Erfinder der Smaragdenstadt
14. Juni 2021 von Thomas Hartung
Es waren nur sechs von insgesamt 3.980 Titeln des Kinderbuchverlags Berlin, doch kaum ein DDR-Bürger kannte sie nicht – die „Smaragdenstadt-Bücher“ waren „Lieblingsbücher“ für Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD) ebenso wie für „Rammstein“-Keyboarder Flake Lorenz: „Ich habe seine Bücher geliebt!“ Dabei waren sie „Bückware“, also nur unterm Ladentisch und nur für gute Kunden erhältlich. Zwischen 1964 und 1982 erstveröffentlicht, wurden sie zwischen 2006 und 2011 von Katharina Thalbach eingesprochen und als Hörbücher publiziert. Geschrieben hat sie Alexander Wolkow, der am 14. Juni vor 130 Jahren zur Welt kam.
Der in Ust-Kamenogorsk (Ost-Kasachstan) geborene Wolkow beschäftigte sich schon als Jugendlicher intensiv mit Literatur. Sein Vater, ein pensionierter Feldwebel, hatte bereits dem vierjährigen Alexander das Lesen beigebracht. Zu den Büchern, die er in seiner Kinder- und Jugendzeit las, zählen Werke von Charles Dickens und Jules Verne – mehrere seiner Romane wird er Jahrzehnte später übersetzen. Auf Grund seiner guten Lesekenntnisse wurde er zwei Jahre später direkt in die 2. Klasse eingeschult. Er beendete die Grundschule mit zwölf Jahren als bester Schüler seines Jahrgangs und legte dann auf dem Gymnasium sein Examen ab. Im Alter von 12 Jahren schrieb er nach eigenem Bekunden an seinem ersten „Roman“, einer Robinsonade.
Nach einer Lehre als Buchbinder studierte er von 1907 bis 1910 Mathematik am Staatlichen Pädagogischen Institut in Tomsk. Danach arbeitete er als Lehrer, zunächst in Kolywan im Altai, dann in Ust-Kamenogorsk an seiner ehemaligen Schule und später, als Schuldirektor, in Jaroslawl. Er unterrichtete neben Mathematik auch Physik, Russisch, Literatur, Geschichte, Geographie, Zeichnen und Latein. Als Autodidakt lernte er Deutsch und Französisch. 1917 wurden als erste Werke einige seiner Gedichte veröffentlicht.
Ab 1929 lebte Wolkow in Moskau, wo er stellvertretender Direktor einer Arbeiterfakultät war und mit fast 40 Jahren ein Mathematikstudium begann. Er beendete es erfolgreich in nur sieben Monaten und arbeitete seit 1931 als Dozent der Moskauer Hochschule für Buntmetalle und Gold, wo er bis zu seiner Pensionierung 1957 höhere Mathematik lehrte. In den 1930er Jahren lernt er auch noch Englisch und versuchte für ein Praktikum, die Erzählung des US-Autors Lyman Frank Baum „The Wizard of Oz“ zu übersetzen. Das Buch gefiel ihm sehr, und er begann, es unter einem Pseudonym nachzuerzählen. Bei der Umarbeitung fügte sich dann eine Änderung an die andere. Aus Dorothy wurde Elli, Totoschka kann nach der Ankunft im Zauberland sprechen und der Zauberer aus dem Land Oz bekam den Namen und Titel „Goodwin, der Große und Schreckliche“ …
Eine Ergänzung folgte der nächsten, und das Märchen des Amerikaners Lyman Frank Baum verwandelte sich in Wolkows ureigenes Märchen. Der bekannte Kinderbuchautor Samuil Marschak wurde 1937 mit dem Manuskript des „Zauberers“ bekannt gemacht und danach auch mit dem Übersetzer, und er riet diesem, sich professionell mit der Literatur zu beschäftigen. Wolkow hörte auf diesen Rat. Der „Zauberer der Smaragdenstadt“ wurde 1939 in einer Auflage von 25.000 Exemplaren herausgegeben, ein Jahr später folgten zwei weitere Auflagen mit 25.000 und dann sogar mit 175.000 Exemplaren.
egalitär-humanistische Moralvorstellungen
„Der Zauberer der Smaragdenstadt“ ist das erste von sechs Büchern, in denen das Mädchen Elli und ihr Hündchen Totoschka von einem Wirbelsturm in ein Zauberland verschlagen werden, das von den unüberwindbaren weltumspannenden Bergen umgeben ist und in dem sie, angelehnt an Frank Baums Vorlage, viele Abenteuer erleben. Mit Hilfe ihrer neu gewonnenen treuen Freunde, einer Vogelscheuche, dem Eisernen Holzfäller und dem Feigen Löwen, kämpfen sie gegen den fürchterlichen Bösewicht Urfin oder die böse Zauberin Bastina. Auch die verschiedenen Völker des Smaragdenlandes und die gute Zauberin Stella helfen Elli und ihren Freunden. Nach vielen Abenteuern, aber auch angenehmen Erlebnissen kommen Elli und ihr Hündchen wieder nach Hause.
