Wegbereiter der Moderne
30. Juni 2021 von Thomas Hartung
Er ist kein Weltmann, sondern Beamter der drittletzten Stufe, Geheimer Justizrat im Dienst des Hannoverschen Hofs; ein blasser, leicht unbeholfener, schnell verlegener Einzelgänger. Er hat keine Frau und keine engeren Freunde, und die Mahlzeiten, die er sich aus dem Gasthaus kommen lässt, verzehrt er meist allein auf seinem Zimmer. Seine Stimme ist hoch und dünn, sein Blick kurzsichtig, seine Füße und Finger zu lang für seinen Geschmack. Und sein gesamter Leib scheint nicht zur Bewegung gemacht. Doch dieser einsame Mann steht mit ganz Europa in Verbindung. Er hat Audienzen bei Fürsten, bei zwei deutschen Kaisern und dem russischen Zaren. Er korrespondiert mit 1100 Partnern in 16 Ländern, denen er mehr als 15 000 Briefe schreibt – die heute UNESCO-Weltdokumentenerbe sind.
In diesem unablässigen Austausch bewegt er seine Gedanken und hält sie zugleich fest – gedruckte Bücher veröffentlicht er zu Lebzeiten nur wenige. In einer Zeit der wissenschaftlichen Explosion, in der die Kenntnisse in unerhörtem Maß anwachsen, ist er der wohl letzte Universalgelehrte – der „intelligenteste Mensch seiner Epoche“, wie ihn ein Biograf rühmen wird. Er verschwendet sich als Doktor der Rechte, Philosoph und Forscher, als Mathematiker und Erfinder, arbeitet als Techniker, Physiker, Historiker und Bibliothekar, wirkt als Diplomat, Sprachwissenschaftler und Theologe. Denn nur wer sich überall auskennt, kann das Entlegenste miteinander verknüpfen: „Wer nur an einer Sache arbeitet, entdeckt selten etwas Neues.“
So findet er, was seine Zeitgenossen nicht einmal suchen. Er entwickelt Theorien zu Archäologie und Sprachgeschichte, aber auch eine Vorform des Dübels und einen gefederten Sitz für lange Kutschfahrten sowie eine revolutionäre mechanische Rechenmaschine mit Staffelwalze und Zahnrad – die zwar vorerst nur vorübergehend funktioniert, deren Bauprinzip sich jedoch fast 300 Jahre nach seinem Tod als fehlerfrei erweisen wird. Zudem formuliert er die „Dyadik“, die sämtliche Zahlen mit den Ziffern 1 (Gott) und 0 (nichts) ausdrückt, und legt so die Grundlagen für die digitale Rechenweise des Computers. Er entdeckt auch eine Methode zur Beschreibung von Kurven, die als Infinitesimalrechnung die Mathematik umwälzen wird und ohne die weder Raketen noch Smartphones denkbar wären.
Doch eigentlich geht es ihm immer und immer wieder vor allem um eines: die Harmonie. Denn „Glück“, schreibt er, beruhe auf „höchstmöglicher Harmonie“. Und weil Harmonie, so seine Definition, „die Vollkommenheit des Denkbaren“ sei, führten nur das Denken und das Wissen zuverlässig zu diesem Ziel – zur „Harmonie des Geistes“ und schließlich zur Erkenntnis jener „Universalharmonie“, die in Gottes Schöpfung wirke. Und weil die Harmonie seiner Ansicht nach nur durch das Denken entstehen kann, schafft er sie in seinem Kopf – mit den Werkzeugen der Logik will er diese verrückt gewordene Zeit in die Bahn bringen: Gottfried Wilhelm Leibniz, der am 1. Juli 1646 in Leipzig zur Welt kam.
