„Sein Erbe ist schwierig“
15. April 2021 von Thomas Hartung
Er sei „eine barocke, seinen Begabungen in alle Richtungen nachjagende Jahrhundertfigur“, befand Peter Kümmel in der Zeit – von der Queen zum Ritter geschlagener Schauspieler und zweifacher Oscar-Gewinner, Regisseur, Maler und Bühnenbildner, Erzähler und Dramatiker, Universitätsrektor, Komiker und Conférencier, Geräusche- und Stimmenimitator, Wohltäter und Diplomat. „In meinem englischen Pass steht unter Beruf Autor. Für alles ist kein Platz, das versteh‘ ich auch“, sagte er einmal. Und er war Kosmopolit: „Ich bin ethnisch sehr schmutzig und sehr stolz darauf.“
Tausendsassa nannten ihn viele, oder Universalgenie. Mit seinen Talenten hätte er ein ganzes Show-Ensemble ersetzen können: „imstande, ganze Sinfonieorchester zu dirigieren, die allein aus ihm selbst bestanden“, befand Kümmel. Aber er betrat die Bühne nie aufrecht und stolz, sondern eher ein bisschen gebückt und bescheiden. Mehr als einmal erklärte er, schon als Baby übergewichtig, er sei aus Notwehr zum Komiker und Entertainer geworden: „Ich begann, über mich selbst zu lachen, um den Anderen zuvorzukommen.“ Am 16. April vor 100 Jahren wurde er als Peter Alexander Baron von Ustinov geboren: Sir Peter Ustinov.
„Ich wurde in St. Petersburg gezeugt, in London geboren und in Schwäbisch Gmünd evangelisch getauft. Ich finde, das ist das Wichtigste“, sagte er öfters. Er kommt als kleiner Baby-Buddha auf die Welt, mit elf Pfund Gewicht. „Meine Mutter wusste nie, wo bei mir vorn und hinten ist.“ Sein katholischer Großvater lebte als russischer Emigrant in Württemberg, sein Vater, ein Diplomat und Journalist, der während des Ersten Weltkrieges als Flieger in der deutschen Armee diente, seit 1918 in England. Ustinov wuchs in London auf, bleibt sein Leben lang offiziell britischer Staatsbürger und genoss eine mehrsprachige Erziehung – acht Sprachen wird er am Ende sprechen und auf Französisch und Deutsch gar sich selbst synchronisieren. In Kontakt mit dem Theater kam Ustinov über seine französische Mutter, eine Bühnenbildnerin und Kostümzeichnerin, die russische, französische, italienische und äthiopische Vorfahren hatte.
Nach eigener Aussage war seine erste Rolle die eines Schweins bei einer kleinen Aufführung in seinem Kindergarten. Er selbst betrachtete sich als eher mittelmäßigen Schüler mit Problemen in Mathematik. Seit 1934 besuchte er die Eliteschule Westminster, die er jedoch verabscheute und nach knapp drei Jahren verließ. Zu seinen dortigen Schulkameraden gehörte Rudolf von Ribbentrop, der älteste Sohn des späteren NS-Außenministers. Ustinov absolvierte eine Schauspielausbildung in London und trat mit 17 Jahren in seiner ersten professionellen Rolle als „Der Waldschrat“ auf. Nach mehreren Theaterengagements erhielt Ustinov 1940 seine erste kleine Filmrolle in „Hullo, Fame!“. Im selben Jahr heiratete er die Schauspielerin Isolde Denham und ließ sich 1950 wieder scheiden. Der Ehe entstammt Tochter Tamara, auch Schauspielerin.
Zwischen Oscar und Oper
Seine Leidenschaft und Begeisterung für Schauspielerei und Theater ließen ihn bald eigene Werke schreiben: 1942 wurde sein erstes Theaterstück „House of Regrets“ uraufgeführt. Nach seiner ersten größeren Filmrolle 1942 absolvierte Ustinov seinen Wehrdienst während des Zweiten Weltkriegs in der British Army. Sein Vorgesetzter war der Schauspieler David Niven. Er trat der Schauspieler-Einheit bei und hatte dort kleinere Rollen in Propagandafilmen, zu einer Produktion schrieb er 1943 auch erstmals das Drehbuch. Nach seiner Entlassung aus der Armee begann Ustinov seine künstlerische Vielseitigkeit zu entfalten: als Regisseur, Produzent und Drehbuchautor, aber auch als Erzähler und Kritiker.
Nach den Probeaufnahmen für Mervyn LeRoys Verfilmung des Romans „Quo Vadis“ von Henryk Sienkiewicz zögerte Produzente Sam Zimbalist ein ganzes Jahr lang mit der Entscheidung, ihn als Nero zu besetzen, da er ihn für zu jung hielt. Als Ustinov telegrafierte, dass er für die Rolle bald zu alt sei, da Nero selbst bereits mit 31 Jahren gestorben war, wurde er 1951 engagiert. Mit der Darstellung des selbstherrlichen, geisteskranken und größenwahnsinnigen Kaisers gelang Ustinov der internationale Durchbruch, erhielt einen Golden Globe und die erste von mehreren Oscar-Nominierungen. Drei Jahre später schloss er die Ehe mit der kanadischen Schauspielerin Suzanne Cloutier, aus der drei Kinder hervorgingen, darunter Sohn Igor, ein Bildhauer, der als Kuratoriums-Mitglied der Sir-Peter-Ustinov-Stiftung inzwischen das Vermächtnis seines Vaters wahrt. Auch diese Ehe hielt nicht lange.
