„Man kann auf zwei Stühlen nicht sitzen“
21. Mai 2021 von Thomas Hartung
Wegen solcher Sätze avancierte der meist zurückhaltend, ja fast schüchtern auftretende Kernphysiker zum „Staatsfeind Nr. 1“ des sowjetischen Geheimdienstes KGB: „Ich bin kein Theoretiker auf dem Gebiet der politischen Ökonomie. Ich denke einfach über das Glück, den Frieden und die Gerechtigkeit in der Welt nach und ich fühle, dass der totalitäre Sozialismus nicht effektiv ist, dass das System flexibler sein muss, menschlicher, föderalistischer.“ Dabei hatte zunächst nichts darauf hingedeutet, dass das Genie zu einem der führenden Dissidenten in der Sowjetunion werden würde: Andrei Dmitrijewitsch Sacharow, der am 21.Mai 1921 in Moskau als Sohn eines Physiklehrers und einer Pontosgriechin geboren wurde.
Geprägt von seinem Vater, der auch Lehr- und populärwissenschaftlichen Bücher zur Physik schrieb, schloss er 1938 die Oberschule mit Auszeichnung ab, begann im gleichen Jahr an der Lomonossow-Universität in Moskau Physik zu studieren, meldete sich 1939 freiwillig zur Roten Armee und beendete das Studium in Aschgabat, Turkmenistan, wohin er 1941 während des Zweiten Weltkriegs mit Teilen der Universität verlegt worden war. Von 1942 bis 1945 war er Ingenieur in einer Munitionsfabrik in Uljanowsk an der Wolga und studierte dann weiter am Lebedew-Institut der Sowjetischen Akademie der Wissenschaften, wo er mehrere Erfindungen auf dem Gebiet der Kontroll- und Messtechnik machte und 1947 in Kernphysik promoviert wurde – er arbeitete damals auf dem Gebiet der kosmischen Strahlung und blieb für Jahrzehnte Mitarbeiter der Theoretischen Abteilung.
Im Sommer 1948 wurde Andrei Sacharow Mitglied einer Arbeitsgruppe, die unter der Leitung von Igor Tamm mit der Entwicklung der sowjetischen Wasserstoffbombe beschäftigt war, und zog 1950 von Moskau in die geschlossene Stadt „Arsamas 16“, eine Spezialsiedlung, die Zentrum des sowjetischen Atombombenbaus wurde. Sacharow war dort einer der wissenschaftlichen Leiter des Programms für den Wasserstoffbombenbau, womit er fortan zur wissenschaftlich-technischen Elite der UdSSR gehörte und direkt mit den Partei- und Regierungschefs verkehren konnte. Er befasste sich mit der kontrollierten Kernfusion, in der er den Schlüssel zur Bewältigung ungelöster Menschheitsprobleme sah.
Gemeinsam mit Tamm entwickelte er die Konzeption für eine kontrollierte thermonukleare Reaktion: die sogenannte Tokamak-Anordnung. Von ihm stammen auch die Myonenkatalyse der Kernfusionsreaktion, die er „Kalte Fusion“ nannte, und der Einsatz gepulster Laserstrahlung zur Aufheizung von Fusionsbrennstoff. 1951 lieferte Sacharow Grundideen für den Flusskompressionsgenerator und schlug sogar vor, mit durch Nuklearexplosion betriebenen Generatoren Teilchenbeschleuniger zu bauen. Auch wissenschaftlich machte Sacharow eine rasante Karriere und habilierte sich im Juni 1953 auf dem Gebiet der Physik und Mathematik.