„nach meinem eigenen Willen“
Schon vor der Einschulung mag das Professorenkind lieber lesen als spielen, unterhält sich besser mit Büchern als mit gleichaltrigen Freunden. Und dass sein Vater stirbt, als er sechs ist, sieht er im Rückblick nicht als Trauma, sondern als Chance: Nur so kann er ohne elterliche Vorgaben lernen, was ihm gefällt, und „auf viele Dinge kommen, an die ich sonst nimmermehr gedacht hätte“. Mit acht Jahren besucht er nicht nur die Nikolaischule, sondern wälzt nebenbei den altrömischen Historiker Livius – und erschließt sich die lateinische Sprache ohne Wörterbuch, nur anhand der Holzschnitt-Abbildungen, mit denen die Bücher verziert sind. Mit neun stürzt er sich auf die Kirchenväter, die Logik des Aristoteles und die Metaphysik der Scholastik. Mit zwölf denkt er erstmals über eine „Art Alphabet der menschlichen Gedanken“ nach: Ein Arsenal aus klar definierten, als Zeichen darstellbaren Grundbegriffen, die sich eindeutig und nachvollziehbar zu gedanklichen Urteilen kombinieren lassen.
Auch als er mit 17 in Leipzig das Studium der Rechtswissenschaft beginnt, findet er noch genug Energie, sich nebenher in allerlei wissenschaftlichen Disziplinen auszuprobieren – und zwar ausschließlich „nach meinem eigenen Willen“. 1666, noch im Alter von 19 Jahren, veröffentlichte Leibniz sein erstes Buch „Über die Kunst der Kombinatorik“, mit dessen erstem Teil er in Jena in Philosophie promoviert wurde. Die Professur, die ihm die Universität Nürnberg mit 21 Jahren anbietet, lehnt er selbstbewusst ab: Er will sich nicht im akademischen Betrieb einmauern: Sein Leben lang wird er keinen Hochschulposten bekleiden. Stattdessen trat er in den Dienst des Mainzer Erzbischofs Johann Philipp von Schönborn. Er arbeitete an einer Reform des römischen Rechts und veröffentlichte zwei Traktate zur Physik. 1672 reiste Leibniz auf eigenen Wunsch nach Paris, wo er dem Sonnenkönig Ludwig XIV. einen Plan für einen Eroberungsfeldzug gegen Ägypten unterbreiten wollte, um ihn von den geplanten Eroberungskriegen in Europa abzubringen. Doch Ludwig hatte längst beschlossen, in die Niederlande einzumarschieren – und Leibniz traute sich nicht, den Plan zu übergeben. Über einhundert Jahre später jedoch wird ihn Napoleon Bonaparte in seiner Ägyptischen Expedition umsetzen.
Aber eigentlich würde er gern sein Wissen mit vollen Händen verteilen, meint Jörg-Uwe Albig in Geo Epoche. Pädagogische Erlebnisparks „zum leichteren Erlernen aller Dinge“ malt er sich aus, mit Laternae magicae, künstlichen Meteoriten, nachgestellten Land- und Seeschlachten sowie den berühmten Vakuumkugeln des Magdeburger Bürgermeisters Otto von Guericke, deren Hälften 32 Pferde nicht auseinanderzerren konnten. Er stellt sich öffentliche Bluttransfusionen vor, Shows mit Rechenmaschinen und Artisten, die durch Schreie Glas zerspringen lassen. Solches Infotainment, wie wir heute sagen würden, könnte den Menschen die Welt der Vollkommenheit näherbringen, sprich: der Harmonie. Unermüdlich und auf allen Ebenen bemüht er sich um diese Harmonie, verhandelt mit protestantischen Kirchenmännern und katholischen Bischöfen um die Einheit der Konfessionen, tüftelt weiter an seinem universalen Zeichensystem.
Am liebsten möchte er in die Politik: Mitmachen, an den Hebeln ziehen, die Geschicke der Nationen beeinflussen – oder wenigstens die der Kleinstaaten, die in Deutschland um Macht und Prestige rangeln. Meist bleibt es aber nur bei Projekten, großen Entwürfen. Er schmiedet Pläne für einen Reichsbund deutscher Fürsten, die niemand umsetzen will. Um Geld zu verdienen, verfasst Leibniz juristische Gutachten und dient sich 1673 sogar, mit einer Spottschrift auf Ludwig XIV., dem Kaiser in Wien für einen Posten als Hofsatiriker an. Doch ein Beamter richtet ihm aus, Majestät beschäftige bereits einen spaßigen Bibliothekar, es bestehe kein weiterer Bedarf. 1676 nimmt er das Angebot des Herzogs Johann Friedrich von Braunschweig-Lüneburg an, in der Residenz Hannover als Rechtsbeistand und Bibliothekar zu dienen – allerdings erst nach langem Zögern, denn Hannover ist tiefe Provinz: Ein Nest mit kaum 10 000 Einwohnern, erst 40 Jahre zuvor zur fürstlichen Residenz avanciert.
