„Ach du meine Nase!“
16. Juni 2022 von Thomas Hartung
Es war eine der Schlüsselszenen in „Spur der Steine“, jenem legendären, 1966 bis 1989 verbotenen DEFA-Arbeiterfilm: Eberhard Esche stellt sich auf der Baustelle mit den Worten „Ich bin der neue Parteisekretär“ vor. Brigadeführer Balla alias Manfred Krug schüttet ihm den gesammelten Regen aus seiner Zimmermannshutkrempe – platsch! – in die Hand und sagt dann: „Und ich bin Pittiplatsch, der liebe.“ Da war die Koboldfigur gerade mal vier Jahre alt – und hatte diese Wendung bereits in der ostdeutschen Alltagssprache verankert. Und da tummelt sie sich bis heute, ebenso in Phrasen wie „Kannste glauben!“, „Platsch-Quatsch“ oder vor allem „Ach du meine Nase!“, die Bestandteil der Torhymne der Eisbären Berlin ist und die es sogar als Klingelton gibt.
Die FAZ nannte den Kobold ein „überlebensgroßes Symbol für das, was gut war in der DDR, nicht an der DDR“. Politisch wurde er damals wie heute interpretiert. So kommentierte im April 2021 Klaus Funke den Cicero-Beitrag „Würden Sie dieser Frau Ihr Land anvertrauen?“ unter dem Titel „Schnatterinchen im Kanzleramt?“ zur Grünen-Kandidatin Annalena Baerbock: „Fehlt nur noch Pittiplatsch als Außenminister, Onkel Uhu als Wirtschaftsminister und Frau Elster als Innenministerin. Das wäre die öffentliche Bankrotterklärung vor aller Welt. Wer so eine Regierungschefin hat, kann in der Welt nicht mehr ernstgenommen werden. Das wäre Kasperletheater!“ Damit waren viele aktuelle rotgrüne Protagonisten reinterpretiert zu irrationalen Gestalten aus dem sozialistischen Märchenwald des DDR-„Sandmännchens“, die nur dort gut aufgehoben wären, keinesfalls aber in der realen Welt.
Zum Sendestart allerdings kritisierten Lehrer und Eltern, „dass diese Figur nach ihrer Ansicht weder Tier noch Mensch und noch dazu so frech sei“, erinnerte sich Puppenspieler Heinz Schröder, der Pittiplatsch seine krächzende, hohe Stimme lieh, 2008 rückblickend im Tagesspiegel. Die besorgten Pädagogen fürchteten, die Kinder würden nur Dummheiten von der Puppe lernen. Prompt wurde der arme Kerl in den Fundus gesteckt. Die Kinder jedoch wollten ihn wiedersehen und schickten säckeweise Protestbriefe, so dass Pittiplatsch ein halbes Jahr nach dem Karriereknick pünktlich zu Weihnachten wieder auf die Mattscheibe zurückkehrte. Doch egal ob designierter Außenminister oder Kobold: Neben dem Ampelmännchen gehört er seit 1962, überdies dem symbolträchtigen 17. Juni, um 18.50 Uhr zu den wenigen DDR-Kultfiguren, die auch erfolgreich im Westen ankamen: Pittiplatsch.
„fabelhafte Welt der grenzenlosen Anarchie“
Im November 1959 war das Sandmännchen als Reaktion auf die Programmvorschau des SFB erschaffen worden: „Am 1. Dezember um 18.55 Uhr beginnt das Fernsehen des Senders Freies Berlin mit einer neuen Sendereihe ‚Sandmännchen – ein Gute-Nacht-Gruß für Kinder‘.“ Ost-Berlin war schneller mit „Unser Sandmännchen“, das aussah wie Walter Ulbricht, kein Wort sprach, aber zu den Kindern als eines von ihnen kam. Der Sandmann des Westens sah aus wie ein Seemann und schwebte auf einer Wolke. Überall, wo beide Sandmänner zu sehen waren, trug das Sandmännchen des Ostens mit all seinen Fahr- und Flugzeugen den Sieg davon, fuhr Panzer der Sowjetarmee, Straßenbahn und Ballon, ja flog mit Raumschiffen und streute allen Schlafsand in die Augen – was für eine Metapher.
