„Früher war mehr Lametta“
21. August 2021 von Thomas Hartung
Die eigentlich massentauglich erdachte Idee war auch online gut: der 1. Mopslauf des VfL Brandenburg Anfang April. Dabei sollten Kinder, Jugendliche, Rentner, ja ganze Familien alle 27 in den vergangenen Jahren „ausgewilderten Waldmöpse“ (sprich aufgestellten Bronzemöpse) in einem sieben Kilometer langen Parcours erlaufen, denn: „Ein Leben ohne Möpse ist möglich, aber sinnlos“, wie der aus der Havelstadt stammende deutsche Jahrhunderthumorist wusste. Dabei war er Werbung zeitlebens abgeneigt. Als ihn der Macher der FAZ-Kampagne „Dahinter steckt immer ein kluger Kopf“, Sebastian Turner, um eine Mitwirkung anfragte, winkte er ab. Turners Idee: Wenn er keine Werbung für ein Produkt mache, warum dann nicht dagegen? Er willigte ein. Das Motiv zeigt ihn auf einem Sofa liegend, eingeschlafen, die FAZ über dem Gesicht.
Seine Alleinerbinnen lehnten auch gegen jede Art Promotion mit ihm ab. Eine Firma vertrieb T-Shirts mit dem Satz „Früher war mehr Lametta“; dagegen gingen sie vor. Schon das Landgericht München hatte eine einstweilige Verfügung gegen den Hersteller zurückgewiesen, die nächste Instanz diesen Beschluss nun bestätigt. Seine Besonderheit und Originalität erfahre der Satz durch die „Einbettung in den Fernsehsketch ‚Weihnachten bei den Hoppenstedts‘ und die Situationskomik“. Blende man dies aus, handle es sich um einen „eher alltäglichen und belanglosen Satz“. Die Entscheidung ist rechtskräftig. Anders sah das mit seinen Kreationen aus: Ab Mitte der 1950er Jahre war er etwa für Paderborner Bier, Agfa, den Weinbrand Scharlachberg („Nimm’s leicht“) und die Tabakmarke Stanwell („Drei Dinge braucht der Mann“) aktiv. In Anzeigen und Trickfilmspots kamen seine Knollennasenmännchen zum Einsatz und gewannen mehr und mehr an Popularität.
Manche Dialoge gingen nicht nur in die deutsche Medien-, sondern auch Sozialgeschichte ein, etwa die Frühstücksepisode „Das Ei ist hart“, die die Bundespost mit einer eigenen Briefmarke adelte:
Sie: „Ich nehme es nach viereinhalb Minuten heraus, mein Gott.“
Er: „Nach der Uhr oder wie?“
Sie: „Nach Gefühl. Eine Hausfrau hat das im Gefühl.“
Er: „Aber es ist hart. Vielleicht stimmt da mit deinem Gefühl was nicht.“
Der Sketch von 1977 schloss mit den ebenfalls legendären Sätzen: „Ich bringe sie um. Morgen bringe ich sie um.“ Der geniale Schöpfer dieser und vieler anderer Szenen, der freischaffende Zeichner, Autor, Regisseur, Moderator, Kostüm- und Bühnenbildner sowie Schauspieler Bernhard-Viktor Christoph Carl „Vicco“ von Bülow, der sich nach dem Wappentier seiner Familie, dem französischen Wort für Pirol, seit ca. 1950 „Loriot“ nannte, starb am 22. August 2011 in Ammerland bei Bad Tölz.
„seit Jahren täglich eine Flasche Wein“
Die Familie, ein altes mecklenburgisches Adelsgeschlecht mit gleichnamigem Stammhaus im Dorf Bülow bei Rehna, beginnt mit Godofridus de Bulowe (1229); der Name wird erstmals bei der Grundsteinlegung des Ratzeburger Doms 1154 urkundlich erwähnt. Zu seinen Verwandten zählt Reichskanzler Bernhard von Bülow. Geboren am 12. November 1923 als Sohn eines Polizeileutnants, lassen sich seine Eltern schon 1928 scheiden, so dass Vicco mit seinem ein Jahr jüngeren Bruder bei Großmutter und Urgroßmutter in Berlin und ab 1933 wieder beim erneut verheirateten Vater aufwächst und bis 1938 das Schadow-Gymnasium in Berlin-Zehlendorf besucht. Schon zu Schulzeiten war sein zeichnerisches Talent aufgefallen. Die Großmutter spielte ihm Mozart, Puccini und Bach auf dem Klavier vor, was seine Prägung für klassische Musik befördert. Die Familie zog dann nach Stuttgart, wo er das Eberhard-Ludwigs-Gymnasium 1941 mit Notabitur verließ. Hier sammelte er auch erste Erfahrungen als Statist in Oper und Schauspiel.