„mein Besonderer“
Johann Friedrich ist ein rachsüchtiger, auf den ersten Blick wenig einnehmender Mensch, selbst seine Mutter findet ihn hässlich, „abscheulich dick, dabei viel kürzer als die anderen“. Auch ein Mann des Geistes ist er nicht: Viel mehr als Bücher interessiert ihn seine kostspielige Armee. Leibniz, den Intellektuellen, hält sich der Fürst eher zu seinem Amüsement. Er bringt ihn in einer Kammer der Bibliothek unter, wo der Gelehrte zunächst fürchtet, er sei zu einer wahren „Sisyphusarbeit der Gerichtsgeschäfte“ verdammt, doch tatsächlich lässt Johann Friedrich ihm reichlich Zeit, seinen mathematischen, naturwissenschaftlichen und philosophischen Einfällen zu folgen.
Manchmal darf er dem Herzog auch seine Ideen vortragen. Dann begibt sich Leibniz zum „Audienzbett“, in dem Johann Friedrich ab acht Uhr morgens seine Tage verbringt, und präsentiert ihm Entwürfe für Verschlüsselungsmaschinen, Pläne zur Mechanisierung der Seidenproduktion, zur Verwaltungsreform, zu Ackerbau und Manufakturwesen. Er unterbreitet ihm ein gigantisches Programm zur Datensammlung, schlägt Mikrokredite für Arme vor, Versicherungen gegen Flut und Feuer und für Hinterbliebene. „Mein Guter“, ächzt der Fürst dann, „mein Besonderer“, und will von den Plänen meist doch nichts wissen. Nur der Vorschlag seines Hofgelehrten, die Bergwerke im Harz mit Windkraft zu entwässern, stößt bei Johann Friedrich auf Interesse. Doch die Leibniz’schen Windmühlen sind zu schwach, und auch Wind und Wetter nicht verlässlich auf seiner Seite. Zudem sabotiert das Bergamt den wunderlichen Quereinsteiger, der sich kaum unter Tage wagt, „wo ich mich selbst nicht sehen könnte“. Viele seiner Ideen werden heute noch im Bergbau eingesetzt wie etwa die Endlosförderkette oder die konische Seiltrommel.
Als Johann Friedrich 1680 stirbt und dessen Bruder Ernst August in Hannover das Regiment übernimmt, verschlechtert sich die Stellung des Gelehrten noch weiter. Der neue Fürst kürzt Leibniz den Etat für die Bibliothek von 1500 auf nicht einmal 100 Taler pro Jahr. Dafür spannt er ihn als PR-Manager ein, lässt ihn Erbansprüche wie den Gewinn der britischen Königskrone 1714 legitimieren und Glückwunschgedichte verfassen. Und erteilt ihm den Auftrag, eine umfassende Geschichte des Welfenhauses zu erstellen, dem der Herzog angehört. Immerhin darf der Forscher für diese Arbeit reisen. Auf der Suche nach den Wurzeln seines Chefs durchkämmt er Süddeutschland und Österreich, durchquert Italien bis nach Rom und Neapel. Und es gelingt ihm sogar, in Wien eine Audienz bei Kaiser Leopold I. zu erhaschen, ihm Pläne zur Münzreform vorzulegen, zur Finanzierung der Türkenkriege, zum Aufbau eines Reichsarchivs. Doch der Kaiser nickt nur gnädig – und wendet sich anderen Dingen zu. Die Welfengeschichte bleibt unabgeschlossen, aber an politischen Erfolgen der Hannoveraner Welfen wie der Erhebung in den Kurfürstenstand 1692 war Leibniz beteiligt.