Und in dieser Sendung trat nun fast drei Jahre nach ihrem Start plötzlich ein Kobold auf, kein Mann, sondern „eine postheroische Fiktion“, wie Michael Pilz in der Welt befand, „die man nicht in eine Sojus-Rakete setzen und im FDJ-Hemd durch den Märchenwald spazieren lassen konnte.“ Er wohnte im Underground und richtete, sobald er gutmeinend heraufkam, sanftes Chaos an, zumal beim altklugen Schnatterinchen, seiner „edlen“ weiblichen Gegenfigur. Das Land war ihm zu langsam: „Pitti wird vor lauter Langeweile rundum traurig.“ Er traute nur einem Medium, dem „Pustewind“. Er sagte: „Was Spaß macht, kommt so selten. Da muss Pitti sich was einfallen lassen.“ Er sprach oft in der dritten Person von sich: als ob er nicht er sei, sondern eine außerhalb der Handlung angesiedelte, teilautistische Figur, die ihre Intentionen plötzlich in die Welt holen und sie dadurch verändern will. Er stand „über allem, über dem System, über dem Staat und über seinem Schnatterinchen, das es auch nie schaffte, ihn auf irgendeine Sache einzuschwören. Seine Sache ist grundsätzlich eine andere“, resümierte Pilz.
Aus heutiger Sicht waren die pädagogischen Reaktionen auf seine Auftritte unvorstellbar, denn Pittiplatsch wiegelte die Kinder lediglich zum Aufbleiben auf. „Heute gehen wir überhaupt nicht schlafen“, rief er fröhlich lachend seinem Schneidermeister Nadelöhr zu, der erwachsenen Leitfigur des Abendgrußes. Stattdessen überlegte er, was er in der Nacht alles anstellen könnte. Sterne zählen zum Beispiel. Was für ein Skandal! Schröder spielte ihn als, wie er sagte, „Jungen, den man nicht erziehen kann“. Im Laufe der Zeit brachte es Pittiplatsch laut RBB, dem Rechtsnachfolger des DDR-Fernsehens, auf mehr als 1.000 Auftritte in verschiedenen Sendereihen. Bis zur Einstellung des Sendebetriebs des DFF 1991 wurden rund 2.000 Abendgruß-Sendungen und etwa 1000 Nachmittagssendungen produziert.
Die originellen Geschichten um den neugierig-verschmitzten, nie um eine Antwort verlegenen Kobold und sein Leben mit der Ente und später dem Hund Moppi knüpfen an die kindliche Fantasiewelt an: Pitti will schneller wachsen – Moppi holt die Gießkanne, um ihn mit Wasser zu gießen. Pitti möchte zum Knopfstern fliegen – und macht den Staubsauger startbereit. Er vermutet in der Gartenlaube ein Gespenst – und will es ritterhaft mit dem Besen vertreiben. Kinder erkennen in der Figur leicht eigene Wünsche und Träume, aber auch Schwächen und Ängste wieder. Er erfand das „Rüttelschüttelfest“, eine große Party ohne offiziellen Anlass oder amtliche Erlaubnis. Über Weihnachten reiste er zu „Omama“ ins Kaffeekannenhaus im Koboldland, wo jeder Kobold anders als der andere war „in seiner eigenen fabelhaften Welt der grenzenlosen Anarchie“, staunte Pilz.
