„die Wiedererstandene“
4. Juni 2021 von Thomas Hartung
Anfang der 1920er Jahre war die Sehnsucht nach einem hoffnungsspendenden Zeichen des Himmels unerträglich geworden: Die Spekulation auf einen raschen Zusammenbruch der Oktoberrevolution hatte sich als trügerisch erwiesen. Die Seelen hungerten in einem immer endloseren Winter der Emigration. Zweifel am Untergang der gesamten Zarenfamilie waren buchstäblich Nahrung für alle, denen die russische Revolution die Welt zerstört hatte. Vielleicht lag es an ihrem Namen – Anastasia bedeutet „die Wiedererstandene“ -, dass gerade sie als jüngste Tochter von Nikolaus II. das Blutbad überlebt haben soll, das in der Nacht vom 16. auf den 17. Juli 1918 im sibirischen Jekaterinburg (heute Swerdlowsk), im Erdgeschoß des Hauses Ipatjew, die gesamte Zarenfamilie mit Bediensteten, insgesamt elf Personen, auslöschte. Vor 120 Jahren, am 5. Juni 1901, kam sie in Petersburg zur Welt.
Die vierte Tochter des letzten russischen Zaren und seiner Frau Alexandra Fjodorowna, vormals Alix von Hessen-Darmstadt, sollte eigentlich ein Junge und Thronerbe werden, da das Paar bereits drei Töchter hatte. Dennoch liebten beide ihre neue Tochter und erfreuten sich, dass das Baby gesund war: Ihr jüngerer Bruder Alexei, mit dem sie ein inniges Verhältnis pflegte, sollte von seiner Mutter die Bluterkrankheit (Hämophilie B) erben. Anastasia wurde, wie ihre anderen Töchter vorher, von Alexandra selbst gestillt und von ihr „Shivzik“ genannt, das russische Wort für „Kobold“, da niemand vor ihren Scherzen sicher war.
Anastasia galt als furchtlos, weinte selten, spielte gerne Streiche, verkleidete sich und hatte großes schauspielerisches Talent. Sie imitierte gerne andere Leute und erfreute damit ihr Umfeld. Obwohl sie wie ihre Schwestern Großfürstin war, schlief sie wie ihre Geschwister auf Feldbetten und musste jeden Morgen ein kaltes Bad nehmen. Sie litt an Spreizfüßen, beidseitigem Zehenschiefstand (Hallux valgus) und an Rückenproblemen, weshalb sie regelmäßig massiert wurde. Anastasia war zwar keine gute Schülerin, liebte aber Sprachen. Die Kinder sprachen Englisch mit der Mutter, Russisch mit dem Vater, Deutsch mit den hessischen Verwandten der Mutter und lernten Französisch.
Ging es dem Zarewitsch aufgrund seiner Krankheit nicht gut, vermochte meist nur Anastasia, ihren Bruder von den Schmerzen abzulenken und ihn ein wenig zu erheitern. Auch mit ihrer älteren Schwester Maria verband sie ein enges Band, und die beiden waren als „Kleines Paar“ bekannt. Ihre beiden älteren Schwestern Olga und Tatjana waren das „Große Paar“ – die Bezeichnungen stammen von einer Hebamme, die gleich nach Anastasias Geburt zur Kaiserin Alexandra meinte, sie solle nicht traurig sein, dass es wieder ein Mädchen sei, denn nun habe sie ein großes und ein kleines Paar Mädchen.
„nicht genügend historisch bedeutsam“
Im Zuge der Revolution wurde Nikolaus II. am 15. März 1917 zur Abdankung gezwungen und die Familie in Zarskoje Selo unter Hausarrest gestellt. Aufgrund der Kriegswirren und der Rachepläne der Bolschewiki deportierte Ministerpräsident Kerenski die Romanows samt Gefolge Ende Juli per Zug und Schiff nach Tobolsk in Sibirien. Der Zar sollte in einem großen Schauprozess für seine Verbrechen am russischen Volk gerichtet werden, ähnlich wie einst in der Französischen Revolution Ludwig XVI. Da der Prozess in Moskau stattfinden sollte und die Anwesenheit des Zaren verlangte, sollte die Familie über Jekaterinburg in die Hauptstadt reisen. Am 30. April bezog sie dort das Ipatjew-Haus.