Anschließen begann er eine Offizierslaufbahn, war drei Jahre mit der 3. Panzer-Division an der Ostfront im Einsatz, wurde mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet und erreichte den Dienstgrad Oberleutnant. Sein jüngerer Bruder fiel im März 1945 im Oderbruch. Auf die Frage, ob er ein guter Soldat gewesen sei, antwortete er in einem Interview: „Nicht gut genug, sonst hätte ich am 20. Juli 1944 zum Widerstand gehört. Aber für den schauerlichen deutschen Beitrag zur Weltgeschichte werde ich mich schämen bis an mein Lebensende.“ Nach dem Krieg arbeitete er nach eigener Schilderung für etwa ein Jahr als Holzfäller im Solling, um sich Lebensmittelkarten zu verdienen 1946 vervollständigte er in Northeim das Notabitur und studierte auf Anraten seines Vaters bis 1949 Malerei und Grafik an der Kunstakademie in Hamburg.
Von 1950 an war er sowohl als selbständiger Werbegrafiker als auch als Cartoonist für das Hamburger Magazin Die Straße tätig. Er war ab 1951 verheiratet mit der Hamburger Kaufmannstochter Romi, einer ehemaligen Modeschülerin, und wurde Vater zweier Töchter Bettina und Susanne. Eine erste Comic-Serie „Auf den Hund gekommen“ für den Stern beendet Chefredakteur Henri Nannen nach sieben Folgen: „Ich will den Kerl nie wieder im Stern sehen!“ Umso erfolgreicher wurde er später für die Kinder-Ausgabe Sternchen, für die er ab 1953 „Reinhold das Nashorn“ zeichnete – 17 Jahre lang. 1954 fand der missglückte Zeitschriftenstart doch noch ein Happy-Ende: Loriot sandte die Zeichnungen auf Anraten einer Bekannten dem Schweizer Daniel Keel, der 1952 den Diogenes Verlag gegründet hatte und 44 der „lieblosen Zeichnungen“ veröffentlichte. So begann eine lebenslange Zusammenarbeit; Loriot publizierte fortan fast ausschließlich bei Keel.
Eine Kooperation mit dem Martens-Verlag (Weltbild, Quick) endete 1961 auch im Unfrieden: Bülow hatte in der 100. Folge seiner Kolumne Der ganz offene Brief den Zorn von Winzern und Weinhändlern auf sich gezogen, obwohl er „seit Jahren täglich eine Flasche Wein leere“. Er nahm inzwischen auch kleinere Rollen als Schauspieler an, etwa in Bernhard Wickis Filmen „Die Brücke“ (1959) und „Das Wunder des Malachias“ (1961). 1962 gestaltete er das Titelblatt der ersten Ausgabe der Satirezeitschrift pardon und zog ein Jahr später nach Ammerland, das ihn später zum Ehrenbürger machen sollte. 1967 begann dann seine Arbeit fürs Fernsehen. Für Serien wie „Telekabinett“, „Cartoon“ und „Loriot I bis VI“, beim Südwestfunk und bei Radio Bremen entstanden, sollte Loriot ursprünglich nur die Sketche schreiben – vom Spielen war keine Rede. Bis sich herausstellte, dass für Profi-Akteure kein Geld da war: „Dann machen Sie es doch selbst.“ Er machte.