„Das Schöne war, dass wir politisch nicht eingeengt waren. Man konnte ja einem Fuchs schlecht ein Pionierhalstuch umbinden oder einem Kobold ein Abzeichen für gutes Wissen“, erklärte Schröder. Dieses anarchische Element war es wohl auch, das die Ultras von Dynamo Dresdens K-Block dazu trieb, seit Jahren Illustrationen der Kultpuppe auf ihren Bannern zu verwenden. Doch im Herbst 2016 wollten der RBB und Dynamo-Medienpartner MDR – richtig, das war der Sender, der den linken Ost-Kabarettisten Uwe Steimle aus dem Programm warf und sich dafür entschuldigte, dass eine seiner Moderatorinnen die AfD als bürgerlich bezeichnete – die Darstellung verbieten. Der Grund: Die Figur gucke auf den Fahnen der Dynamo-Ultras nicht lieb genug; sie sei teilweise so abgewandelt worden, „dass das Gesicht nun böse und angriffslustig erscheint“, ja die Figur „Aggressionen ausstrahlt“, erklärte MDR-Sprecher Sebastian Henne gegenüber TAG24. Doch wenn Fußballer nicht angriffslustig sein sollen – was dann? Die Fans starteten wütende Proteste, die beiden Sender lenkten ein.
„Schön ist er ja nicht“
Hinter „Pitti“ standen mehrere Schöpfer: Den Spruch „Ach du meine Nase“ legte ihm der Schriftsteller Walter Krumbach in den Mund, der auch das „Sandmännchen“-Lied „Sandmann, lieber Sandmann…“ geschrieben hatte: Darin hieß es, dass jedes Kind danach ins Bettchen müsse. Die szenischen Texte lieferte die wunderbare Kinderbuchautorin Ingeborg Feustel. Die Puppen von ihm und Schnatterinchen schuf die erst 2016 gestorbene Emma-Maria Lange aus dem württembergischen Wasseralfingen, die schon als Kind im elterlichen Betrieb mit Kunsthandwerk in Berührung kam. Sie belegte mitten im Weltkrieg künstlerische Abendkurse in München und reiste dann zum Studium an die Hochschule Weißensee nach Ostberlin. In Berlin und Teltow machte sie sich 1958 mit einer Puppenmanufaktur selbstständig.
Die Schwäbin nähte, während sich die DDR abschottete, zwei Kunstlederkugeln aneinander, setzte auf die kleinere der beiden Kugeln einen hellen Haarschopf und zwei neugierige Augen und hängte an die größere zwei Beine mit karierten Pantoffeln dran. „Schön ist er ja nicht“, soll sie gesagt haben. Prompt ging die Karriere des Kobolds stockend los. Pitti sollte zunächst Lackschuhe tragen, gerade Beine und eine Bürstenfrisur haben, doch die Puppenspieler legten Einspruch ein: „Wir hätten gern, dass er Latschen trägt, krumme Beine und eine Glatze hat, mit ein paar Haaren ganz vorn“, erinnert sich Schröder an die damaligen Diskussionen. Bis heute gilt der ostdeutsche Kobold vielen als Erfinder der gesamtdeutschen Punk-Frisur – obwohl deren soziohistorische Wurzeln viel älter sind.
Ganze Generationen von Kindern hat er seit damals zu Bett gebracht – und tut das bis heute. Zu sehen ist Pittiplatsch nicht nur jeden dritten Sonnabend zur Sandmannzeit im RBB und im MDR, sondern regelmäßig auch im KiKa. Auf allen drei Kanälen schauen wöchentlich bis zu 1,5 Millionen Menschen zu – nach Senderangaben 29,5 Prozent der 3- bis 13-Jährigen. Bedienten sich die Sender jahrzehntelang aus dem reichhaltigen DDR-Fundus, änderte sich das zum sechzigsten Jubiläum des Sandmännchens im November 2019 – im Hamburger Studio von Trikk 17 entstanden 13 neue Folgen. Die Figuren sprachen etwas schneller als früher, der Schnitt war moderner, beim Bühnenbild gab es Neuerungen, und erstmals bekam Pitti einen richtigen beweglichen Mund – wo bisher nur die unbewegliche Zungenspitze hervorlugte, konnte er nun die Lippen bewegen. Puppenbauer Norman Schneider steckte 600 Stunden Arbeit in das Design.