Inzwischen entfaltete Ustinov eine schier rastlose Tätigkeit. Er verfasste er Theaterstücke, in denen er auch als Darsteller und Regisseur mitwirkte, darunter „Romanoff und Julia“ am Broadway, das den Ost-West-Konflikt parodierte. Daneben profilierte er sich in Filmen wie „Beau Brummel – Rebell und Verführer“ oder Stanley Kubricks Epos „Spartacus“. Hier trug ihm seine Darstellung des Gladiatorenmeisters Batiatus 1961 einen Oscar als bester Nebendarsteller ein. Im selben Jahr verfilmte Ustinov als Regisseur Herman Melvilles Kurzroman „Billy Budd“. 1962 inszenierte er erstmals mit dem Einakter „Die Spanische Stunde“ in London erstmals eine Oper. Bis Ende der 1990er Jahre sollten weitere Operninszenierungen in ganz Europa folgen, darunter Mozarts „Zauberflöte“ und „Don Giovanni“. Für seine Darstellung in der Gaunerkomödie „Topkapi“ von Jules Dassin an der Seite von Melina Mercouri und Maximilian Schell wurde er 1964 wiederum mit einem Oscar ausgezeichnet.
Neben Elizabeth Taylor, Richard Burton und Alec Guinness war Ustinov 1967 in „Die Stunde der Komödianten“ nach dem Roman von Graham Greene zu sehen. Für das Originaldrehbuch der Filmkomödie „Das Millionending“, in der er selbst mitspielte, war er 1968 erneut für einen Oscar nominiert. Viele von Ustinovs Theaterstücken bildeten die Grundlage für Fernsehproduktionen. Neben seiner literarischen Betätigung trat er in Fernsehspielen und Shows auf und erhielt dreimal einen Emmy als Hauptdarsteller in einem Film. Im Gegensatz zu anderen Hollywoodstars trat er vielfach im Fernsehen auf und war ein gern gesehener Talkshowgast. In solchen Gesprächsrunden schöpfte Ustinov aus seinem großen Schatz an Erzählungen, Witzen und Anekdoten. Er wirkte ab den 1960er Jahren auch als vielgelobter Unterhaltungskünstler, der neben seiner Filmkarriere weltweit im Fernsehen und auf Veranstaltungen in Erscheinung trat.
„Achtung Vorurteile“
Parallel dazu erwarb er das Schweizer Bürgerrecht und begann sich politisch zu engagieren – die Erfahrungen des Krieges hätten ihn tief geprägt und in seinem pazifistischen und humanistischen Denken beeinflusst, sagt er später. 1968 wurde er zum Sonderbotschafter des UN-Hilfswerkes UNICEF ernannt; im selben Jahr trat er auch – ohne einen anerkannten Schul- oder Studienabschluss – sein erstes akademisches Amt als Rektor der schottischen Universität Dundee an, wo er ein Jahr später außerdem zum Ehrendoktor der Rechte ernannt wurde. Als UNICEF-Botschafter bereiste Ustinov seitdem kontinuierlich den ganzen Erdball, er wollte als „Brückenbauer“ zu einer besseren, demokratischen Welt beitragen. Schon früh den Weltföderalisten beigetreten, fungierte er von 1990 bis zu seinem Tod als deren Vorsitzender. Ziel des World Federalist Movement war zudem eine verstärkte Demokratisierung der Vereinten Nationen und die umfassende Neuordnung internationaler Beziehungen.
1971 heiratete er die Journalistin und Schriftstellerin Hélène du Lau d’Allemans, mit der er bis zuletzt in einem Haus mitten in Weinhängen in Bursins am Genfer See lebte: „Wenn man sein Leben auf der Bühne verbringt, muss man sich privat in die Kulissen zurückziehen können“. Ab Mitte der 1970er Jahre konzentrierte er sich wieder auf seine Arbeit als Filmschauspieler und verkörperte ab 1978 in drei Film- und drei Fernsehproduktionen den belgischen Meisterdetektiv „Hercule Poirot“ nach der Vorlage von Agatha Christie, darunter „Tod auf dem Nil“, der 1979 mit einem Oscar für die besten Kostüme ausgezeichnet wurde, „Das Böse unter der Sonne“ oder „Rendezvous mit einer Leiche“. Die Rolle sei ihm auf den Leib geschrieben, befand Bernhard Baumgartner in der Wiener Zeitung. Sein Gesicht ist „in der perfekten Form eines Eies“, seinen „makellosen Schnurrbart“ schützt er nachts mit einer eigenen Stoff-Konstruktion vor dem Verrücken; dazu seine makellosen Anzüge, seine Detailverliebtheit: Schon ein Staubkorn „fügt ihm mehr emotionalen Schaden zu als eine Kanonenkugel“.
