„wir gehen jetzt dessauern“
16. Juli 2021 von Thomas Hartung
Die See seiner Wahl war die baltische. Von Berlin aus reiste er sommers von 1908 bis 1921 auf die Insel Usedom und von 1924 bis 1935 nach Deep an der pommerschen Ostseeküste nahe Kolberg, wo Skizzenzeichnungen entstanden, die er „Natur-Notizen“ nannte. „Mit ihnen schuf er sich die Grundlage für das Kapital, aus dem er bis zu seinem Tode künstlerisch schöpfte“, so der Kunsthistoriker Ulrich Luckhardt in der Welt. Die Zuneigung zur Ostsee blieb auch in seiner Geburtsstadt New York lebendig, in die der amerikanische Staatsbürger 1937 remigrierte.
Im selben Jahr beschlagnahmten die Nazis in den deutschen Museen 410 Werke des Künstlers, zeigten acht Gemälde und mehrere Grafiken als „Entartete Kunst“. „Ich fühle mich 25 Jahre jünger, seit ich weiß, dass ich in ein Land gehe, wo Phantasie in der Kunst und Abstraktion nicht als absolutes Verbrechen gelten wie hier“, schrieb Feininger vor der Abreise seinem Sohn. „Hier male ich seither anders, aber nicht besser“, befand er dennoch in seinem Todesjahr: Lyonel Charles Adrian Feininger, der am 17. Juli 1871 in New York als Kind zweier angesehener deutscher Musiker zur Welt kam.
Der Sohn eines Konzertgeigers und einer Pianistin reiste mit 16 Jahren mit seinen Eltern, die auf Konzerttour waren, erstmals nach Deutschland. Er sollte dort am Leipziger Konservatorium Musik studieren, um auch Geiger zu werden. Doch bereits auf der Überfahrt änderte der junge Feininger seine Pläne, da ihm das reine Reproduzieren von Musik auf dem Instrument nicht genügte. Mit väterlicher Erlaubnis durfte er die Kunstgewerbeschule Hamburg besuchen. Am 1. Oktober des folgenden Jahres bestand er die Aufnahmeprüfung der Königlichen Akademie in Berlin. Er fing früh an, für Verleger und Zeitschriften zu zeichnen. 1892 nahm er ein Studium an der Pariser Académie Colarossi auf, die vom italienischen Bildhauer Filippo Colarossi gegründet worden war.
Nach siebenmonatigem Aufenthalt in Paris kehrte er 1893 nach Berlin zurück, wo er als freier Illustrator und Karikaturist für Zeitschriften wie Harpers Young People, Humoristische Blätter, Ulk, Das Schnauferl und Die Lustigen Blätter tätig wurde. Seine Themen variierten zwischen harmlosen Witzbildern und politischen Karikaturen, deren Themen allerdings von den Redakteuren der Blätter vorgegeben wurden, für die er arbeitete. Sein Interesse galt ohnedies mehr der künstlerischen Ausarbeitung dieser Sujets, und sein graphischer Stil orientierte sich zunehmend an Fläche und kantigen Konturen mit deutlichem Hang zur Groteske, was ihm schon um die Jahrhundertwende in der Kritik erste Beachtung einbrachte.
