„furor teutonicus“
6. Juni 2021 von Thomas Hartung
Im Januar 1939 erschien im New Yorker International Cosmopolitan unter dem Titel „Diagnose der Diktatoren“ sein sogenanntes „Knickerbocker“-Interview, in dem er versuchte, Hitler und den Nationalsozialismus der Deutschen aus psychologischer Perspektive zu erklären. Er bezeichnete darin Hitler als einen „Ergriffenen“ und „Besessenen“. Hitler sei von Inhalten des „kollektiven Unbewussten“ überwältigt, sei einer, der unter dem Befehl einer „höheren Macht steht, einer Macht in seinem Inneren“, der er zwanghaft folge. „Er ist das Volk“, er repräsentiere für die Deutschen das im „Unbewussten des deutschen Volkes“ Lebendige, weswegen andere Nationen die Faszination der Deutschen durch Hitler nicht verstehen könnten. In diesem Sinne beziehe Hitler seine Macht durch sein Volk und sei „hilflos … ohne sein deutsches Volk“.
In dieser psychischen Funktion entspräche Hitler am ehesten dem „Medizinmann“, „Oberpriester“, „Seher“ und „Führer“ einer primitiven Gesellschaft. Dieser sei dadurch mächtig, dass man vermute, er besitze Magie. Er sei „der Lautsprecher, der das unhörbare Raunen der deutschen Seele verstärkt, bis es vom unbewussten Ohr der Deutschen gehört werden kann“, er spiele für die Deutschen die Rolle eines Vermittlers zu den Äußerungen ihres Unbewussten. Das dort Aktivierte war nach seiner Auffassung das frühere Gottesbild des „Wotan“, aber auf eine zerstörerische Art. Er konstatiert zudem einen „Minderwertigkeitskomplex“ der Deutschen, der eine notwendige Voraussetzung für die „Messianisierung“ Hitlers bilde.
Dabei versteht er unter Wotan eine Personifikation seelischer Gewalten. Die „Parallele zwischen Wotan redivivus [auferstanden] und dem sozialpolitischen und psychischen Sturme, der das gegenwärtige Deutschland erschüttert, [könne] wenigstens als ein Gleichsam-als-Ob gelten.“Man könne ebenso den mächtig wirksamen „autonomen seelischen Faktor“ psychologisierend als „furor teutonicus“ bezeichnen: „In Deutschland ist das Unwetter ausgebrochen, während wir [in der Schweiz] noch an das Wetter glauben“. Und: „Deutschland ist ein geistiges Katastrophenland“. Er folgerte, Wotan verkörpere „die triebmäßig-emotionale sowohl wie die intuitiv-inspirierende Seite des Unbewußten […] einerseits als Gott der Wut und Raserei, andererseits als Runenkundiger und Schicksalskünder.“
Er gilt als Mystiker unter den Vätern der Psychoanalyse, denn während Freud vieles vom Sexualtrieb ableitete und Adler den Machttrieb in den Vordergrund stellte, sah der humanistisch denkende und in protestantischer Tradition aufgewachsene Schweizer das Individuum in Verbundenheit mit den „Ahnen“, also durchaus heidnisch als magisches Wesen. Er lebte mit dem Bewusstsein, in eine Familie geboren worden zu sein, die sich aufs Visionäre verstand: der eine Großvater war Geistlicher, der andere Freimaurer. Er galt als unehelicher Enkel Goethes, war sich dessen sicher und betonte zeitlebens diese Abstammung. Seine Mutter fiel regelmäßig in Trance, verkehrte in diesen Zuständen mit Geistern und blieb dem Sohn immer ein rätselhaft-geheimnisumwittertes Wesen: Carl Gustav Jung, kurz meist C.G. Jung, der am 6. Juni 1961 in Küsnacht/Kanton Zürich starb.
„eine geheimnisvolle Welt für mich allein“
Carl Gustav kommt am 26. Juli 1875 in Kesswil, einem Dorf am Schweizer Ufer des Bodensees, als zweiter Sohn seiner Eltern zur Welt. Der Vater ist evangelischer Pfarrer, die Mutter interessiert sich für Spiritismus und Okkultismus. In der Schule nach dem Umzug in Kleinhüningen bei Basel findet Jung kaum Kontakt. Er fühlt sich unverstanden und einsam: „…blieb ich mit meinen Gedanken allein. Das war ich auch am liebsten. Ich habe allein für mich gespielt, bin allein gewandert, habe geträumt und hatte eine geheimnisvolle Welt für mich allein“. Als er neun Jahre alt war, wurde seine Schwester Johanna Gertrud („Trudi“) geboren.
