„ihr werdet es nie verstehen“
28. April 2021 von Thomas Hartung
Die Verteidigung einer Doktorarbeit an der Universität in Cambridge: „Das ist das Albernste, was mir je in meinem Leben vorgekommen ist“, sagt der Doktorand, noch bevor ihm die Professoren Bertrand Russell, späterer Literaturnobelpreisträger, und George Edward Moore ihre ersten Fragen stellen können. „Er hatte mich überzeugt, dass die Probleme der Logik zu schwer für mich waren“, schreibt Russel Jahre danach. Die Diskussion bleibt kurz und der Prüfling stur, viel hat er nicht zu sagen. Zum Abschluss klopft er den beiden Prüfern auf die Schulter und sagt: „Ich weiß, ihr werdet es nie verstehen.“ Damit ist er Doktor der Philosophie.
Seine Philosophie in Kürze zu erklären ist kaum möglich. Seine Werke sind nicht als Lehre zu verstehen, sondern zeigen vielmehr eine Herangehensweise. Er formulierte keine zusammenhängenden Texte wie die meisten Philosophen, sondern schrieb einzelne Sätze bzw. Absätze, bestehend aus wenigen zusammenhängenden Sätzen. Man kann sagen, dass man ihn beim Denken beobachtet, wenn man seine Werke liest. Er entwickelte seine Philosophie während des Schreibens, wodurch es möglich ist, seinen Gedankengängen zu folgen, auch denen, die letztendlich ins Leere laufen. Für ihn ist nur ein „seltsamer Zufall, dass alle die Menschen, deren Schädel man geöffnet hat, ein Gehirn hatten.“
Nach seinem Ziel in der Philosophie gefragt, antwortete er „Der Fliege den Ausweg aus dem Fliegenglas zeigen.“ Die Fliege sei in ihrer Falle gefangen in ihrer Art, den Ausweg zu suchen. Sie strebt dabei der Faszination des Lichts entgegen und übersieht, dass es die Option gäbe, die Fliegenfalle wieder so zu verlassen, wie sie hineingeraten ist. Die Aufgabe der Philosophie könnte es nun sein, das Glas abzudecken, sodass die Faszination weg fällt und die Fliege den Weg erkennt. Mit der Dissertation namens „Logisch-philosophische Abhandlung“ (Tractatus logico-philosophicus) begründet er den Logischen Positivismus und schließt mit dem Satz: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen“. Damit beendet er mit einem Handstreich ein paar Jahrtausende Philosophiegeschichte: Ludwig Wittgenstein, der am 29. April 1951 starb.
„Alle Philosophie ist Sprachkritik“
Als Ludwig Josef Johann Wittgenstein wurde er am 26. April 1889 in Wien als Sohn einer reichen Industriellen-Familie geboren. Der Vater Karl und die Mutter Leopoldine stammten aus früh assimilierten jüdischen Familien. Karl begründete das erste österreichische Eisen-Kartell und erwarb sich als Stahlmagnat unvorstellbaren Reichtum. Er zog sich schon mit 52 Jahren aus dem Stahlgeschäft zurück und investierte in Immobilien, Aktien und Anleihen. Durch geschickte Anlagepolitik vergrößerte sich das Familienvermögen auch noch nach seinem Tod während des Ersten Weltkrieges, weshalb alle Wittgensteinkinder als großzügige Mäzene auftreten konnten; Ludwig etwa half Georg Trakl. Der einflussreiche Sozialphilosoph Friedrich August von Hayek war sein Großcousin. Der Anspruch in der Familie mit insgesamt acht Kindern war immens hoch: „Es galt immer, den bequemen Weg zu vermeiden und den schwierigsten zu wählen“, erkennt Barbara Giese im DLF.