„neue Weltperspektive“
1901 heiratete Feininger die Pianistin Clara Fürst und bekam mit ihr die Töchter Leonore und Marianne. Nachdem er 1905 die Liebe seines Lebens, die jüdische Künstlerin Julia Berg kennengelernt hatte, die an der Großherzoglichen Kunstschule Weimar studierte, trennten sich beide von ihren Familien. Zusammen reisten sie 1906 nach Paris, wo Sohn Andreas zur Welt kam, später ein bekannter Fotograf. Feininger schloss mit der Chicago Sunday Tribune einen Vertrag über zwei kurzlebige Comic-Serien, darunter „Wee Willie Winkie’s World“, eine traumhafte Serie von kurzen Bildergeschichten mit Prosatexten, in denen die Metamorphosen diverser Landschaften aus der Sicht eines kleinen, phantasievollen Jungen geschildert werden. Häuser bekommen Gesichter, Bäume, Wolken werden zu phantastischen Gestalten, Naturgeistern gleich, und Gegenstände rund um den Kamin stecken plötzlich voller Leben. Sie wird heute zu den Klassikern des Genres gezählt. 1908 heirateten Lyonel und Julia, ließen sich in Berlin nieder und bekamen zwei weitere Söhne, Laurence und Theodore Lux, der ebenfalls ein erfolgreicher Maler wurde und vor 10 Jahren 101jährig starb.
1909 wurde er Mitglied der „Berliner Secession“, die in jenem Jahr mit 97 Mitgliedern, darunter Max Beckmann, Ernst Barlach und Wassily Kandinsky, ihren künstlerischen Höhepunkt erreichte. In dieser Zeit kam er erstmals mit dem Kubismus in Berührung, lernte die Künstlergruppe „Brücke“ kennen, stellte seine ersten architektonischen Kompositionen her und nahm gemeinsam mit den Künstlern des „Blauen Reiter“ 1913 auf Einladung von Franz Marc am Ersten Deutschen Herbstsalon teil. Zugleich verlässt er die Secession wieder.
Als Mittdreißiger verhältnismäßig spät wandte er sich ausschließlich der Malerei zu und entwickelte, ausgehend von seinen Karikaturen, einen sehr markanten Malstil, der Objekte abstrahiert und gestalterisch überhöht. Nach der ersten großen Einzelausstellung in Herwarth Waldens Galerie „Der Sturm“ zieht er sich 1918 mit seiner Familie aufgrund der schwierigen Situation als amerikanischer Staatsbürger am Ende des Ersten Weltkriegs nach Braunlage (Harz) zurück.
Hier legt er bis 1920 sein einzigartiges Holzschnittwerk von über 300 Drucken an. Neben dem Erfindungsreichtum der Motive verblüfft vor allem die Radikalisierung der Bildsprache, für die auch die Zeichnungen seiner Söhne eine inspirierende Rolle spielen. Kinder erreichen sofort, wonach die damalige Avantgarde sucht – eine von Vorwissen unverdorbene Wahrnehmung der Welt. Kinder zeichnen nie „richtig“ im Sinne einer korrekten Wiedergabe, sondern begnügen sich mit dem, was ein Motiv in ihren Augen „vollständig“ macht. Fluchtpunkt und Tiefenraum haben für sie keinen Sinn, sie denken konsequent in der Fläche und bevorzugen die Bedeutungsperspektive. Darum zeichnen sie das Wichtige groß und das Nebensächliche klein. Zum Vorschein kommt das Paradox einer gegenständlichen Naturferne. Sie ist künstlerisch genau das, was Feininger die „neue Weltperspektive“ nannte. Ihr Ziel ist, die konkrete Form des Gesehenen in der abstrakten Bildgesetzlichkeit zu klären.
1919 unterschreibt Feininger das Programm des „Arbeitsrats für Kunst“, der versucht, die Novemberrevolution 1918 auch auf den Bereich der Kunst auszudehnen. Zugleich beruft ihn Walter Gropius als ersten Lehrer, nämlich „Meister der Formlehre“ und Leiter der Druckwerkstätten, ans Bauhaus in Weimar. Auf dem Titelblatt des Bauhausmanifests von 1919 ist sein Holzschnitt „Kathedrale” abgebildet. Besonders das Weimarer Land, aus dem Julia stammte, mit Dörfern wie Oberweimar, Vollersroda und Gelmeroda, die er mit dem Fahrrad erkundete, fesselten seine Phantasie.
