„der Funke des Glücks“
3. Juni 2021 von Thomas Hartung
Beim Griechen „nebenan“ gehört er dazu wie Ouzo, Gyros und Zaziki: der Sirtaki – leise klimpernd im Hintergrund. Die Bouzoukiklänge von Mikis Theodorakis beschwören im grauen Norden Urlaubsträume herauf – aber auch das Bild jenes Mannes, der die Melodie barfuß in den Strandsand tanzt. Dabei gab es bis vor 50 Jahren gar keinen Volkstanz dieses Namens. Ob den „Sirtaki“ nun eine Werbeagentur erfand, Regisseur Michael Cacoyannis oder der Schauspieler selbst, weil er zu faul war, die nativen Tänze zu lernen, oder schlicht nicht tanzen konnte, ist bis heute unklar. Jedenfalls wird seine Figur des „Alexis Sorbas“ zum berühmtesten, wenn auch erfundenen Aushängeschild hellenischer Folklore durch einen Spielfilm: Anthony Quinn, der am 3. Juni 2001 in Boston an einer Lungenentzündung starb.
Sein Ruhm war nicht abzusehen, als Antonio Rodolfo Quinn Oaxaca am 21. April 2015 im mexikanischen Chihuahua als Sohn eines Iren, der während der Mexikanischen Revolution für Pancho Villa kämpfte, und einer erst 15jährigen Mexikanerin mit indianischen Wurzeln zur Welt kommt. Als der Vater als verschollen galt, versteckt die Mutter den kleinen Anthony in einem Kohlekarren, reist illegal über die Grenze und lässt sich in der Nähe von Hollywood nieder. Hier trafen beide wieder mit dem Vater zusammen, der damals als Kameramann in Hollywood arbeitete, bis er 1927 bei einem Autounfall ums Leben kam. Daraufhin musste der erst zwölfjährige Anthony die Schule abbrechen und zum Lebensunterhalt beitragen: Er arbeitete in den nächsten Jahren unter anderem als Zeitungsjunge, Schuhputzer, Wasserträger, Fensterputzer, Schlachthausarbeiter, Maurer, Straßenprediger, Boxer und Zuschneider in einer Textilfabrik. Die Berufe prägten seinen Charakter und seinen Habitus.
Seine Künstlerkarriere begann der knapp 1,90-Hüne aber nicht als Schauspieler, sondern als Bildhauer – bereits im Alter von elf Jahren erhielt er einen Preis für eine Skulptur – und Saxophonspieler, der eine eigene Band gründete. Mit einem Stipendium studierte er Architektur bei Frank Lloyd Wright, der dem damals 17-jährigen eine Operation an der Zunge bezahlte, um einen Sprachfehler zu beheben. Zusätzlich zur Operation erhielt Quinn therapeutischen Sprachunterricht, der sein Interesse an der Schauspielerei weckte. Zwei Jahre später gab er sein Theaterdebüt in einem „Federal Theatre Project“ neben Mae West in dem Schauspiel „Clean Beds“, 1936 sein Leinwanddebüt als Nebendarsteller in den Streifen „Ausgerechnet Weltmeister“ („The Milky Way“) und „Mord in Sing Sing“ („Parole!“).
Als im selben Jahr der Regisseur Cecil B. DeMille für den Western „Der Held der Prärie“ mit Gary Cooper Indianer sucht, ergreift Quinn die Gelegenheit, gibt vor, ein Cheyenne zu sein, und erhält die Rolle. Als DeMille seine hübsche Adoptivtochter Katherine zu den Dreharbeiten mitbringt, zögert Quinn ebenfalls nicht lange und nimmt sie 1937 zu seiner ersten Ehefrau. Sie hatten miteinander fünf Kinder. Der erstgeborene Sohn Christopher ertrank 1941 in einem Teich auf dem Anwesen des Schauspielerkollegen W. C. Fields. Da der berühmte Schwiegervater ihm keine Hilfe war, spielte Quinn bis in die 1940er Jahre hinein als „ethnic actor“ Chinesen, Philippinen, Araber, Eskimos, Unterdrückte, Geschlagene, blutige Draufgänger, Gangster; kurz Gegenpole zum „weißen Helden“. Von Anfang an war Quinn mit seiner exotisch-markanten Physiognomie auf einfache, robuste Charaktere festgelegt. 1943 entstand der Western „Der Ritt zum Ox-Bow“, der recht erfolgreich war, und 1947 „Sindbad der Seefahrer“. Im selben Jahr zog es Quinn nach New York – seine Weltkarriere begann.