Dieser Zwang, sich mit etwas zu beschäftigen, was er eigentlich gar nicht wollte, passt gut in das Bild eines Menschen mit schweren Depressionen. In der Tat galt Wittgenstein stets als depressiv. Russel sagte einst über ihn: „Seine Verfassung ist die eines Künstlers, intuitiv und stimmungshaft. Er sagt von sich, dass er jeden Morgen voller Hoffnung beginne, aber jeder Abend in Verzweiflung ende.“ Die Veranlagung zu Depressionen scheint bei Wittgenstein in der Familie zu liegen, denn immerhin begingen seine drei Brüder Hans, Kurt und Rudolf Selbstmord. Ludwig studierte von 1906 bis 1908 Ingenieurwissenschaft in Berlin. Nach dem Abschlussdiplom als Ingenieur 1908 ging Wittgenstein nach Manchester, wo er an der Universitätsabteilung für Ingenieurwissenschaften versuchte, einen Flugmotor zu bauen. Diesen Plan gab er jedoch bald auf. Er konstruiert später eine neue Antriebstechnik für Flugzeuge, bei der die Brennkammern an den Blattspitzen des Rotors angeordnet sind. Mit dem „Wittgensteinschen Antrieb“, für der er am 17. August 1911 ein Patent erhielt, benötigt man kein Getriebe und keinen Heckrotor als Drehmomentausgleich.
In Manchester wurde er mit Russells Schriften über die Grundlagen der Mathematik bekannt, die ihn so sehr beeindruckten, dass er 1912 sein Ingenieurs-Studium aufgab, um in Cambridge unter Russells Anleitung Mathematik und Logik zu studieren: „Ich fange an, ihn zu mögen; er kennt sich aus in der Literatur, ist sehr musikalisch, angenehm im Umgang, und ich glaube, wirklich intelligent.“ Unter dem Einfluss auch von Friedrich Ludwig Gottlob Frege begann Wittgenstein eine umfassende Theorie über die Grundlage der Logik und die Wirkungsarten der Sprache zu entwickeln. Dieses Projekt verfolgte er mit großem Eifer während eines Aufenthalts 1913/14 in Norwegen und während der Kriegsjahre, in denen er sich freiwillig als Artillerist an die Ostfront meldete.
Ergebnis dieser Studien war der Tractatus, mit dem Wittgenstein seine philosophische Aufgabe für beendet hielt. Abgesehen von zwei kleineren philosophischen Aufsätzen und einem Wörterbuch für Volksschulen blieb er das einzige zu Lebzeiten veröffentlichte Werk Wittgensteins. Philosophische Probleme kann nur verstehen oder auflösen, wer begreift, durch welche Fehlanwendung von Sprache sie überhaupt erst erzeugt werden, so Wittgenstein. Ziel philosophischer Analysen ist die Unterscheidung von sinnvollen und unsinnigen Sätzen durch eine Klärung der Funktionsweise von Sprache: „Alle Philosophie ist ‚Sprachkritik‘.“
Unter anderem mit Russells Unterstützung wurde Wittgenstein im November 1911 in die elitäre Geheimgesellschaft Cambridge Apostles gewählt. In David Pinsent fand er dort seinen ersten Geliebten. In Skjolden in Norwegen ließ er auf einem entlegenen Fels ein von ihm selbst entworfenes Holzhaus aufstellen, das er mit Pinsent bewohnte und wo er, mehrmals für einige Monate ab 1913, an einem System der Logik arbeitete – das 1958 abgetragene Haus wurde 2019 wieder am originalen Standort aufgebaut. Dass Wittgenstein homosexuell war, wurde zuerst durch seinen Biographen William Warren Bartley im Jahre 1973 auf der Basis von Aussagen anonymer Freunde Wittgensteins und zweier in Geheimschrift verfasster Tagebücher öffentlich gemacht.
Nach der Lektüre der „Kurzen Darlegung des Evangeliums“ von Leo Tolstoi äußerte er den Wunsch, in Zukunft Kinder das Evangelium zu lehren. Durch die Schrecken des Krieges wurde er vom Logiker zum Mystiker im Sinne der „negativen Theologie“. So reifte in ihm der Plan, Lehrer zu werden. Nach der Entlassung aus italienischer Kriegsgefangenschaft ließ er sich deshalb als Volksschullehrer ausbilden, um 1920 in kleinen österreichischen Dörfern zu unterrichten: Von Trattenbach über Puchberg nach Otterthal führte sein Weg. Bekannt ist, dass er seine Schüler und sich selbst hoffnungslos überforderte und mit seinen Bildungsidealen dramatisch scheiterte. „Die Trattenbacher hatten in Wittgenstein den verrückten Sonderling gesehen, in Cambridge dagegen galt er als faszinierender Exzentriker. Gerecht werden ihm wohl beide Einschätzungen nicht“ befand Andrea Roedig im DLF. „Er mag ein engagierter, vielleicht sogar guter Lehrer gewesen sein. Ein Pädagoge war er nicht“, meinte Libuše Moníková.