„unmenschliche Sachen“
Am 12. August 1953 wurde die erste sowjetische Wasserstoffbombe gezündet, zu der er die Konfiguration der beiden Sprengsätze und des Sprengstoffs sowie dessen Beschaffenheit (Lithiumdeuterid) beisteuerte. Im Oktober dieses Jahres wurde er jüngstes Vollmitglied der Akademie der Wissenschaften der UdSSR und insgesamt drei Mal mit dem Titel „Held der Sozialistischen Arbeit“ ausgezeichnet. 1953 erhielt er den Stalin- und 1956 den Leninpreis. Die größte je gezündete Wasserstoffbombe, die auf seinen Ideen beruhende Zar-Bombe, wurde ohne die letzte Spaltungsstufe 1961 getestet und hatte 50 bis 60 Megatonnen Sprengkraft. In dieser Zeit heiratete er seine Frau Klawdija und bekam mit ihr zwei Töchter und einen Sohn.
Sacharow sah seine Mitarbeit an der Wasserstoffbombe nicht nur als patriotische Pflicht, sondern auch als Dienst für die Menschheit und als Beitrag zur Verhinderung eines Dritten Weltkrieges. Jahre später schrieb er in seinen Erinnerungen: „Natürlich war ich mir darüber im Klaren, mit welchen schrecklichen, unmenschlichen Sachen wir uns beschäftigten. Doch der Krieg war noch nicht lange vorbei, und er war ebenfalls unmenschlich gewesen! In jenem Krieg war ich kein Soldat, aber nun fühlte ich mich als Soldat des wissenschaftlich-technischen Krieges. […] Mit der Zeit hörten wir von Begriffen wie strategisches Gleichgewicht, gegenseitige thermonukleare Abschreckung usw. oder kamen selbst auf diese. Auch jetzt noch denke ich, dass in diesen Ideen tatsächlich eine – wenn auch nicht vollständig überzeugende – intellektuelle Rechtfertigung für den Bau der Wasserstoffbombe und unserer Beteiligung liegt.“
Doch ab 1955 wurde ihm immer stärker bewusst, dass der Preis, den die Menschheit für die Sicherheit des nuklearen Gleichgewichts bezahlt, die globale Verseuchung durch radioaktive Zerfallsprodukte ist, die nach jeder Atomexplosion in der Atmosphäre oder unter Wasser zurückbleiben. Besonders beunruhigten ihn die biologischen Folgen der Verstrahlung. Sacharows Berechnungen zufolge konnten Atomtests in der Atmosphäre hunderttausende vorzeitige Todesfälle oder schwere Erkrankungen verursachen, von denen nicht nur gegenwärtige, sondern auch zukünftige Generationen bedroht waren. 1961 protestierte Sacharow gegen die Verletzung des Kernwaffenteststoppabkommens durch die UdSSR und ließ sich dabei auf einen Streit direkt mit Staats- und Parteichef Chruschtschow ein, der ihn daraufhin öffentlich rügte.
Im Herbst 1962 protestierte Sacharow gegen Pläne, zwei große Nukleartests in der Atmosphäre durchzuführen, die weder durch technische noch durch politische Erfordernisse gerechtfertigt wären. Er verlangte die Beschränkung auf nur eine Zündung, aber Chruschtschow ignorierte seine Proteste. Am 26. September explodierte über der Nordpolarinsel Nowaja Semlja die zweite, ausgerechnet unter Sacharows Leitung gebaute Atombombe. In seinen Erinnerungen schrieb er dazu: „Dieses furchtbare Verbrechen wurde verübt und ich konnte es nicht verhindern. Mich überwältigte ein Gefühl von Machtlosigkeit, Verbitterung, Scham und Erniedrigung. Ich stürzte mit dem Gesicht auf den Tisch und weinte. Das war sicher die schlimmste Lektion, die ich in meinem Leben erhalten habe: Man kann auf zwei Stühlen nicht sitzen.“
Genfer Atomteststopp-Verhandlungen
So konzentrierte er sich darauf, einen Atomteststopp in der Atmosphäre, im Weltraum und unter Wasser zu konzipieren, und präsentierte ihn der Regierung als Ausweg aus der Sackgasse der Genfer Atomteststopp-Verhandlungen. Dieser Kompromissvorschlag erwies sich als erfolgreich. 1963 unterzeichneten die UdSSR, Großbritannien und die USA den Moskauer Vertrag über das Verbot von Kernwaffenversuchen in der Atmosphäre, im Weltraum und unter Wasser. Später trat die Mehrzahl der Staaten diesem Abkommen bei. Die Öffentlichkeit wusste damals nichts von der Rolle, die Sacharow beim Abkommen gespielt hatte.