In der Zeit der Gefangenschaft versuchten die Geschwister, ihre Fröhlichkeit zu erhalten – was Anastasia am besten gelang, nicht zuletzt auch durch und mit ihrem King Charles Spaniel Jemmy. Selbst die Wachsoldaten gingen auf ihre Scherze ein. Doch das Schicksal nahm seinen Lauf: In den ersten Juliwochen fiel in Moskau die Entscheidung, die Familie hinzurichten, da Lenin einen Prozess gegen den ehemaligen Zaren für zu riskant hielt. Ein unschuldiger Zar hätte die Richtigkeit der Revolution in Frage gestellt. Auf keinen Fall sollte die Familie den herannahenden Weißen Truppen in die Hände fallen und als Symbolfigur für eine etwaige Konterrevolution dienen.
Unter Führung von Jakow Jurowski erschossen dann vier Tschekisten und sieben ungarische Kriegsgefangene die Familie mitsamt Gefolge; selbst Jemmy wurde nicht verschont. Die Revolverkugeln prallten jedoch an Anastasias Kleid ab, weil in ihr Mieder Familienschmuck eingenäht war. Die Mörder erstachen das Mädchen daraufhin mit Bajonetten. Nach dem Mord versuchte Jurowski, die Spuren des Verbrechens zu verwischen, und brachte die sterblichen Überreste zu einem Bergwerksschacht namens Ganina Jama in einem Wald etwa 15 km von Jekaterinburg. Die Leichen wurden größtenteils verbrannt, teilweise in Schwefelsäure aufgelöst und an verschiedenen Stellen verscharrt.
Nur acht Tage später nahmen Weiße Truppen die Stadt ein und setzten ein Ermittlungsverfahren unter Nikolai Sokolow in Gang, um den Fall Romanow aufzuklären. Doch es gab bereits Gerüchte, dass Anastasia zu diesem Zeitpunkt noch lebte. Wenigstens erwähnt sei hier die Tatsache, dass auch Anastasias Bruder Alexej Wiedergänger haben sollte, darunter den Dreifachagenten Michael Goleniewski, den 1927 von einer Warschauer Zeitung zum „echten“ Zarewitsch ausgerufenen Eugene Nikolaiwitsch Iwanoff, den Esten Alexei Tammet, der in Wirklichkeit Ernest Veermann hieß, oder Alexander Savin, den die sowjetische Geheimpolizei 1928 festnahm – überführt wurden sie allesamt, weil sie keine Bluter waren.
Sokolows Buch über die Ermordung der Zarenfamilie erschien Ende 1924 kurz nach seinem Tod in Paris. Seinen Indizien für die Hinrichtung der gesamten Familie fehlten allerdings die Leichen als letzter Beweis. Das Haus selbst wurde 1977 vom Sekretär des Gebietssowjets und nachmaligen Präsidenten Boris Jelzin auf Befehl Moskaus als „nicht genügend historisch bedeutsam“ abgerissen, nachdem es mehr und mehr zu einer Wallfahrtsstätte für russische Monarchisten geworden war. Zwei Jahre später fanden zwei Aktivisten ein Grab der Hingemetzelten. Es dauerte bis zum 12. Juli 1991, kurz vor der endgültigen Auflösung der Sowjetunion, bis die sterblichen Überreste exhumiert wurden. Die Fundstelle barg neun der elf Ermordeten. Mittels DNA-Analyse konnten die geborgenen Leichen 1993 eindeutig identifiziert werden.
Da im Grab zwei Leichen fehlten, die von Alexei und einer seiner Schwestern, verstummten die Gerüchte über ein mögliches Überleben eines Familienmitgliedes nicht. 2007 wurden auch diese Leichen gefunden und 2009 zweifelsfrei als Alexei und Maria identifiziert. Achtzig Jahre nach der Ermordung von Anastasia und ihrer Familie wurden ihre sterblichen Überreste in St. Petersburg in der Peter-und-Paul-Kathedrale beigesetzt. Die Familie wurde aufgrund ihres Martyriums von der orthodoxen Kirche in Russland 2000 heiliggesprochen, die russische Auslandskirche kanonisierte die Familie bereits 1981. Am Platz ihrer Ermordung in Jekaterinburg wurde 2002/2003 die orthodoxe „Kathedrale auf dem Blut“ errichtet.