„Na warte“
1971 schuf er mit dem Zeichentrick-Hund Wum ein Maskottchen für die „Aktion Sorgenkind“ in der ZDF-Quizshow „Drei mal Neun“, dem er anfangs selbst auch die Stimme lieh. Zu Anfang noch der treue Freund eines Männchens, des eigentlichen Maskottchens, stahl er dem jedoch mehr und mehr die Show und verdrängte es schließlich völlig. Zu Weihnachten 1972 wurde Wum dann zum Gesangsstar: Mit dem Titel „Ich wünsch’ mir ’ne kleine Miezekatze“ mit von Bülows Sprechgesang belegte er für neun Wochen die Spitze der deutschen Hitparade. Wum blieb auch in der Nachfolgesendung „Der Große Preis“ bis in die 1990er Jahre hinein als Pausenfüller erhalten, bald schon als Duo zusammen mit dem Elefanten Wendelin und später dem außerirdischen Blauen Klaus.
1976 entstand mit Loriots sauberer Bildschirm die erste Folge der sechsteiligen Personality-Serie „Loriot“ bei Radio Bremen, in der er sowohl Zeichentrickfilme als auch Sketche präsentierte. Die Serie mit köstlicher bis absurder Situationskomik wie „Herren im Bad“, „Auf der Rennbahn“ oder „Weihnachten bei Hoppenstedts“ gilt als Höhepunkt seines Fernsehschaffens und machte ihn zu einem festen Bestandteil deutscher Fernseh-, Literatur-, Kultur- und Sozialgeschichte. Dabei geht es oft um die „Tücke des Objekts“, noch häufiger aber um Kommunikationsstörungen, zumal zwischen Frau und Mann, die aneinander vorbeireden. Einige Erfindungen und Formulierungen Loriots wurden im deutschen Sprachraum Allgemeingut, etwa das Jodeldiplom oder die Steinlaus, die sogar mit einem Eintrag im Pschyrembel, dem alphabetischen Verzeichnis der gebräuchlichsten und wichtigsten Begriffe der Medizin, vertreten ist; aber auch Sätze wie „Da hab’ ich was Eigenes“, „Das ist fein beobachtet“, „Das Bild hängt schief!“ oder „Frauen haben auch ihr Gutes“. Auffallend ist, neben gekonnt eingesetzten schlüpfrigen Akzenten, der meisterhafte Gebrauch der deutschen Sprache. 1978 auf seinen Wunsch eingestellt, werden viele Sketche der Reihe bis heute wiederholt.
Seine Sketchpartnerin Evelyn Hamann entsprach anfangs gar nicht seiner Idealvorstellung: Eigentlich war er auf der Suche nach einer „kleinen, blonden, pummeligen Hausfrau“ und sagte zu Hamann, nachdem sie ihm vorgespielt hatte: „Liebe Frau Hamann, wenn Sie auf unsere Kosten mehrere Wochen täglich Schweinshaxen essen, meinen Sie, Sie werden dann fülliger?“ Jahrelang spielte sie an Loriots Seite – und überzeugte die Kritiker auf ganzer Linie. Mit unbewegter Miene und hanseatisch trockenem Humor schrieb sie Fernsehgeschichte, etwa als Hildegard in dem Sketch „Die Nudel“ beim Treffen mit Bülow als eitlem Verehrer, dem eine Nudel hartnäckig im Gesicht klebt („Bitte sagen Sie jetzt nichts, Hildegard“), oder „Englische Ansage“, in der sie über die vielen „th“ in Orts- und Personennamen schier den Verstand verliert. Sie verstand sich mit ihm zuletzt blind. Unvergessen bleibt 2007 sein Nachruf bei Beckmann: „Liebe Evelyn, dein Timing war immer perfekt. Nur heute hast du die Reihenfolge nicht eingehalten.“ Und nach einer Pause schließlich mit ganz feinem Lächeln: „Na warte.“
Die achtziger Jahre kann man als Loriots musikalisches Jahrzehnt beschreiben. 1982 dirigierte er das „humoristische Festkonzert“ zum 100. Geburtstag der Berliner Philharmoniker. Wiederholt führte er seine Erzählfassung des „Karnevals der Tiere“ auf. Als Regisseur inszenierte Loriot die Opern „Martha“ (Stuttgart, 1986) und „Der Freischütz“ (Ludwigsburg, 1988). Seit 1992 wird seine Erzählfassung von Wagners „Ring des Nibelungen“ in Mannheim aufgeführt. Bis 2006 moderierte er auch die Operngala zugunsten der Deutschen AIDS-Stiftung, seine Moderationstexte bildeten später den Grundstock für „Loriots kleinen Opernführer“. Für Leonard Bernsteins Operette „Candide“ verfasste er neue Texte für eine konzertante Aufführung, welche die Handlung besser verständlich machten und dem Stück in Deutschland zu neuer Popularität verhalfen.