Ab 1895 studierte Jung Medizin an der Universität Basel und besuchte zudem Vorlesungen in Jura und Philosophie. In seiner frühen Studienzeit beschäftigte er sich u. a. mit Spiritismus, einem Gebiet, das damals laut seiner Biografin Deirdre Bair „als mit der Psychiatrie verwandt“ angesehen wurde. Sein Interesse daran wurde zum einen durch zwei unerklärliche „Poltergeistphänomene“ in seinem ersten Studiensemester geweckt. Jung besuchte von 1894 bis 1899 Séancen seiner Cousine Helly Preiswerk, die in Trance mediale Fähigkeiten zu haben schien, sowie zwei Jahre lang, von 1895 bis 1897, die wöchentlichen Séancen eines „Gläser- und Tischrücker-Kreises“, der sich um ein fünfzehnjähriges „Medium“ gebildet hatte. Nach dem Tod seines Vaters 1896 musste er als junger Student für den Unterhalt seiner Mutter und seiner Schwester sorgen.
Jung spezialisierte sich auf Psychiatrie und war 1900 nach seinem Staatsexamen als Assistent von Eugen Bleuler in der Irrenheilanstalt Burghölzli in Zürich tätig. Während dieser Zeit entstand aus seinen Beobachtungen des Phänomens der gespaltenen Persönlichkeit, die er anhand von Protokollen spiritistischer Sitzungen gewonnen hatte, 1902 seine Dissertation „Zur Psychologie und Pathologie sogenannter occulter Phänomene“. Im Jahr darauf heiratete Jung die wohlhabende Schaffhauserin Emma Rauschenbach. Sie gebar bis 1914 vier Töchter und einen Sohn, interessierte sich für Naturwissenschaften, Geschichte und Politik und war fasziniert von der Gralslegende. Ihr Ehemann förderte ihre Interessen; sie war für ihn nicht nur eine wichtige Gesprächspartnerin und Kritikerin seiner Texte, sondern half ihm bei seiner Arbeit, indem sie Schreibarbeiten übernahm. Ab 1930 arbeitete sie selbst als Analytikerin. Ihr in die Ehe mitgebrachtes Vermögen war eine wichtige Voraussetzung für Jungs Forschungsfreiheit.
Bei Bleuler habilitierte sich Jung 1905, stieg im selben Jahr zum Oberarzt der psychiatrischen Klinik Burghölzli und ersten Stellvertreter Bleulers auf und wurde zum außerordentlichen Professor für Psychiatrie an der Universität Zürich ernannt. Seine Vorlesungen als Privatdozent waren gut besucht, die Habilitationsarbeit brachte ihm erste internationale Anerkennung ein. 1907, im Jahr seiner ersten Begegnung mit Sigmund Freud, folgte seine Arbeit „Über die Psychologie der Dementia praecox“. Wegen eines Zerwürfnisses mit Bleuler gab Jung 1909 seine Tätigkeit am Burghölzli auf und eröffnete in seinem neuen Haus in Küsnacht am Zürichsee eine Privatpraxis. Zwischen 1906 und 1912 standen Jung und Siegmund Freud in regem Austausch. Doch er überwarf sich auch mit ihm – Freuds Libidobegriff hielt er für zu eng.
„Wiederverzauberung“ der Welt
Ab 1912 arbeitete Antonia Wolff für und mit Jung, wurde seine engste Vertraute und für viele Jahre seine wichtigste Mitarbeiterin und Geliebte – Bair nannte sie Jungs „Zweitfrau“; sie wird manchmal auch als „Jungs Analytikerin“ bezeichnet und war während seiner schweren Krise nach dem Bruch mit Freud sein wichtigster Beistand. Er blieb jedoch mit Emma verheiratet, oft traten sie zu dritt auf. Jung gab 1913 seine Lehrtätigkeit als außerordentlicher Professor an der Universität Zürich auf und konzentrierte sich auf seine eigene Praxis, unterbrochen durch ausgedehnte Reisen in den 1920er Jahren, so nach Nordamerika zu den Pueblo-Indianern, nach Nord- und Ostafrika sowie nach Indien. Zwischen 1917 und 1918 diente er als Sanitätsarzt in einem britischen Internierungslager.