Vor allem tat es ihm die kleine gotische Dorfkirche von Gelmeroda an, die er in unzähligen Naturnotizen und Gemälden festhielt und die zum Symbol einer romantisch verklärten Märchenwelt wurde, die er in seine anderen Werke einfließen ließ und die von seltsam überlängten und historisch gekleideten Menschen bevölkert sind. Etwa seit Anfang der 1920er Jahre erschienen Städte und Dörfer im Lichte einer eingefrorenen Weltentrücktheit und Spiritualität und bezeichnen Feiningers romantische Hinwendung zu einer Welt, die durch Massengesellschaft und Industrialisierung vor dem Untergang stand und nur noch in einer illusionären „Traumstadt“ zu finden war.
„einfach wonnig“
1923 hatte er eine große Ausstellung in New York und gründete im Jahr darauf mit Kandinsky, Paul Klee und Alexej von Jawlensky die Künstlergemeinschaft „Die Blaue Vier“, die 1925 wiederum in New York ihre erste große Ausstellung hat. „Es hat ausgeweimart, meine Herren, wir gehen jetzt dessauern“ schrieb er im selben Jahr in einem Brief an Julia. Gemeint war der bevorstehende Umzug des Bauhauses nach Dessau, nachdem es in Weimar infolge von Eingaben der thüringischen Handwerkerschaft und des deutsch-völkischen Blocks im Thüringer Landtag geschlossen worden war.
Im Jahr der Eröffnung 1926 waren die Meisterhäuser fertiggestellt worden, auch Feininger konnte mit seiner Familie eine der Doppelhaushälften beziehen. Die anfänglichen Vorbehalte, die er gegenüber deren Architektur hatte, waren bald verflogen: „Ich sitze hier auf unserer Terrasse, die einfach wonnig ist“, schrieb er begeistert. Allerdings ließ sich Feininger auf eigenen Wunsch von sämtlichen Lehrverpflichtungen am Bauhaus entbinden, blieb aber bis 1932 auf Drängen Gropius‘ „Meister“. In dieser Zeit entstanden unter anderem seine vielgerühmten Stadtansichten von Halle.
Trotz seiner Erfolge als Maler und Lehrer ließ die Musik Feininger nie los. Als Autodidakt am Klavier lernte er das „Wohltemperierte Klavier“ von Johann Sebastian Bach kennen, den er glühend verehrte. Durch hartnäckiges Üben – oft mehr als sechs Stunden am Tag – konnte er bald alle 48 Präludien und Fugen auswendig spielen und von jedem beliebigen Ton aus transponieren. Er komponierte von 1921 bis 1927 dreizehn Fugen, drei für Klavier und zehn für Orgel. 1924 wurde zum ersten Mal ein Stück von ihm im Meistersaal des Bauhauses öffentlich präsentiert. Der Erfolg dieser Aufführung bestärkte ihn darin, weiter „auf autodidaktischem Wege Musik zu gestalten“.
Im Sinne einer gegenseitigen Durchdringung der Künste versuchte Feininger aber auch, die „vielstimmig aufeinander bezogene Komplexität und gleichzeitige Durchschaubarkeit“ der Bach’schen Kompositionen auf seine Malerei zu übertragen und eine „klare Raumgestaltung“ sowie thematische und formale Bezüge innerhalb der Bilder herzustellen. Besonders das Konstruktivistische und Architektonische in seinem Malstil lässt sich aus seiner intensiven Beschäftigung mit dem musikalischen Kompositionsprinzip der Fuge herleiten. Es sollte bis zu seinem 50. Todestag 2006 dauern, da erstmals eine CD mit seinen Orgelfugen erschien, interpretiert von neun verschiedenen Organisten.