Es erscheint wie ein Glücksfall, dass sich Sophie Charlotte, die hochgebildete Tochter von Ernst August und Gattin des brandenburgischen Kurfürsten Friedrich III., für Berlin ein Observatorium wünscht, so wie bereits in Paris eins steht. Leibniz wittert eine Chance. Darf es nicht vielleicht eine ganze Akademie sein: ein Haus für die Mathematik und Medizin, für Botanik und Bergbau, Astronomie und Architektur, Physik und Chemie? Diese „Societät“, so schwebt ihm vor, soll nicht nur dienen, sondern regieren. Eine sanfte Diktatur des Geistes soll sie sein, eine Wissensbehörde, ein Superministerium, das nach und nach den ganzen Staat übernähme – und schließlich den Erdkreis: Beherrschte eine solche Institution erst einmal „mehr als die Hälfte der Welt“, hätten auch Krieg und Gewalt ein Ende. Immer wieder reist er nach Berlin, umgarnt die Kurfürstin mit seinem Scharfsinn, bis die schließlich bekennt, seine „Schülerin“ zu sein. Und 1700 bewilligt Friedrich III. tatsächlich die Akademie: mit Leibniz als Präsidenten, allerdings ohne Budget. Der Gelehrte sucht Mitglieder zusammen, doch findet er eher Dilettanten als Genies. Das Projekt verebbt in Bedeutungslosigkeit.
„als eigenes Verdienst angeeignet“
Immer klarer entwickelt er jetzt eine Philosophie, die seiner Sehnsucht nach Harmonie das theoretische Rüstzeug verschafft, die nicht einfach Metaphysik ist, sondern „sozusagen gänzlich Mathematik“. In seiner „Theodizee“, dem umfangreichsten Werk, das er je publiziert, unternimmt er nicht weniger als die Verteidigung Gottes mit den Mitteln der Logik: Er besteht darauf – dem Irrsinn der Europa immer wieder erschütternden Kriege zum Trotz -, dass der Gang der Dinge so vernünftig ist wie Algebra. „Indem Gott rechnet und seinen Gedanken ausführt“, so schreibt er, „entsteht die Welt.“ Nichts in ihr geschehe ohne zureichenden Grund. Und so sei sie vielleicht nicht uneingeschränkt gut – aber doch die „beste aller möglichen Welten“: die einzige logische Option, die dem rechnenden Gott zur Auswahl stand. Der Satz wurde vielfach missverstanden und missinterpretiert.
Während sich der Gelehrte noch im Glanz seines wachsenden Ruhms sonnt, pocht der hannoversche Fürst Georg Ludwig, der 1698 seinem Vater Ernst August nachgefolgt ist, immer wieder auf die Erfüllung der Dienstpflichten. Allmählich, so kolportiert jedenfalls ein hannoverscher Gesandter am Kaiserhof in Wien, habe Georg Ludwig genug von den „unendlichen Korrespondenzen“ seines Untertanen, dessen „Hin- und Wiederreisen“, dessen „unersättlicher Kuriosität“. Der Herrscher argwöhnt, Leibniz habe „entweder kein Talent oder keine Lust“, eine Aufgabe „zusammenzubringen oder zu beenden“. Leibniz fügt sich in die Pflicht, die er seinem Fürsten schuldet, auch wenn sie ihn zwingt, wie er klagt, „alle mathematischen, philosophischen und juristischen Überlegungen, zu denen ich mich hingezogen fühle, zurückzustellen“.
Und als wären diese profanen Belästigungen noch nicht genug, eskaliert auch noch ein großer Gelehrtenstreit um die Infinitesimalrechnung. Für Leibniz ist der Fall klar: 1684 hat er in einer Wissenschaftszeitschrift erstmals die wesentlichen Elemente seines „Calculus“ publiziert. Erst drei Jahre später hat Isaac Newton in seiner Schrift „Mathematische Grundlagen der Naturphilosophie“ öffentlich nachgezogen. Doch seit Langem lancieren die Anhänger des Mannes aus Cambridge den bösen Verdacht, in Wahrheit sei der Brite der Erste gewesen. Leibniz habe einfach nur zwei Briefe ausgewertet, in denen Newton dem Deutschen seine neue Methode dargestellt habe – und die mit leicht veränderten Begriffen als eigene Leistung ausgegeben. Bald tobt der Zwist um die mathematische Erstgeburt.
