„Kurs auf‘s Riff“
9. Mai 2021 von Thomas Hartung
Der Tübinger Literaturwissenschaftler Joachim Knape würdigte ihn euphorisch: „Keiner hat in dieser Zeit eine ähnlich berühmte und in Europa so enthusiastisch aufgenommene literarische Figur wie den Narren im ‚Narrenschiff‘ geschaffen. Kein lebender Zeitgenosse konnte in Deutschland ein dem ‚Narrenschiff‘ vergleichbares deutsches gedrucktes Werk vorweisen, das Dicht-, Bild- und Buchkunst zu einem Ensemble von ähnlichem Rang vereint. Bei den Zeitgenossen blieben der Anspruch und die Neuartigkeit des Werks nicht ohne Wirkung. Literarisch begründete es die europäische Tradition der Narrenliteratur.“ Der so Gefeierte war Sebastian Brant, der am 10. Mai 1521 in Straßburg starb.
Der Sohn eines angesehenen Straßburger Gastwirts und langjährigen Ratsherrn kam 1457 oder 1458 zur Welt. Über seine Kindheit und Jugend ist nichts bekannt, weshalb Biographen sein Leben entsprechend seinen beiden beruflichen Wirkungskreisen und Wohnsitzen in eine Basler (1475–1500) und Straßburger Periode (1500–1521) gliedern. 1475 begann er, an der Universität in Basel zu studieren, darunter klassische Sprachen und Rechtswissenschaft. Knapp zehn Jahre später, 1484 erhielt er ein Lizentiat und lehrt dort selbst als Jurist. Nach Abschluss seines Studiums heiratete er 1485 die Tochter des Zunftmeisters der Basler Messerschmiede Elisabeth Burgis. Das Paar hatte zusammen sieben Kinder, darunter den Sohn Onophrius Brant, der später als Jurist und Gelegenheitsdichter hervortrat und in den Rat der Stadt Straßburg gewählt wurde. 1489 promovierte Sebastian zum Doktor der Rechte und wurde 1492 Dekan der juristischen Fakultät.
Er war nicht nur als Rechtsgutachter, Advokat und Richter tätig, sondern auch maßgeblich beteiligt am Buchmarkt in Basel: als Schriftsteller, Herausgeber und Korrektor. Brant schrieb nicht nur rechtswissenschaftliche Texte, sondern auch religiöse und weltliche Beiträge. Darunter befanden sich Gedichte, Beschreibungen von Naturereignissen und Gelegenheitstexte wie Epigramme, ein Rosenkranz, eine Marienklage und eine Trostrede Jesu sowie Flugblätter, so über einen Meteor oder Missgeburten. Daneben verfasste er mindestens zwei Schauspiele und gilt als einer der produktivsten Autoren lateinischer Andachtslyrik, arbeitete aber auch als Übersetzer lateinischer Lieder und Spruchsammlungen.
„europaweit beliebteste Figur“
„Das Narren Schyff“, zur Fasnacht 1494 in Basel herausgegeben, ist Brants Hauptwerk. Die Moralsatire porträtiert 109 unterschiedliche Narren auf einer Schiffsreise in das fiktive Land Narragonien, das die selbsternannten Seemänner in Eigenregie zu finden hoffen – denn an Bord befinden sich weder Kapitän noch Steuermann oder eine andere Autorität. Ohne nautischen und moralischen Kompass treibt das Narrenschiff orientierungslos durch die See – ob es sein Ziel jemals erreicht, blieb offen. Das Buch sollte zur Verbreitung von Vernunft, Weisheit und guten Sitten nutzen, wie es selbst im Text heißt. Darin wehrt sich Brant gegen „Narrheit, Blindheit, Irrsal und Torheit aller Stände und Geschlechter der Menschen“, denn Unverstand und Verderbtheit kennzeichnen den Zustand der Welt, kennzeichnen ebenso den Zustand der Menschen, deren Leben ohne jeden Halt dahintreibt.
Im „Narrenschiff“ verarbeitete der Autor sowohl eigene Erfahrungen aus seinem reichsstädtischen Leben als auch Motive aus mittelalterlicher und humanistischer Literatur. Es ist geschrieben aus der Sicht des gebildeten Stadtbürgers, der die Gefahren und Laster erkennt – von der Modetorheit über die Geldherrschaft bis zum Untergang von Reich und Religion: Wer sich in das Narrenschiff setzt, der fährt – wenn auch lachend und singend – seinem Verderben entgegen. Im Mittelalter stand der Narr außerhalb der ständischen Ordnung, verkehrte mit Huren, Henkern, Aussätzigen. Sein verdrehter Geist fand oft Verkörperung in einer verkrüppelten oder kleinwüchsigen Gestalt. Schon im Alten Testament verhöhnt er König David: „Es spricht der Narr in seinem Herzen: Es gibt keinen Gott.“ Er ist nicht nur unbelehrbar, sondern auch ungläubig, was ihn näher an den Teufel rückt, ihn beunruhigend erscheinen lässt, ja gefährlich macht.