Feininger reist 1936 für eine Lehrtätigkeit am „Mills College“ in Oakland (Kalifornien) erstmals in die USA, kehrt aber Ende des Jahres zunächst nach Berlin zurück. Zuvor hatte er den promovierten Juristen und Bauhaus-Studenten Hermann Klumpp kennengelernt und sich mit ihm angefreundet. Klumpp hat dann 64 Feininger-Bilder gerettet und nach Quedlinburg überführt, nachdem er dem Ehepaar geholfen hatte, am 11. Juni 1937 Deutschland in Richtung USA zu verlassen. Feininger arbeitete als freier Maler in New York und entwirft 1939 Wandbilder für die Weltausstellung in New York. Während die ersten Exilbilder noch stark von den Erinnerungen an die Heimat Deutschland geprägt sind, werden die Wolkenkratzer Manhattans in den folgenden Jahren zu seinem neuen Bildmotiv.
1944 stellte er eine Retrospektive im Museum of Modern Art aus, wurde 1947 zum Präsidenten der Federation of American Painters und Sculptors gewählt und ein Jahr vor seinem Tod zum Mitglied des National Institute of Arts and Letters ernannt. Feininger beteiligte sich 1953 an der dritten Jahresausstellung des Deutschen Künstlerbundes in Hamburg sowie 1955 der ersten „documenta“ und stellte auch in Frankfurt, Baden-Baden und Düsseldorf aus. Er entwirft ein Wandbild für den Passagierdampfer „Constitution“ und malt zuletzt vor allem Aquarelle. Am 13. Januar 1956 starb er in New York und wurde dort auch begraben. Seine Frau wird ihn um 14 Jahre überleben. Neben Radwegen auf Usedom und in Thüringen wurde ein Asteroid nach ihm benannt und eine Sondermarke der Deutschen Post für ihn aufgelegt.
„ein Versäumnisurteil erlassen“
Sein Erbe führte allerdings noch zu einer kulturpolitischen Posse zwischen der DDR und den USA. Denn sind die 64 geretteten Bilder Klumpps Eigentum oder gehören sie Feiningers Söhnen? Darüber wurde seit 1971 am Bezirksgericht Halle verhandelt. Das Urteil 1976 ist eindeutig: Die überwiegende Mehrheit der Bilder gehört den Amerikanern. Doch inzwischen haben sich die DDR-Behörden eingeschaltet. Als „schützenswertes Kulturgut“ dürfen sie nach DDR-Recht nicht außer Landes gebracht werden.
1983 platzt den amerikanischen Anwälten der Geduldsfaden: Sie verklagen die DDR vor einem New Yorker Gericht. DDR-Außenminister Oskar Fischer richtet folgende Worte an das SED-Politbüro: „Geht dem Gericht eine termingerechte Erwiderung nicht zu, kann ein Versäumnisurteil erlassen sowie Antrag auf Zwangsvollstreckung gestellt werden.“ Nun kommt endlich Bewegung in die Verhandlung. Die Amerikaner geben ein wenig Raubkunst von 1945 zurück und Feiningers Söhne bekommen ihr Erbe.
Hermann Klumpp jedoch gerät mit den ihm verbliebenen Werken in die Zwickmühle: Solche Kulturschätze in privater Hand sind dem Kulturministerium ein Dorn im Auge. In einer internen Vorlage des Amtes für Rechtsschutz heißt es: „Klumpp ist nicht bereit, mit staatlichen Institutionen zur Sicherung und Nutzung der Sammlung zusammenzuarbeiten.“ Schließlich gelingt es doch: der Rat des Kreises Quedlinburg gründet 1986 die Lyonel-Feininger-Galerie und Hermann Klumpp übereignet ihr seine Sammlung. Als wenige Tage nach Feiningers 30. Todestag die Feininger-Galerie in der Domstadt eröffnet wird, erinnerte eine Gedenktafel auch an ihn. Das Museum ist seit 2014 Teil der Kulturstiftung Sachsen-Anhalt, beherbergt einen der weltweit umfangreichsten geschlossenen Bestände von Grafiken, Radierungen, Lithografien und Holzschnitten des Künstlers und ist zudem das einzige Feininger-Museum in Europa.