Als er 1984 im Rahmen seiner dreiteiligen BBC-Reihe „Ustinov’s People“ die indische Premierministerin Indira Gandhi interviewen wollte, erlebte er live, wie sie auf ihrem Weg zum Gespräch mit ihm erschossen wurde. Der Satz „Die Wächter stehen nicht mehr in den Winkeln, aber die Vögel sind noch in den Bäumen“ wurde legendär. Er spielte Theater, auch in Deutschland, und ließ 1989 den „Mirabeau“ („Die Französische Revolution“) sowie den „Detektiv Fix“ („In 80 Tagen um die Welt“) ikonisch werden. 1990 geadelt, wurde Peter Ustinov zwei Jahre später Kanzler der nordenglischen Universität Durham, war aber weiterhin als Schriftsteller und Schauspieler tätig, darunter in „Alice im Wunderland“, und präsentierte im Fernsehen Dokumentationen und Veranstaltungen, zuletzt 2003 das Schleswig-Holstein Musik Festival.
Neben seinen vielen filmischen Auszeichnungen, darunter auch einem Berliner „Silbernen Bären“, bekam er seit den 1980er Jahren auf der ganzen Welt Auszeichnungen für sein Lebenswerk, so 1998 das Bundesverdienstkreuz. In seinen Büchern wie „Monsieur René“ (1998) und Erzählungen verarbeitete er nicht nur Zeitsatire, sondern griff auch grundsätzliche Themen wie Kommunikationsschwierigkeiten auf. Da nach seiner Meinung letztere aus Vorurteilen resultierten, gründete er 2003 nach seiner internationalen Peter Ustinov Stiftung, die Schulen bspw. in Afghanistan baut, gemeinsam mit der Stadt Wien das Sir-Peter-Ustinov-Institut, das sich mit der Vorurteilsforschung auseinandersetzt. Seine eigenen Erkenntnisse verarbeitete er im Band „Achtung! Vorurteile“, dem ersten Buch, das er selbst auf Deutsch verfasst hatte.
Rarer Allrounder
2003 stand er letztmals vor der Kamera, darunter als Friedrich der Weise in „Luther“. An Diabetes und Ischialgie erkrankt, starb Sir Peter Ustinov am 28. März 2004 in einer Genfer Privatklinik an Herzversagen. Selbst kurz vor seinem Tod hatte er noch eine Pointe parat: „Mein Pass ist noch gültig bis 2008. Für mich ist es eine Frage der Ehre, nicht vorher abzulaufen.“ Er verfasste nach eigenen Angaben über 20 Theaterstücke und neun Filmdrehbücher, führte bei acht Filmen Regie, spielte in über 80 Film- und Fernsehproduktionen und vielen Bühnenstücken mit, legte Foto- und Karikatursammlungen vor und bereiste als begnadeter Komiker mit Soloprogrammen die Welt. Seine One-Man-Shows und pfeilspitzen Pointen blieben legendär, auch als er längst im Rollstuhl saß.
Die Nachrufe auf Ustinov überboten sich in ihren Würdigungen. Die FAZ erkannte einen „der raren Allrounder mit europäischer Basis und Hollywood-Überbau: an Leibes- und Pointen- und Witzumfang stets zunehmend…“ Er konnte mitten im Satz „Sprache und Heimatland zurücklassen und als ein ganz anderer wieder auftauchen: als Dünkelbrite, aufbrausender Russe oder deutscher Sturkopf“, meinte Kümmel und behauptete, dass er bei seinem Schauspiel in anderen Figuren nicht verschwand, sondern sie eher spaßhaft wie ein guter Bär „fraß“ und ihre Eigenheiten annahm, „die Bewegungen des Beutetiers bewahrend, das er verschlungen hatte. Er fraß sich voll mit fremdem Leben.“
Zu seinen wenigen Kritikern gehörte Stephen Pollard, der im Telegraph Ustinows angebliche Neigung belegen wollte, „Tyrannen zu entschuldigen und Tyrannei zu verteidigen“: „Stalin: ok, Unternehmen: kriminell; al-Qaida und die USA: moralisch gleich. Ermordung chinesischer Dissidenten: gut; Beseitigung von Tyrannen: schlecht. Das war die Weltanschauung des Sir Peter Ustinov, ‚Menschenfreund‘.“ Igor Ustinov schimpfte im Kurier: „Sein Erbe ist schwierig. Er hat viele Firmen gegründet, die von Anwälten kontrolliert wurden. Als er starb, sind die verschwunden. Das Problem mit seinem Erbe liegt nicht, wie kolportiert wurde, an uns Kindern untereinander, sondern an den Firmen, die mein Vater auf Anraten von Steuerberatern ins Leben rief“. Eine Klärung steht bis heute aus.