„Sprache ist viel zu ungenau“
1926 ließ er sich in Wien nieder und erstellte bis 1928 zusammen mit dem Architekten Paul Engelmann, einem Schüler von Adolf Loos, für seine Schwester Margarethe Stonborough-Wittgenstein ein repräsentatives Stadt-Palais in Wien (Haus Wittgenstein). Das im Stil der Moderne erbaute Palais wurde bald zu einem Mittelpunkt kulturellen Lebens in Wien und zu einem Treffpunkt des Wiener Kreises, einer Gruppe von Philosophen und Wissenschaftstheoretikern, mit denen er in Kontakt stand. Wittgenstein war hauptsächlich für die innenarchitektonische Gestaltung des Hauses zuständig. Daneben war er bildhauerisch tätig.
Auch bei diesen praktischen Tätigkeiten zeigte sich die selbstbezogene Arbeitsweise Wittgensteins. Ziel seiner Arbeit war nicht allgemeiner gesellschaftlicher Nutzen, sondern er strebte intellektuelle und psychische Reinheit und Klarheit an. In den folgenden Jahren nahm Wittgenstein Kontakte mit Moritz Schlick und dem einflussreichen „Wiener Kreis“ auf, wo der „Tractatus“ mit größtem Interesse studiert wurde. 1929 kehrte Wittgenstein nach Cambridge zurück, um dort seine philosophische Arbeit fortzusetzen. Seine Vorlesungen und Notizen aus den Jahren 1930-36 zeigen die Entwicklung neuer Gedanken, die er ab 1936 zu den „Philosophischen Untersuchungen“ zusammenstellte.
1939 erhielt Wittgenstein eine Professur in Cambridge und beschäftigte sich vor allem mit Problemen der Bedeutungsanalyse und wurde dadurch zu einem der Begründer der sprachanalytischen Philosophie. Da die natürliche Sprache eine Reihe von Unzulänglichkeiten besitzt, wie beispielsweise die Mehrdeutigkeit der Wörter, entwickelte er die Idee der Schaffung einer künstlichen, logisch vollkommenen Sprache, die aus Symbolen geschaffen wird, wie sie in der Logik üblich sind. Von der Möglichkeit, eine logisch perfekte Sprache zu schaffen, eine Zeichensprache, die einer logischen Grammatik gehorcht, sagte sich Wittgenstein jedoch später wieder los. Entgegen der Etikette an der englischen Elite-Institution trug er niemals Hut, Krawatte oder Anzug. Mit offenem Hemd, Wollpullover oder Lederjacke hielt er seine Vorlesungen.
Etwa ab 1936 begann Wittgenstein mit den „Philosophischen Untersuchungen“, die sich bis etwa 1948 hinzogen. Dieses zweite große Werk hat er selbst weitgehend fertiggestellt, es erschien jedoch erst posthum 1953. Hierdurch gelangte er schnell zu Weltruhm. Während der Kriegsjahre 1941-44 arbeitete Wittgenstein als Hilfskraft in Krankenhäusern in London und Newcastle. 1943 schloss er sich als Laborassistent einer medizinischen Forschungsgruppe an, die den hämorrhagischen Schock untersuchte, und entwarf Experimente und Laborgeräte. Er entwickelte Apparaturen zur kontinuierlichen Messung von Puls, Blutdruck, Atemfrequenz und Atemvolumen, dabei bediente er sich auch der Erfahrungen, die er während der Entwicklung seines Flugmotors gemacht hatte.
1944 nahm er seine Vorlesungen in Cambridge wieder auf, entwickelte jedoch so großen Widerwillen gegen die Lehrtätigkeit und das akademische Leben, dass er 1947 seinen Abschied einreichte, um fortan in ländlicher Abgeschiedenheit in Irland zu leben und zu arbeiten. Der Schwerpunkt seiner Arbeiten lag auf der „Philosophie der Psychologie“, die Gegenstand des II. Teils der „Philosophischen Untersuchungen“ wurde. Es ist umstritten, ob die Aufnahme dieser Gedanken in die Philosophischen Untersuchungen dem Willen Wittgensteins entspricht. 1949 konnte er sein zweites Hauptwerk dann abschließen. Darin stellte er fest, dass die reale Verwendung der Sprache überhaupt nicht zu den im Tractatus festgehaltenen Folgerungen passte. Die Sprache ist viel zu ungenau, um den Regeln der Logik folgen zu können. Als er darüber nachdachte, erkannte er, dass man die Bedeutung gesprochener Wörter nur verstehen kann, indem man ihre Verwendung im Alltag versteht.