„Lieber Gott, viel Spaß!“
1988 drehte Loriot als Autor, Regisseur und Hauptdarsteller den Film Ödipussi. Die Geschichte um ein neurotisches Muttersöhnchen lockte 4,6 Millionen Zuschauer in die Kinos. 1991 folgte dann Pappa ante portas, in dem er den heimischen Haushalt betriebswirtschaftlich zu organisieren suchte und daneben auch einen Straßenmusiker mit Geige und den Dichter Lothar Frohwein mit Schluckauf bei einer Lesung spielte: „Kraweel, Kraweel!“ 34 Mal musste Hamann durch einen Hundehaufen laufen – erst bei der letzten Aufnahme war es Loriot beiläufig genug. „Die getreulichste Spiegelung der bundesrepublikanischen Wirklichkeit findet sich zweifellos bei Loriot“, schrieb die „FAZ“ und stellte fest: „Er allein hat die Archetypen der Bonner Republik entworfen, Männlein wie Weiblein.“ Ein „Rinnsal seniler Sketche“ eines „emeritierten preußischen Spaßadlers“ nannte dagegen der Spiegel den Film, den 3,5 Millionen Zuschauer sahen. Unter dem Titel „Wo es um Freundschaft geht“ präsentierten Loriot und Walter Jens 1994 in Hamburg, Wien und Zürich Ausschnitte aus dem Briefwechsel zwischen Friedrich dem Großen und Voltaire. In München las Loriot 1996 aus Thomas Manns Werken. In jenem Jahr soll er der meistgespielte Bühnenautor in Deutschland gewesen sein.
Loriot gründete in seiner Geburtsstadt Brandenburg die Vicco-von-Bülow-Stiftung, die den Erhalt von Denkmälern und Kunstschätzen fördert, aber auch bedürftige Einwohner der Stadt unterstützt. Er gehörte dem im August 2004 in München aus Protest gegen die Rechtschreibreform gegründeten Rat für deutsche Rechtschreibung e. V. als Ehrenmitglied an und gab im April 2006 Loriot bekannt, sich als Fernsehschaffender zurückzuziehen: Seiner Meinung nach war in diesem Medium wegen der entstandenen Schnelllebigkeit keine humoristische Qualität mehr zu erzielen. Zudem beklagte er, der für einen Sketch Mitte der siebziger Jahre noch 1.500 Mark bekam, die Ökonomisierung der Unterhaltungsbranche. Als er starb, galt er bereits als „größter Unterhalter der Nachkriegszeit“: Schon 2007 landete er bei der ZDF-Sendung „Unsere Besten – Komiker & Co“ auf Platz eins vor Heinz Ehrhardt. Eine Woche nach seinem Tod wurde er in Berlin beigesetzt.
Bundestagspräsident Norbert Lammert würdigte Bülow als eine der großen Persönlichkeiten, die das kulturelle Leben in Deutschland über Jahrzehnte geprägt und als Loriot ganz wesentlich dazu beigetragen habe, „dass die Deutschen ein gelassenes Bild ihrer Mentalität und Gewohnheiten gewinnen konnten“. „Für unsere Nation war er so etwas wie ein heimlicher Bundespräsident. Hätte er jemals tatsächlich zur Wahl gestanden, er wäre vollkommen zu Recht im ersten Wahlgang mit absoluter Mehrheit gewählt worden“, so Komikerkollege H.P. Kerkeling. Manche nannten ihn „Karl Valentin des Cartoons“, „Deutschlands komischste Figur“ oder „Legende des anspruchsvollen Humors“ (Horst Seehofer). Der Art Directors Club trauerte um sein Ehrenmitglied in einer Zeitungsanzeige mit den Worten: „Lieber Gott, viel Spaß!“