Mindestens zehn falsche Großfürstinnen
Doch die Jahrzehnte bis dahin, ja teilweise bis heute hält sich das Gerücht, dass die damals 17-Jährige entkommen konnte und sich unter falschen Namen ein neues Leben aufgebaut haben soll. So lebt Anastasia noch 2018 in einer Musicalfassung des Stuttgarter Stage-Palladium-Theaters als Straßenkehrerin Anja in Leningrad und macht sich nach Paris auf, ihre wahre Identität zu finden, wo sie an der Seite eines charmanten Betrügers in gefährliche Abenteuer mit Kommunisten rutscht, die ihr bereits auf den Fersen sind. Obwohl es nach dem Zweiten Weltkrieg mindestens zehn Antragsteller auf die Identität der Großherzogin Anastasia gab, stellvertretend erwähnt seien die Namen Eleonora Albertowa Krüger und Nadeschda Iwanova Wasilyewa, erreichten nur drei einen mehr als kleinen Kreis von Gläubigen.
„Ich bin die wahre Anastasia“, behauptete Franzisca Czenstkowski, als sie 1920 nach einem Selbstmordversuch aus dem Berliner Landwehrkanal gefischt wurde – obwohl sie 1896 in der Kaschubei zur Welt kam, wie man heute weiß. Die Arbeiterin hatte keine Schneidezähne mehr und wies Verletzungen auf, nachdem sie in einer Waffenfabrik eine Granate fallengelassen hatte. Diese Verletzungen schrieb sie selbst jedoch den Bajonetten und Schusswunden durch die Mörder im Ipatjew-Haus zu. Viele Menschen glaubten ihr. Sie klammerten sich an die Hoffnung, dass die russische Zarenfamilie doch nicht komplett ausgelöscht wurde, da bislang noch keine Leichen gefunden werden konnten.
Dass sie kaum Russisch sprach, erklärte Anna Anderson durch die traumatischen Erlebnisse in der Mordnacht; genau wie ihr mangelndes Wissen über die Zarenfamilie. Aber genau wegen dieser Details hielten sie viele für eine dreiste Hochstaplerin. In der historischen Aufarbeitung konnte nie zweifelsfrei geklärt werden, ob Franziska Schanzkowsky die Öffentlichkeit 64 Jahre lang bewusst täuschte oder sie durch ein Nervenleiden tatsächlich glaubte, die überlebende Zarentochter zu sein. Spätere Untersuchungen ergaben, dass Schanzkowsky von den behandelnden Ärzten geradezu gedrängt wurde, in die Rolle der Anastasia zu schlüpfen. Sie legte sich das Pseudonym Anna Anderson zu und spielte zeit ihres Lebens die Rolle der verkannten Großfürstin.
Ab 1938 forderte die vermeintliche Adlige vor Gericht das Erbe des Zaren heraus. Zig Prozesse wurden geführt, darunter 1958 in Wiesbaden als Ortstermin des Hamburger Landgerichts. Felix Dassel, einstiger Flügeladjutant des Zaren, beharrt darauf, in Anna Anderson die Tochter des Regenten zu erkennen („Das muss sie sein.“), während der aus Lausanne angereiste Hauslehrer der Romanows, Pierre Gilliard, das verneint („Außer der Augenfarbe gibt es keine Ähnlichkeit.“). Tatjana Melnik-Botkin, Tochter des Leibarztes der Romanows, steht auf Andersons Seite: „Ich bin überzeugt, dass Frau Anderson die Zarentochter Anastasia ist.“ So weit will Serge Lifar, Ballettmeister der Pariser Oper und als Überraschungszeuge nach Wiesbaden geeilt, nicht gehen. Er behauptet nur: „Anastasia hat überlebt.“ Der Bundesgerichtshof in Karlsruhe glaubte ihr letztinstanzlich 1970 (!) nicht. Schließlich wanderte Anna Anderson in die USA aus, heiratete einen Millionär und starb 1984 verarmt inmitten von drei Dutzend Katzen. Erst zehn Jahre nach ihrem Tod klärte eine DNA-Untersuchung zweifelsfrei, dass sie nicht mit dem russischen Zarengeschlecht Romanow verwandt gewesen sein konnte.