1959 wurde das Buch in einer überarbeiteten Fassung mit Zeichnungen von Leonid Wladimirski neu herausgegeben – er hatte auch Alexei Tolstois „Burattino“ entworfen. Mit Wladimirskis Illustrationen sollte der „Zauberer“ später in der Sowjetunion und in Russland über 110mal wiederaufgelegt werden. In den Folgejahren wurde das Kinderbuch in den Staaten des Ostblocks und vor allem für die DDR erfolgreich immer wieder neu aufgelegt. Nach dem großen Erfolg des ersten Bandes verfasste Wolkow ab 1963 noch fünf weitere Bücher, welche die Motive der Geschichte weitererzählen.
Darin kehrt die arglose und freundliche Elli immer wieder auf verschiedenen Wegen ins Zauberland zurück, weil dort Konflikte zwischen oder mit den Völkern des Zauberlandes gelöst werden müssen oder ihre Hilfe gegen den bösen Urfin gebraucht wird. Der versucht immer wieder, mit verschiedenen Mitteln die Smaragdenstadt zu erobern. In den letzten Büchern der Reihe übernimmt Ellis jüngere Schwester Ann die schwierige Aufgabe, das Zauberland und dessen Bewohner vor Urfin oder der Riesenhexe Arachna zu retten. Dabei propagiert Wolkow egalitär-humanistische Moralvorstellungen. Der letzte Teil nimmt mit der Ankunft von Außerirdischen auf spielerische Weise sogar Science-Fiction-Elemente auf.
Stoff und Motive wurden mehrfach als Theaterstück, Musical oder gar Oper verarbeitet, so 2018 durch Pierangelo Valtinoni an der Komischen Oper Berlin. 2019 brachten die Melnitsa Studios in Sankt Petersburg den 2. Band „Der schlaue Urfin und seine Holzsoldaten“ als Animationsabenteuer auch nach Deutschland. Unter dem Filmtitel „Urfin – Der Zauberer von Oz“ wird auf höchstem grafischen Niveau die Geschichte eines verschlagenen Tischlers erzählt, dem sein wild wucherndes Unkraut ein magisches Pulver liefert, um eine geschreinerte Armee aus Holzköpfen zum Leben zu erwecken und das Wunderland zu unterwerfen. Ellis Freunde aus dem ersten Buch, der Blechmann und die Vogelscheuche, landen in den Kerkern der Smaragdenstadt; das Mädchen und der Löwe eilen ihnen zu Hilfe. Urfin wird dabei von Oliver Kalkofe gesprochen.
Neben den Märchen und Übersetzungen schrieb Wolkow auch eine Reihe historischer Romane für Kinder, darunter „Die wunderbare Kugel“ oder „Die Abenteuer zweier Freunde im Lande der Vergangenheit“. Er starb am 3. Juli 1977 in Moskau. Aber der Hunger nach noch mehr „Wolkow“ schien auch nach 1990 unersättlich. 1996 tauchte der neue Name Nikolai Bachnow auf: Der klang so, als hätte Wolkow in Russland einen gelehrigen Schüler gefunden, der nun weitermachte, wo der Meister mit seinem Tod aufhören musste. Dabei ist es ein sächsisch-russisches Ehepaar: Klaus Möckel – Klaus heißt im Russischen Nikolai – und seine Ehefrau Aljonna, deren Mädchenname Bach lautete. Möckel veröffentlichte 42 Bücher vom Krimi über Science-Fiction bis zu Vorlagen für Polizeiruf-110-Folgen und war als Übersetzer ebenso gefragt wie seine Frau, die mehr als 50 Bücher aus dem Russischen übersetzte, darunter fast alle der Brüder Strugazki. Beide legten inzwischen acht Wolkow-Folgebände vor. Und so lebt die Smaragdenstadt weiter…