Der Humanist Brant nutzt in seiner Moralschrift den Vorwurf der sittlichen Defizienz, um durch das Fehlverhalten der Narren eine Antithese zu ethisch integrem Verhalten darzustellen, gibt aber in seiner „Trottelparade“, wie Thomas Morawetz im BR befand, auch positive Ausblicke, die er in der Weisheit erkennt. Dazu verhilft die theologisch motivierte Wissenschaft. Im „Narrenschiff“ wird als Kontrapunkt ein verklärtes Bild gezeichnet von vollständiger Weisheit ohne Eigentumszwang und mit allgemeiner Gütergemeinschaft. Es ist die Utopie des Goldenen Zeitalters nach antiken Vorstellungen, die der zeitgenössischen Narrenherrschaft entgegengesetzt wird. Dieses konträre Darstellungsmuster und die didaktische Funktion von Texten lagen im ästhetischen Lesetrend der Zeit. Daraus sollte eine Selbsterkenntnis resultieren, die Voraussetzung sein sollte für die Überwindung des Narrentums hin zum beschriebenen menschlichen Paradieszustand.
Paradoxerweise prangert Brant die Unwirksamkeit der Besserungswirkung von Büchern an. In einem eigenen Kapitel „Von unnützen Büchern“ beklagt er die Leidenschaft des Sammelns von Büchern, ohne dass die Büchernarren deren Inhalte begreifen. Dabei folgen alle Kapitel einem einfachen Konstruktionsschema, das fast für das ganze Werk durchgehalten wird: Sie beginnen auf der linken Seite mit einem drei- oder vierzeiligen Motto, dem ein Holzschnitt und dann das Spruchgedicht folgt, das 34 meist jambische Verse aufweist und auf eine Doppelseite passt. Zur Bebilderung des Werks engagierte Brant mindestens vier Künstler, darunter auch den jungen Albrecht Dürer, dem gut zwei Drittel der Holzschnitte zugeschrieben werden. 14 Exemplare des Erstdrucks sind erhalten. Bereits im Erscheinungsjahr wird es viermal nachgedruckt und bis zur Lutherbibel das meistverkaufte Buch.
38 deutsche oder niederdeutsche Ausgaben erschienen bis 1730, 23 lateinische Fassungen bis 1572, daneben etliche französische, englische und niederländische Übertragungen bis zum Ende des 17. Jahrhunderts. Faksimile-Editionen, Neudrucke und hochdeutsche Bearbeitungen sowie weitere Übersetzungen ins Italienische, Russische oder Japanische prägen das Bild im 19. und 20. Jahrhundert. Sicher ist, dass Brant die Allegorie des Narren schlagartig europaweit zur beliebtesten Figur des ausgehenden Mittelalters machte: Hieronymus Bosch hat sein „Narrenschiff“ um das Jahr 1500 gemalt; in kurzem Abstand folgten das „Lob der Torheit“ (1509) des Erasmus von Rotterdam, Thomas Murners „Narrenbeschwörung“ (1512), „Till Eulenspiegel“ (1515) und die „Schildbürger“ (1597).
„Klabautermann führt das Narrenschiff“
1496 bekam Sebastian Brant den Professorentitel für römisches und kanonisches Recht. Im selben Jahr erschienen seine „Expositiones“. Der knappe Kommentar zu den wichtigsten Titeln des römischen und kanonischen Rechts war vermutlich als Lehrbuch für Brants Studenten gedacht. Obgleich lateinisch verfasst, entwickelte er sich schnell zum Bestseller, der bis in die Barockzeit hinein immer wieder aufgelegt wurde. 1499 trat Basel der Eidgenossenschaft bei. Dieser Schritt war für Brant als Anhänger der Reichseinheit und des Kaisers Maximilian I. Grund genug, nach Straßburg zurückzugehen als Inhaber des Amts für Rechtsbeistand. 1503 wurde er dort Stadtschreiber. Brant bewährte sich in seinen Aufgaben und erhielt Auszeichnungen, so zum Beispiel den Titel eines kaiserlichen und kurmainzischen Rates.