Das änderte sich 1967. Zunächst unterschrieb Sacharow einen Appell von 25 Vertretern aus Wissenschaft, Literatur und Kunst an den XIII. Parteitag der KPdSU, in dem vor den Folgen einer möglichen politischen Rehabilitation Stalins gewarnt wurde. Dann schrieb Sacharow aus Anlass der Verhaftung von Alexander Ginsburg einen privaten Brief an den neuen Staats- und Parteichef Breschnew und unterzeichnete gemeinsam mit 167 Persönlichkeiten aus Wissenschaft und Kultur eine Petition an das Präsidium des Obersten Sowjets, die die Verabschiedung eines Gesetzes über Informationsfreiheit forderte. Diese Petition war die erste von Sacharow unterzeichnete öffentliche Erklärung, in der es um die Verteidigung der Menschenrechte ging.
Seit Anfang der 60er Jahre verbrachte Sacharow immer mehr Zeit in Moskau. Der Kreis seiner Bekannten erweiterte sich, Intellektuelle stießen dazu, die mit der entstehenden Dissidentenbewegung verbunden waren. Er wandte sich der Teilchenphysik und Kosmologie zu und steuerte zu letzterer die Erklärung der Baryonenasymmetrie des Weltalls bei. Hierfür stellte er drei Grundbedingungen auf, die Sacharowkriterien, die noch heute die Basis entsprechender Theorien bilden. Außerdem gab er wichtige Denkanstöße zum Thema Quantengravitation und war der erste, der Modelle mit über die Gravitationskraft verbundenen Universen untersuchte. Seine Massenformeln für Mesonen und Baryonen Mitte der siebziger Jahre werden seine letzten wissenschaftlichen Leistungen.
Sacharow verurteilte 1968 die Zerschlagung des reformkommunistischen Prager Frühlings und veröffentlichte im Juli das Memorandum „Gedanken über Fortschritt, friedliche Koexistenz und geistige Freiheit“, in dem er sich für internationale Abrüstung und Kernwaffen-Kontrolle einsetzte. Er betrachtete die „friedliche Koexistenz“ nicht nur als Verzicht auf militärische Konfrontation, sondern auch als Annäherung der zwei rivalisierenden politischen Systeme Sozialismus und Kapitalismus. Tatsächlich trat Sacharow damit als Anhänger der Konvergenztheorie von John Galbraith auf. Aus Sicht der sowjetischen Staatsideologie war das ein unverzeihlicher Verrat, er wurde aus dem sowjetischen Atomprogramm entlassen, woraufhin er anfing, sich der theoretischen Physik und seinen gesellschaftlichen Anliegen zu widmen. Mit der sowjetischen Invasion in Prag im August verliert er endgültig den Glauben an den Sozialismus.
„freien Republiken Europas“
Sein öffentliches Engagement unterbrach Sacharow 1969 wegen des Todes seiner Frau, bis er im Frühjahr 1970 wieder einen „Appell an die Partei- und Staatsführung“ richtete, in dem er zur Demokratisierung des Landes aufrief und ein konkretes Reformprogramm unterbreitete. Dabei zog er es vor, auf sich selbst gestellt zu handeln und keinen Organisationen beizutreten, mit Ausnahme des „Komitees für Menschenrechte in der UdSSR“. Über die Mitglieder und vor allem über ihn ergoss sich eine Lawine von Briefen und Besuchern vor allem aus der Provinz. Sacharow sah keinen Grund, den Menschen Hilfe zu verweigern und sich hinter dem Statut des Komitees zu verbergen – vor allem damals entstand in der Bevölkerung das Bild des großen Mannes, der bereit ist, den Kampf gegen jede Ungerechtigkeit der Staatsmacht aufzunehmen. 1971 protestierte er gegen die Praxis, Regimegegner in psychiatrische Kliniken einzuweisen.