1712 nimmt sich eine Untersuchungskommission der Londoner „Royal Society“ des Falls an, der angesehensten Wissenschaftsinstanz weltweit. Binnen nur 50 Tagen kommt sie zu dem Schluss, dass „Mr. Newton der erste Erfinder“ der „differenziellen Methode“ sei. Präsident der Society: Isaac Newton. Autor des Abschlussberichts: Isaac Newton. Leibniz wankt unter diesem Schlag. Gekränkt lässt er sich zu einem Flugblatt hinreißen, das er anonym in der Mathematiker-Gemeinde zirkulieren lässt: In Wirklichkeit sei Newton derjenige, der „sich die Ehre eines anderen als eigenes Verdienst angeeignet hat“ – und seine Unterstützer nichts als „Schmeichler“, erfüllt von „Eitelkeit“ und „Ungerechtigkeit“.
Urvater der Kybernetik
Leibniz peinigen jetzt auch noch Gicht und offene Beine, die er der Überlieferung nach mit Löschpapier trocknet. Als der Universalgelehrte am 14. November 1716 stirbt, fast gelähmt, ohne Frau und Familie, prahlt sein Gegner Newton einem späteren Bericht zufolge, er habe des Kontrahenten „Herz gebrochen“. Und anders als der Brite, dessen Sarg 1727 Herzöge und viele Tausend Anhänger begleiten werden, verlässt Gottfried Wilhelm Leibniz die Welt halb vergessen. Zu seinem Begräbnis erscheint gerade ein einziges Mitglied der Beamtenschaft: Hofrat Johann Georg von Eckhart. Auf dem Sarg aber prangen, in silbernem Zinn auf schwarzem Samt, die Eins und die Null seiner Dyadik – Eckhart hatte sie anbringen lassen.
In der Wohnung des Toten finden sich Hunderttausende beschriebener Blätter und Zettel, darunter viele fast fertige, doch unveröffentlichte Manuskripte – die der hannoversche Herrscher eilig konfiszieren lässt, um darin womöglich enthaltene Hofgeheimnisse zu schützen. Die entdeckte man zwar nicht, dafür aber Pläne für ein Unterseeboot, zur Verbesserung der Technik von Türschlössern oder ein Gerät zur Bestimmung der Windgeschwindigkeit. Seine Monadentheorie gab dem Atomismus der antiken Philosophen neue Impulse. Er gilt auch als Begründer der Indogermanistik. Angeblich wurde er Ende 1711 von Kaiser Karl VI. geadelt und in den Freiherrenstand erhoben; es fehlt allerdings die entsprechende Urkunde.
Der Streit aber, wer denn nun die Infinitesimalrechnung erfunden hat, kommt durch den Tod der zwei Genies noch lange nicht zur Ruhe. Mehr als zwei Jahrhunderte lang dauert er an, und erst 1949 wird ein Mathematikhistoriker Leibniz endgültig rehabilitieren: Der sei zwar nach Newton als Zweiter, doch völlig selbstständig zu der bahnbrechenden Methode gelangt. Zudem hat Leibniz die eleganteren Zeichen und Begriffe gefunden; daher rechnet schon bald fast die ganze gelehrte Welt mit seinen Symbolen – außer den Engländern, die mit ihrem unhandlichen Werkzeug so für mindestens ein Jahrhundert den Anschluss an die Entwicklung der Mathematik verpassen.
Den unterlegenen Leibniz aber wird man lange nach seinem Tod als Urvater von Kybernetik und Computer verehren, als Propheten des Siegeszugs formaler Logik, kurz: als Wegbereiter der Moderne. Ein Zusammenschluss deutscher Forschungsinstitute unterschiedlicher Fachrichtungen mit Sitz in Berlin nennt sich Leibniz-Gemeinschaft. Der Supercomputer HLRN-III des Norddeutschen Verbunds für Hoch- und Höchstleistungsrechnen am Standort Hannover ist nach ihm benannt. Universitäten, Straßen und bedeutende Wissenschaftspreise tragen seinen Namen, ein Asteroid, ein Mondkrater, ein Berg im Pamirgebirge – und nicht zuletzt der Keks der „Hannoverschen Cakes-Fabrik H. Bahlsen 1891“.