„dann dreh ich nicht“
Zunächst übernahm er von Marlon Brando die Hauptrolle in dem am New Yorker Broadway aufgeführten Theaterstück „Endstation Sehnsucht“. Der Regisseur des Stückes, Elia Kazan, gab dem neuen Theaterstar eine Nebenrolle an der Seite von Brando in dem Film „Viva Zapata!“ (1951), wofür er einen Oscar als bester Nebendarsteller erhielt. Doch weil Quinn das Gefühl hat, dass er nicht gut genug aussehe, um ein Hollywood-Star zu werden, geht er nach Europa. In Italien dreht er mit Frederico Fellini den Welterfolg „La Strada“ (1954) und machte die Figur des ungeschlachten, brutalen Straußengauklers Zampanò ikonisch, der das Mädchen Gelsomina (Giulietta Masina) kauft und sie ausbeutet, ohne ihre Liebe zu erkennen. „Der Film überzeugte die Leute, dass ich wirklich ein Schauspieler war, und öffnete mir alle Türen… Es hat mich viele, viele Jahre gekostet, meine eigene Persönlichkeit zu finden“, resümierte Quinn.
Zwei Jahre später wird er erneut mit einem Oscar ausgezeichnet: Quinn begeistert als Paul Gauguin an der Seite von Kirk Douglas in der Hauptrolle von Vincent van Gogh in „Ein Leben in Leidenschaft“ (1956). Kein Erfolg beschieden war dagegen seinem Erstling als Regisseur „König der Freibeuter“ (1958), einer Neuverfilmung von „Der Freibeuter von Louisiana“, den sein Schwiegervater 20 Jahre zuvor gedreht und ihn in einer Nebenrolle besetzt hatte. Quinn arbeitete danach nie wieder als Regisseur. Er spielt an der Seite von Gina Lollobrigida den buckligen „Glöckner von Notre Dame“ (1956), wirkt als Offizier Andrea Stavros beim Kriegsfilm „Die Kanonen von Navarone“ (1961) erstmals als Grieche mit und verkörpert in „Lawrence von Arabien“ (1962) einen hakennasigen Stammesfürsten mit wehendem schwarzen Umhang hoch zu Pferd. Im selben Jahr erhielt er die Titelrolle in dem Bibelfilm „Barabbas“ und die des Boxers Mountain Rivera in „Faust im Gesicht“.
1964 schreibt er erneut Filmgeschichte, als er beschließt, die griechische Volksseele zu verkörpern. Seine Rolle als vitaler und freiheitsliebender Bauer „Alexis Sorbas“, dessen lebensfrohe, leidenschaftliche Einstellung mit der Haltung eines von der Zivilisation angekränkelten englischen Schriftstellers kontrastiert wird, den er schließlich zum einfachen Leben bekehrt, wird seine Lieblingsrolle. Er genießt, „dass der Funke des Glücks, die glückliche Lebenseinstellung auf die Menschen in der ganzen Welt übersprungen ist“. „Tony war der ideale Schauspieler für Sorbas“, sagt Hollywood-Autor Martin Ritt. „Nur ein Mann mit einer solchen Lebenslust konnte diese Rolle spielen.“ Cacoyannis übersteht die Dreharbeiten mit chronischer Geldnot und der überstürzten Abreise seines Stars Simone Signoret. Am Ende stehen drei Oskars: Neben dem für die Filmmusik geht einer an Lila Kedrowa als bester Nebendarstellerin und an Kameramann Walter Lasally. In den folgenden Jahren galt Anthony Quinn als der Leinwand-Grieche schlechthin und überzeugte mit diesem Typ in Filmen wie „Teuflische Spiele“ (1968), „Matsoukas, der Grieche“ (1969) und letztmals 1978 mit Jaqueline Bisset im Melodram „Der große Grieche“, der ebenso frei wie sentimental nacherzählten Lebensgeschichte von Aristoteles Onassis.
Dazwischen verkörperte er 1965 den Mongolenfürst Kublai Khan im prominent besetzen Streifen „Marco Polo’s Abenteuer“ mit Horst Buchholz, Orson Welles und Omar Sharif. Im selben Jahr wurde seine Ehe geschieden nach einer Affäre mit Yolanda Addolori, die er bei den Dreharbeiten für „Barabbas“ das erste Mal gesehen hatte. Eigentlich sei sie für das Einkleiden der Statisten zuständig gewesen, doch Quinn habe verlangt, dass sie stattdessen seine Kostüme schneidert. Zunächst sei ihm das verwehrt worden. „Da sagte er, dann dreh ich nicht. Sie mussten die Dreharbeiten für drei Stunden unterbrechen“, erinnert sich sein Sohn Lorenzo. „Wenn er etwas haben wollte, dann tat er alles, um es zu kriegen“. Ein Jahr später nahm er sie zur zweiten Ehefrau und hatte mit ihr drei weitere Kinder.