Seit 1972 in zweiter Ehe mit der Kinderärztin Jelena Bonner verheiratet, engagierte er sich für politische Häftlinge und Personen, die aus unterschiedlichen Gründen verfolgt wurden, fuhr zu Gerichtsprozessen, obwohl ihm der Zutritt zu Gerichtssälen verwehrt war, erteilte Interviews und organisierte Pressekonferenzen, so am 30. Oktober 1974, da der er über den Hungerstreik von politischen Häftlingen in mehreren Lagern informierte, nachdem er während des Nixon-Besuchs selbst einen Hungerstreik begann – seit 1991 wird an diesem Datum in Russland der „Tag der Erinnerung an die Opfer der politischen Repressionen“ begangen. Am 10. Dezember 1975 wurde Sacharow für seine Unterstützung Andersdenkender und sein Streben nach einer rechtsstaatlichen und offenen Gesellschaft der Friedensnobelpreis verliehen. Die sowjetische Regierung verbot ihm, zur Verleihung nach Oslo zu reisen. Den Preis nahm seine Frau entgegen. In den Augen des KGB wurde Sacharow damit zum „Staatsfeind“.
Nach Protesten gegen die sowjetische Intervention in Afghanistan wurde Sacharow am 22. Januar 1980 verhaftet und ohne Gerichtsprozess nach Gorki verbannt, wo er unter Aufsicht des KGB leben musste. Dort arbeitete er am Entwurf einer neuen sowjetischen Verfassung und erleidet mehrere Herzinfarkte. Jelena Bonner blieb sein einziger Kontakt zur Außenwelt, bis auch sie 1984 nach Gorki verbannt wurde. Im Dezember 1986 wurde die Verbannung Sacharows und Bonners aufgehoben. Parteichef Michail Gorbatschow bat ihn telefonisch, nach Moskau zurückzukehren und seine politische Tätigkeit fortzusetzen.
1988 wurde er in die Leitung der Sowjetischen Akademie der Wissenschaften berufen und ein Jahr später als Parteiloser in den Kongress der Volksdeputierten gewählt. Dort schloss er sich der interregionalen Arbeitsgruppe der Radikalreformer an und versuchte, die sowjetische Verfassung zu reformieren – er entwarf eine Staatsform, die seiner Meinung nach aus der UdSSR hervorgehen sollte: die „Föderation der freien Republiken Europas und Asiens“. Im Herbst 1989 war er Mitinitiator einer Kampagne für die Aufhebung der sechs Artikel der Verfassung der UdSSR, in denen die führende Rolle der Kommunistischen Partei festgeschrieben war. Anfang Dezember 1989 appellierte er auf den Sitzungen der „Interregionalen Abgeordnetengruppe“ dafür, einen Generalstreik zur Durchsetzung dieser Forderung auszurufen. Im selben Jahr wurde Sacharow Gründungsvorsitzender der russischen Gesellschaft Memorial, die die Geschichte der Gulag-Lager aufarbeitet.
Die radikalen Veränderungen und den Zerfall der Sowjetunion erlebt er jedoch nicht mehr. Er stirbt am 14. Dezember 1989 nach einem weiteren Herzinfarkt. An seiner Beisetzung nahmen mehrere zehntausende Menschen teil. In den USA wurde er in mehrere wissenschaftliche Akademien gewählt. Ihm zu Ehren vergibt das Europäische Parlament jährlich den „Sacharow-Preis für geistige Freiheit“, eine Auszeichnung, die nicht vor Verfolgung und Repressionen schützt. Daneben existieren noch drei weitere Freiheitspreise mit seinem Namen. Die Universität Minsk ist nach ihm benannt, ein Asteroid, eine Brücke im niederländischen Arnheim sowie ein Park in Jerusalem.