„ein wundervolles Leben gehabt“
Wittgenstein bezeichnete Kommunikation als Sprachspiel, das ein Mensch mit einem anderen Menschen spielt, wenn er mit ihm spricht. Dieses Spiel folgt gewissen Regeln, die man durch Beobachtung ableiten kann. Wer die Regeln nicht kennt, kann an dem Sprachspiel nicht teilnehmen. Wittgenstein zieht in den Philosophischen Untersuchungen einen Vergleich zum Schachspiel. Die Regeln des Schachspiels sind nicht absolut. Wer kein Schach spielen kann, kann durch Beobachtung von zwei Schachspielern auf die Regeln schließen. Ob die Spieler aber die „absoluten“ Schachregeln befolgen oder nach ihren eigenen Regeln spielen, bleibt dem Beobachter verborgen. Haben sich die beobachteten Spieler darauf geeinigt, dass der Spieler, der gerade eine Figur des anderen geschlagen hat, nach dem Spielzug dreimal um den Tisch hüpfen muss, dürfte es für große Belustigung sorgen, wenn der Beobachter später mit jemandem Schach spielt, dem diese Regel nicht geläufig ist.
Wittgenstein unterteilt die Menschheit in unterschiedliche Lebensformen. Er bezeichnet eine Gruppe von Menschen, die bestimmte Sprachspiele spielen, als eigene Lebensformen. Beispiel: Ein obdachloser Hauptschulabbrecher, ein theoretischer Physiker und ein Onlineredakteur sitzen zusammen und sollen ein Gespräch führen. Das Gespräch wird äußerst schleppend verlaufen, da der allgemeine Sprachgebrauch der drei Gesprächsteilnehmer nur in wenigen Punkten übereinstimmt. Alle drei verwenden die Sprache und führen ihr Leben in einer bestimmten Form. Somit kann man jeden der drei Personen als eigene Lebensform bezeichnen. Es gibt aber keine konkreten Abgrenzungskriterien. Der Begriff ist etwas schwammig und es gibt keine Definition, nach der bestimmte Kriterien erfüllt sein müssen, um verschiedene Lebensformen voneinander abgrenzen zu können.
Wittgensteins meist kurze Dialoge in seinem Spätwerk gelten als stilistisch brillant. Als problematisch für das Verständnis wird angesehen, dass sein Zugang traditionslos ist; besonders der späte Wittgenstein hat in der Philosophiegeschichte keine Vorläufer und stiftet eine neue, beispiellose Art zu denken. Viele meinen daher, diese Art zu denken müsse erlernt werden wie eine fremde Sprache. Seine Arbeitsfähigkeit litt unter einer 1950 festgestellten, weit fortgeschrittenen Krebserkrankung. Da er es ablehnte, ins Krankenhaus zu gehen, verlebte er die letzten Wochen im Hause seines Arztes Edward Bevan, der ihn bei sich aufgenommen hatte. Als dessen Frau Wittgenstein am Tag vor seinem Tod mitteilte, seine englischen Freunde würden ihn am nächsten Tag besuchen, soll er gesagt haben: „Sagen Sie ihnen, dass ich ein wundervolles Leben gehabt habe.“
Er hatte vor Jahren im Tratctatus geschrieben: „Der Tod ist kein Ereignis des Lebens. Den Tod erlebt man nicht.“ Die Beisetzung findet ohne Familienmitglieder statt. Sein Bruder Paul, der nur sehr wenig über seine Familie spricht, schreibt zwei Jahre nach Ludwigs Tod: „Ich will übrigens bei dieser Gelegenheit noch feststellen, dass ich mit meinem Bruder seit dem Jahre 1939 außer Kontakt geblieben bin; ein oder zwei Briefe, die er mir anlässlich meines Besuches in England, und weil ihn Fräulein Deneke eingeladen hatte, geschrieben hat, habe ich nicht beantwortet. Ob ich es auch dann nicht getan hätte, wenn mir bekannt gewesen wäre, dass er todkrank ist, weiß ich nicht.“ Sein rund 20.000 Seiten umfassender philosophischer Nachlass wurde 2017 in die Liste des Weltdokumentenerbes eingetragen.