Ihr Leben wurde mehrmals verfilmt, erstmals schon 1928. Am bekanntesten ist die Hollywood-Verfilmung von 1956 mit Ingrid Bergman, die dafür mit einem Oscar und dem Golden Globe geehrt wurde. Im selben Jahr entstand der Film „Anastasia, die letzte Zarentochter“ mit Lilli Palmer in der Titelrolle. Aber auch der Trickfilm „Anastasia“ (1997) mit Meg Ryans Stimme basiert auf der Geschichte Anna Andersons und brachte ihr weitere Bekanntheit und Popularität ein: Das Zelluloid-Kinomagazin sah einen „perfekten Zeichentrickfilm, der zwar jeden Geschichtsprofessor in Ohnmacht fallen lässt, aber Groß und Klein werden wohl ‚Anastasia‘ in ihr Herz schließen.“
von einer unbekannten Frau gerettet
Die zweite im Bunde war Eugenia Smith (1899 in der Bukowina – 1997 in den USA), auch bekannt als Eugenia Drabek Smetisko. Smith ist Autorin einer Autobiographie von „Anastasia Nicholaevna“ (1963), in der sie „ihr“ Leben in der russischen Kaiserfamilie bis zu dem Zeitpunkt erzählt, als Bolschewiki sie in Jekaterinburg ermordeten. Nach eigenen Angaben erlangte sie nach der Hinrichtung das Bewusstsein wieder und wurde von einer unbekannten Frau gerettet, die sie wieder gesund pflegte. Smith begann eine Wanderung nach Westen, begleitet von zwei Männern, von denen einer später als Alexander identifiziert wurde, ein Soldat, der im Ipatjev-Haus stationiert war. Die lange Reise, die mit dem Zug und zu Fuß unternommen wurde, führte Smith und ihre Retter durch die Städte Ufa, Bugulma, Simbirsk und Kursk, bevor sie Serbien erreichten, wo die Memoiren endeten.
Die jugoslawische Staatsbürgerin wanderte zweimal in die USA ein, freundete sich mit einem Bundesrichter an und schrieb mit dessen jüngerer Tochter ab 1930 die Memoiren, die sie vier Jahre später als ersten Entwurf abschloss. Prinz Rostislav, ein Neffe von Nikolaus II., wurde auf sie aufmerksam und lud sie dreimal zum Mittagessen ein. In jedem Falle lehnte die Eingeladene jedoch mit der Begründung ab, sie sei zu nervös. Vor der Veröffentlichung wurden vom Life Magazine Auszüge gedruckt, zusammen mit Artikeln, die die Ergebnisse von Lügendetektortests, der Handschriftenanalyse und des Vergleichs von Smiths Gesichtszügen durch einen Anthropologen mit Fotografien der tatsächlichen Großherzogin beschreiben. Die Ergebnisse sprachen nicht für Smith. 2013 brachte die Bremer Musical-Company den Kampf der beiden Kontrahentinnen um ihre jeweilige Echtheit als Musical auf die Bühne.
2002 trat dann als Dritte Natalija Bilichodse in Erscheinung. Die 101-jährige Georgierin behauptete, die wahre Anastasia zu sein. Sie konnte sich tatsächlich an Details erinnern, zum Beispiel das Tapetenmuster des Zarenhofs beschreiben. Außerdem bescheinigte der Leiter der „Prinzessin Anastasia Romanowa Wohltätigkeitsstiftung“, Professor Wladlen Sirotkin, eine große Ähnlichkeit zu der verschollenen Großfürstin; dies sei nur in „einem von 700 Milliarden Fällen möglich“. Auch Natalija Bilichodse forderte Geld aus dem Millionenvermögen der Romanows. Jedoch starb sie, bevor Tests ihre Identität einwandfrei beweisen konnten.
Was bleibt? Der Hunger nach Geschichten ist unersättlich, nach Geschichten, die das Unerträgliche fasslich machen: „Und wie drängt es den Menschen erst zu Geschichten, die von Wundern handeln, von Auferstehung aus den Gräbern der Revolutionen“, resümierte Gerhard Mauz bereits 1967 im Spiegel einen der vielen Anderson-Prozesstage. „Die Mühe um eine Wahrheit, die zwangsläufig das Recht zur Folge haben muss, gelangt … dorthin, wo jene Wahrheit beginnt, die ‚in die alten Zeiten‘ gehört, ‚wo das Wünschen noch geholfen hat‘.“ Erst durch diese Wunschwahrheit konnte die historisch eigentlich unbedeutende Zarentochter Anastasia zu einer Märchenprinzessin verklärt werden, deren Legende bis heute präsent ist.