Am Ende des Ersten Weltkrieges wandte sich Jung der Gnosis zu. Das religiöse Thema beschäftigte ihn von da an sein Leben lang. Er selbst integriert Gnosis, Philosophie, Alchimie und Mystik zu einer eigenen Religiosität, die nicht konfessionell gebunden ist. Er gilt oft als der erste moderne Psychologe, der sagt, dass die menschliche Psyche „von Natur aus religiös“ sei, und sie eingehend erforscht hat. Seine Überlegungen und Ansichten nannte er nunmehr „Analytische Psychologie“. Während Freud das Kausalitätsprinzip der Naturforschung auch auf die Seelenkunde anwendet, ergänzt Jung Kausalität um Finalität: Seelisches ist nicht nur kausal bedingt, sondern auch durch Ziele, Zwecke und Werte. Wichtig für das Verständnis der Psyche ist nicht so sehr, woher sie kommt, sondern wohin sie strebt. Dem Diktum des Soziologen Max Weber von der „Entzauberung der Welt“ durch Rationalisierung und der damit verbundenen Entfremdung hält Jung seine Forderung nach „Wiederverzauberung“ entgegen.
Freud hatte sich bereits vom Traum einen „Einblick in die phylogenetische Kindheit“ und „Kenntnis der archaischen Erbschaft des Menschen“ versprochen. Diese Annahme führt Jung zum Konzept des kollektiven Unbewussten und der Archetypen aus. Das kollektive Unbewusste als überpersönlicher Bereich des Unbewussten ist der „Teil der Psyche, der von einem persönlichen Unbewussten dadurch negativ unterschieden werden kann, dass er seine Existenz nicht persönlicher Erfahrung verdankt und daher keine persönliche Erwerbung ist“. Die erfahrungswissenschaftliche Basis, auf der er das Konzept des kollektiven Unbewussten induktiv formulierte, bestand im Wesentlichen aus Träumen und Motiven aus der Kulturgeschichte (Religionen, Mythen, Märchen) im interkulturellen Vergleich, die auf eine ähnliche psychische Grundlage aller Menschen schließen ließen. Davon zu unterscheiden ist das persönliche Unbewusste, das sich in „persona“ (das Außen, die repräsentative Maske) und „Schatten“ (das Innen, das verborgene Negative) gliedern ließe.
Beider Persönlichkeitsintegration im Laufe der individuellen Reifung nennt Jung „Individuation“, Ganzwerdung – das zentrale Konzept der analytischen Psychologie. Archetypen nun seien Formen, ja Energiekomplexe, die „spontan und mehr oder weniger universal, unabhängig von Tradition, in Mythen, Märchen, Phantasien, Träumen, Visionen und Wahngebilden auftreten“ und keine vererbten Vorstellungen, wohl aber „vererbte instinktive Antriebe und Formen“ bildeten, die die Individuation maßgeblich beeinflussten. Das Konzept definiert kein „Set“ von Archetypen, sondern ist prinzipiell offen. Für Jung gehören zu solchen Archetypen primär die Grundformen des Weiblichen und Männlichen (anima und animus), auch in religiöser Erscheinung, darunter die „Große Mutter“, der „alte Weise“ oder das „göttliche Kind“. Diese Archetypen können in verschiedenen Ausprägungen dann zu „Typen“, ja „Stereotypen“ werden.
Inzwischen mehren sich Anzeichen, dass verschiedene archetypische Märchenplots teilweise bis zu 6000 Jahre ins Indoeuropäische zurück verfolgbar sind: „Die Schöne und das Biest“ etwa sei der Versuch, unserer Beziehung zur Natur einen Sinn zu geben und ihr die Bedrohlichkeit zu nehmen; ähnlich alt seien u.a. „Rumpelstilzchen“ oder „Der Schmied und der Teufel“ mit dem „übernatürlichen Helfer“. Jede Dramaturgie, vom Werbespot über Oper und Musical bis zum Spielfilm, arbeitet mit archetypischen Versatzstücken, die dem Protagonisten während seiner „Reise“ begegnen, ja lassen Marken selbst zu Archetypen werden wie etwa zum Gott, Helden oder Magier.
„ein Gott wird da sein“
Er war nicht der Erste, der Träume analysiert hat, doch sicher der vielleicht bekannteste Pionier auf dem Gebiet der Traumanalyse. Hermann Hesse war sein bekanntester Klient. Obwohl er ein theoretischer Psychologe und praktizierender Kliniker war, hat er einen großen Teil seines Lebens damit verbracht, andere Bereiche zu erforschen, darunter östliche und westliche Philosophie, Alchemie, Astrologie, Soziologie sowie Literatur und Kunst. Viele bahnbrechende psychologische Konzepte wurden ursprünglich von Jung vorgeschlagen, neben den Archetypen und dem kollektiven Unbewusste auch der „Komplex“ und die „Synchronizität“. Auf ihn gehen auch die Bezeichnungen des extro- und introvertierten Menschen zurück. 1933 übernahm er an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich wieder eine Lehrtätigkeit, ab 1935 als Titularprofessor, die er bis 1942 fortführte.