Der Berliner Kurier schreibt: „Pittiplatsch wird Wessi!“ Pittiplatsch, sagt die zuständige RBB-Redakteurin Anja Hagemeier der Welt, sei international. Ein Weltbürger jenseits des Koboldlandes, ein Kosmopolit im Märchenwald. „Pittis und insbesondere auch Moppis witzige Formulierungen machen einfach ganz viel von ihrem Charme aus“, sagte Autor Thomas Möller auf dem Portal DWDL. „Nur um es mal auszuprobieren, haben wir durchgespielt, wie sich die Figuren mit moderneren Ausdrücken anhören würden, und das klappte überhaupt nicht.“ Stattdessen hing über Möllers Schreibtisch eine lange Liste mit Lieblingszitaten aus alten Folgen. „Nicht, um sie zu wiederholen“, betonte er, „sondern um mich immer wieder zu ermahnen: Da geht’s lang!“ In Erfurt, dem KiKa-Stammsitz, sitzt die Kult-Figur seitdem auf einer Bank der Rathaus-Brücke und musste 2020 einen bis heute nicht aufgeklärten Säure-Anschlag überstehen.
„dann horchen sie an der Kiste“
Pitti hat wie die anderen Figuren aus dem Märchenwald auch per Merchandising seinen Weg in die Kinderzimmer gefunden, sei es als Plüschtier, Schlüsselanhänger oder Magnet-Pin. Zu DDR-Zeiten gab es gar eine Pittiplatsch-Briefmarke, einige der Fernsehgeschichten wurden auf Kassette und LP veröffentlicht. Zu Pittis 50. Geburtstag erschien eine DVD-Box. Eine sächsische Bäckereikette hat gar einen 38 cm langen Pittiplatsch als Motivtorte mit Rührkuchen und Bitterschokolade kreiert. Die nach der Wende mit dem DDR-Fernsehen abgewickelten Puppenspieler und Sprecher mit Schröder an der Spitze machten das Beste aus der Situation, gründeten das „Pittiplatsch-Ensemble“ und tourten erfolgreich mit einem Bühnenprogramm durchs Land.
Um die 400, 500 Zuschauer seien keine Seltenheit, erzählte Schröder. Der Erfolg habe auch ein bisschen mit Nostalgie zu tun: „Wenn wir in die Zuschauerreihen blicken, kommt uns oft der Gedanke, wir spielen für Große“. Kämen drei Erwachsene ohne Kinder, würden sie darauf hingewiesen, dass es sich um eine Kinderveranstaltung handele. „Spontan heißt es dann, das ist doch unsere Kindheit und wir wollen Pitti mal live sehen“. Zwei Wochen Tournee jeweils im Frühjahr, im Sommer, im Herbst und dann noch die Veranstaltungen zur Weihnachtszeit „halten jung und machen viel Spaß“, sagte Schröder 2008.
Seine letzte Figur war nach eigenen Angaben die 15. Anfertigung der Puppe. Erst die 15., ist man nach über 45 Jahren versucht zu sagen. Die Märchenwald-Figuren bestimmten auch das Spiel auf der Bühne. „Grundsätzlich halten wir es so, dass wir uns nicht vor oder während der Vorstellung zeigen. Das würde die Illusionen der Kinder zerstören. Ach, der Opa da hat das gemacht, heißt es dann möglicherweise“, meint Schröder. „Wenn die Kinder am Ende hinter die Bühne kommen und fragen, wo ist denn der Pittiplatsch, dann sage ich, der schläft schon, und dann horchen sie an der Kiste.“
Der Puppenspieler, der neben Pittiplatsch auch Herr Fuchs, Onkel Uhu, Buddelflink und andere Figuren spielte und sprach, wünschte sich zu seinem 80. Geburtstag 2008 einen großen TV-Rückblick, der an die „vielen schönen Märchenwald-Geschichten“ erinnert. Der Wunsch war ihm, dessen Spiel- und Sprechrolle sowohl im Fernsehen als auch im Bühnenprogramm 2010 der Dresdner Christian Sengewald übernahm, nicht vergönnt. Dafür ein anderer: Ebenso wie 15 Jahre zuvor in Berlin „Thaddeus Punkt“ alias Werner Fülfe mit seinem Zauberbleistift beigesetzt wurde, bekam er 2009 im brandenburgischen Schöneiche sein „Lieblingskind“ mit ins Grab gelegt.