„Du willst keine Schererei?“
Nachdem er 1969 „In den Schuhen des Fischers“ gar den Papst spielte, zieht sich Quinn in den 1970er Jahren langsam vom Film zurück und veröffentlicht 1973 seine ersten Memoiren. Eine weitere Paraderolle war 1972 die des Agenten Erasmus „Deaf“ Smith in dem Italo-Western „Das Lied von Mord und Totschlag“ neben Franco Nero sowie 1976 die des Trickbetrügers Philipp Bang an der Seite von Adriano Celentano in der Gangsterpersiflage „Der große Bluff“. 1977 feierte er nochmals Erfolge als Kaiphas in dem Bibelstreifen „Jesus von Nazareth“. In den 1980er Jahren trat Quinn nur noch gelegentlich vor die Kamera und war in zweitklassigen und wenig lukrativen Actionthrillern wie „Kennwort Salamander“ oder Komödien wie „Mein Geist will immer nur das Eine“ zu sehen.
Einen beachtlichen Erfolg verzeichnete er noch einmal 1981 als Beduinenführer „Omar Mukhtar – Löwe der Wüste“. 1982 legte er einen Roman vor und landete 1985 mit der Musical-Adaption von „Alexis Zorbas“ einen Broadwayhit. 1989 durfte er, nachdem er sich diese Rolle zu seinem 75. Geburtstag gewünscht hatte, im Fernsehen in der Hemingway-Neuverfilmung „Der alte Mann und das Meer“ glänzen. Zu seinen letzten Kino-Produktionen gehörte 1990 die Zusammenarbeit mit Kevin Costner in „Eine gefährliche Affäre – Revenge“. In einigen Hercules-Fantasyspektakeln, die 1994 im Fernsehen gezeigt wurden, spielte er den Göttervater Zeus. „Die Kamera mag mich, aber nicht von allen Seiten. Ich bitte sie um Verständnis, dass ich nicht mehr 45, nicht einmal mehr 60 bin. Ich bitte sie, dass sie meine Fehler übersehen, dafür das Gute einfangen soll. Ich spreche mit der Kamera. Aber ich denke lieber nicht an sie.“
Die Kamera konnte der Vollblutschauspieler erst vergessen, als es ihm gelang, sich auch einen Namen als Maler, Bildhauer und Designer zu schaffen: Die Erfüllung eines Jugendtraums. Die Verkaufspreise seiner Plastiken und Bilder erreichen sechsstellige Beträge. Quinn verdient damit Millionen – Geld, das er für Unterhaltszahlungen und Abfindungen gut verwenden kann. Denn nach über 30 Ehejahren mit Iolanda heiratet er 1997 seine 48 Jahre jüngere ehemalige Sekretärin Kathy, mit der er nochmal zwei Kinder hat. Er soll Vater von insgesamt 13 Kindern von 5 Frauen sein. Vor der Scheidungsrichterin wurde damals schmutzige Wäsche gewaschen, denn der zu dieser Zeit 82-jährige untreue Hollywoodstar soll angeblich bei Auseinandersetzungen seine Ehefrau verprügelt haben. Im Jahr vor der Scheidung veröffentlichte er seine zweiten Memoiren „One Man Tango“, in denen er schrieb: „Ich bin tausend Mal geliebt worden, aber ich will immer noch mehr“.
Sein lange gehegter Wunsch, einmal Picasso zu spielen, hat sich nicht mehr erfüllt. Seine letzte Ruhe fand der charismatische Schauspieler in einem Familiengrab auf dem Gelände seines Anwesens in Bristol (Rhode Island). Er schlägt die Menschen bis heute in seinen Bann. Sein Geheimnis liegt wohl in diesem Buchtitel „One Man Tango“ – so hat ihn sein Freund Orson Welles genannt. Er war zeitlebens der einsame Tänzer, der sich allein durchschlagen musste. Sein Aussehen kam ihm nicht zu Hilfe. Er spielte mit dem Herzen. Sattelfest in allen Genres, decken seine multikulturellen Jedermänner vom Eskimo bis zu Mohammeds Onkel, von Onassis bis zum Papst das gesamte Weltkino ab. Doch am ehesten sich selbst spielte Quinn als Sorbas: „Du willst keine Schererei? Was willst du denn sonst? Das ganze Leben ist eine Schererei, der Tod ist es nicht.“