschungsscherzen, zur Verstellung, zum „Als ob“ ergründete: „Der Mensch ist ein Geschöpf, dem es bestimmt ist, in Katastrophen zu leben.“ Er thematisiert immer wieder Schuld, (Un-)Glaube und Verrat im äußeren Gewand von Abenteuergeschichte, „spy story“ und Krimi: „Die Unschuld ist eine Form des Wahnsinns.“
Der langjährige Feuilleton-Chef der Zeit, Rudolf Walter Leonhardt, der Greene persönlich kannte, sah in dem britischen Autor vor allem einen Individualisten, der für die Literaturwissenschaft und erst recht für die Jury des Literaturnobelpreises zu schwer einzuordnen war: „Er hat zwar Millionen von Lesern und Bewunderern in aller Welt, aber er hat keine Lobby einflussreicher Freunde“. So mutmaßte er, dass er vielleicht „nicht moralisch genug (zuviel Whisky und zuviel Sex)“ gewesen sein könnte; oder „den Kommunisten zu liberal, den Liberalen zu sehr ‚Sympathisant‘, den Katholiken zu ketzerisch, den Atheisten zu katholisch, den intellektuellen Kritikern zu unterhaltend, den Farbigen zu sehr weißer Mann, den Weißen zu sehr Chamäleon.“ Wie auch immer: Greene gilt als der Autor mit den meisten Nominierungen für den Literaturnobelpreis. Bekommen hat er ihn nie.