Von 1934 bis 1939 stand er der „Internationalen Allgemeinen Ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie“ (IAÄGP) vor, um nach seinen Worten die Psychotherapie über die NS-Zeit hinaus zu retten. Seine Präsidentschaft wurde vielfach kritisiert und brachte ihn in den Verdacht der Anbiederung. Als Motivation für sein Verhalten verwies der Schweizer auf seine Neutralität und sein Verantwortungsgefühl: „Man wird im Kriegsfalle den Arzt, der seine Hilfe den Verwundeten der gegnerischen Seite angedeihen lässt, doch auch nicht als Landesverräter auffassen.“ Trotz seiner Aussagen zu germanisch-jüdischen Unterschieden und des NS-Lobes seiner Psychologie als „aufbauende Seelenlehre“, während gleichzeitig die Schriften von Freud der Bücherverbrennung zum Opfer fielen, wurden Jungs Werke 1939 im Deutschen Reich auf die „schwarze Liste“ gesetzt, 1940 nach der deutschen Invasion auf die französische „Otto-Liste“ der verbotenen Werke. 1942/43 diente Jung dem US-amerikanischen Geheimdienst als eine Art „Profiler“, um die führenden Nationalsozialisten des deutschen Volkes zu analysieren, ihre Handlungsweisen und möglichen Reaktionen zu prognostizieren.
Jungs teilweise widersprüchlich wirkendes Verhalten in den 1930er Jahren, durch das er sich starken Angriffen aussetzte, empfand sein Rechtsanwalt Wladimir Rosenbaum gerade als Beweis für Jungs Aufrichtigkeit. Nach 1945 meinte Jung, er sei zu optimistisch über die Möglichkeiten einer positiven Entwicklung gewesen und hätte mehr schweigen sollen. Auch viele Äußerungen über Juden erscheinen zum Teil politisch naiv, unsensibel oder opportunistisch. Die damals starke Rezeption der Psychologie C. G. Jungs durch deutsche Juden und deren spätere Vertreibung aus Deutschland begünstigte wohl die internationale Verbreitung der Jung‘schen Psychologie: Im Jahr 2007 war jeder dritte Jung‘sche Analytiker jüdischer Abstammung. 1944 wurde er als Professor für Medizinische Psychologie an die Universität Basel berufen. Zuletzt war er eng mit dem Physiker und Nobelpreisträger Wolfgang Pauli befreundet, vertiefte seine Forschungen über das kollektive Unbewusste, Alchemie und die Bedeutung der Religion für die Psyche und wurde drei Tage nach seinem Tod auf dem Friedhof Küsnacht begraben. Der Spruch auf seinem Grabstein ist auch der über der Türschwelle seines Hauses: „Vocatus atque non vocatus deus aderit“ („Gerufen oder nicht gerufen, ein Gott wird da sein“).
Jung beeinflusste neben der Psychotherapie auch die Astrologie und die Religionspsychologie. Als sein Hauptwerk gilt das „Rote Buch“: entstanden von 1914 bis 1930, wurde es 2009 in New York erstmals der Öffentlichkeit zugänglich gemacht und gedruckt. Das grossformatige, annähernd sieben Kilogramm schwere, in rotes Leder gebundene Werk ist in eigenartig feierlicher deutscher Sprache verfasst, in kunstvoller Kalligraphie mittelalterlicher Handschriften gehalten und von ihm selbst mit farbenprächtigen Illustrationen versehen. Es war aus den Notizen und Skizzen der „Schwarzen Bücher“ entstanden, die er als Notizbücher auf seinen Reisen nach Freud begonnen hatte. Seine Gesammelten Werke, darunter die ebenfalls bedeutenden „Psychologische Typen“ (1921), „Die Beziehungen zwischen dem Ich und dem Unbewussten“ (1928) und das Spätwerk „Mysterium Coniunctionis“(1956), erschienen dieses Jahr als Neuauflage in 22 Taschenbüchern. Das 1948 von ihm gegründete C. G. Jung-Institut Zürich bildet bis heute Psychotherapeuten in seiner Tradition aus.