Er trat nun verstärkt als Förderer literarischer Arbeiten in Erscheinung, veröffentlichte aber kaum noch eigene Arbeiten. Als herausragend gelten seine Ausgaben der Werke Petrarcas sowie die Vergils. Als Zensor war er auch mit der Genehmigung aller Straßburger Drucke befasst. 1520 reiste Brant nach Gent, wo er dem neuen Kaiser Karl V. für die Freie Reichsstadt Straßburg huldigte. Insgesamt ist, ebenso wie aus seiner Jugend, nicht viel über sein spätes Leben bekannt: 31 Briefe sind erhalten sowie Autographe aus Brants Amtstätigkeit. Sein Grab ist heute verschollen. Die Wirkmächtigkeit sowohl seiner Titelallegorie als auch der Narrenfigur ist allerdings ungebrochen. Die walisische Stadt Conwy etwa besitzt – nach über 700 Jahren – wieder einen offiziellen Stadt-Narren.
Musikalisch widmeten Karat (1980), Udo Jürgens (1986) und Reinhard Mey (1998) dem Titel eigene Lieder, englischsprachig waren es u.a. The Doors (1970), The Grateful Dead (1974), Bob Seeger (1976), Erasure (1988), Sarah Brightman und die Scorpions (beide 1993) sowie Alphaville (2003). Aufgrund seiner Amoralität wurde und wird dem Narren bis heute auch eine vermittelnde Funktion zwischen Sinn und Unsinn zugestanden. Nur er besaß die sprichwörtliche Narrenfreiheit, zu tun und zu sagen, was er wollte. Außerhalb der Standesordnung befindlich, gab es für ihn wenig Konsequenzen zu fürchten, erkannte Konstantin Fechter in der Jungen Freiheit: „Er hatte nichts, weder Rang noch Familie oder Einkommen, durch das sich gegen ihn Druck ausüben ließ. Je willkürlicher der Tyrann und brutaler seine Unterdrückung der Untertanen, desto wichtiger war der Hofnarr, welcher als einziger noch eine spielerische Kritik vortragen konnte.“
Seine Duldung verdeutlichte jedoch zugleich auch die eigentliche Machtlosigkeit des Narren: „Man konnte ihn gewähren lassen, da er keine Bedrohung für die herrschenden Verhältnisse darstellte, selbst wenn er die Wahrheit sprach“, so Fechtner, der aktuell zunächst eine Verbindung zur „Narretei“ der „schillernden Protestzüge gegen die bundesrepublikanische Corona-Politik der letzten Monate“ zieht. Die ernsthaften Kritiker der derzeitigen Zustände hätten damit „die Wahl zwischen weiterem Stillschweigen oder dem Anschluss an den Tanz und die damit verbundene Narrenkappe. Da-durch delegitimieren sie jedoch ihr Ansinnen und degradieren sich zur Witzfigur, indem sie sich argumentativ selbst entwaffnen.“ Somit werde der Wahn des Narren nicht mehr wie im Mittelalter ein Korrektiv zur Politik, sondern Grundlage eines Massenphänomens und Lebensgefühl der politisch Ausgestoßenen: „Wer aber aus Verzweiflung über fehlende Handlungsmöglichkeiten mit der Selbstvernarrung sympathisiert, setzt auf den Wahn als Verbündeten und erreicht damit genau das Ziel der Neofeudalherren.“ Das trifft laut Fechter übrigens auch auf die linksgrünen, teils institutionalisierten Nazi- und Rassismusdenunzianten des Netzes zu.
Doch genau der aktuelle Zustand der „Neofeudalherren“ in Berlin lässt sich auch als Narrenschiff allegorisieren, wie AfD-Bundestagsfraktionschef Alexander Gauland schon im Oktober 2019 schrieb. Bereits vor über zwei Jahrzehnten aber war Reinhard Mey ebenso weitsichtig: „Am Horizont wetterleuchten die Zeichen der Zeit / Niedertracht und Raffsucht und Eitelkeit“, reimte er damals. Und weiter:
"Der Steuermann lügt, der Kapitän ist betrunken
Und der Maschinist in dumpfe Lethargie versunken
Die Mannschaft lauter meineidige Halunken
Der Funker zu feig‘, um SOS zu funken.
Klabautermann führt das Narrenschiff
Volle Fahrt voraus und Kurs auf‘s Riff.“
Es lohnt heute, darüber wieder nachzudenken.