„Reichskanzler der Physik“
30. August 2021 von Thomas Hartung
Er war einer der einflussreichsten Naturwissenschaftler seiner Zeit und wurde in Anspielung auf seinen Zeitgenossen Bismarck auch als „Reichskanzler der Physik“ bezeichnet. Dreimal gab es Initiativen, ihn zum Paten einer Maßeinheit zu machen. So unterbreitete 1939 der NS-Bund Deutscher Technik Hitler den Vorschlag, für die Einheit der Frequenz unter Beibehaltung der Abkürzung Hz ihn statt Hertz zu verwenden, da dieser jüdischer Abstammung sei. Der Vorschlag wurde nicht verwirklicht. Dreißig Jahre später sollte die physikalische Einheit für das elektrische Doppelschichtmoment nach ihm benannt werden – ebenso erfolglos. Übrig blieb die Bezeichnung musikalischer Tonsymbole mit Kommata vor oder Apostrophen nach den Buchstaben wie „a’“ für den Kammerton, die nach ihm „Helmholtz-Schreibweise“ genannt wird: Hermann Helmholtz, der am 31. August 1821 in Potsdam als ältester Sohn eines Gymnasial-Oberlehrers geboren wurde.
Seinem jüngeren Bruder Otto, der Ingenieur wurde, zeitlebens eng verbunden, besuchte Hermann zunächst das Gymnasium „Große Stadtschule“, an dem sein Vater als Direktor tätig war und von dem er schon zuvor in Philosophie sowie alten und neuen Sprachen unterrichtet worden war. Schon als 17jähriger hatte er großes Interesse an Physik, doch, wie alle Naturwissenschaften galt die als brotlose Kunst. Daher studierte Helmholtz ab 1838 Medizin am Medizinisch-chirurgischen Friedrich-Wilhelm-Institut in Berlin, wo er 1842 mit einer Arbeit in mikroskopischer Anatomie promoviert wurde. Schon früh engagierte er sich dafür, die Physiologie auf eine streng naturwissenschaftliche Grundlage zu stellen und die ominöse „Lebenskraft“ als Erklärungsmodell für physiologische Vorgänge zu verbannen. Bereits in diesem Jahr wies er den Ursprung der Nervenfasern aus Ganglienzellen nach.
Obwohl er ein überdurchschnittlicher Absolvent war, deutete zunächst nichts auf eine akademische Karriere hin. Er arbeitete ein Jahr lang als Unterarzt an der Charité und diente ab 1843 in Potsdam als Militärarzt. Seine Ausbildung setzte er während dieser Zeit fort. Anerkennung in großem Stil verschaffte sich Helmholtz erstmals 1847 mit seiner Arbeit „über die Konstanz der Kraft“. Durch physiologische Untersuchungen über Gärung, Fäulnis und die Wärmeproduktion der Lebewesen, die er hauptsächlich auf Muskelarbeit zurückführte, gelangte er zur Ausformulierung des Energieerhaltungssatzes, also eines elementaren Gesetzes der Physik. Mit dieser Leistung ebnete sich Helmholtz im frühen Alter von 26 Jahren den Weg für seine wissenschaftliche Karriere. 1848 wurde er auf Empfehlung Alexander von Humboldts vorzeitig entlassen und unterrichtete Anatomie an der Berliner Kunstakademie.
Natur- kontra Geisteswissenschaften
Am 26. August 1849 heiratete er Olga von Velten und erhielt einen Ruf als Professor der Physiologie und Pathologie nach Königsberg, wo er sich vor allem mit der Physiologie von Auge und Ohr auseinandersetzte. In dieser Zeit gelang ihm seine bedeutendste Erfindung: Mit dem Augenspiegel machte Helmholtz erstmals die Netzhaut des menschlichen Auges sichtbar. Zudem verhalf er der von Thomas Young aufgestellten Dreifarbentheorie des Sehens zum Durchbruch: Sie beschreibt die drei Primärfarben Rot, Grün und Blau, aus denen man jede beliebige andere Farbe mischen kann – auch heute noch das Funktionsprinzip aller Farbfernsehbildschirme und Farbmonitore. Analog dazu vermutete er, dass es auch im Auge drei Typen von Rezeptoren gibt. Er erfand 1850 das Ophthalmoskop (Augenspiegel) zur Untersuchung des Augenhintergrundes, 1851 das Ophthalmometer zur Bestimmung der Krümmungsradien der Augenhornhaut sowie 1857 das Telestereoskop. 1852 gelang ihm außerdem die Messung der Fortpflanzungsgeschwindigkeit von Nervenerregungen.
Seine tuberkulosekranke Frau vertrug jedoch das raue Klima in Ostpreußen nicht. Unter Vermittlung von Alexander von Humboldt zog Helmholtz im Jahr 1855 nach Bonn, um dort den vakanten Lehrstuhl für Physiologie anzunehmen. Ab 1858 nahm Helmholtz eine gut bezahlte Professur in Heidelberg an. Im Dezember 1859 starb seine Frau Olga, die ihn mit zwei kleinen Kindern zurückließ. Am 16. Mai 1861 heiratete Helmholtz seine zweite Frau Anna von Mohl. Aus beiden Ehen gingen insgesamt fünf Kinder hervor: Drei Söhne und zwei Töchter, darunter der Eisenbahnkonstrukteur Richard von Helmholtz und Ellen von Siemens-Helmholtz, Ehefrau des Industriellen Arnold von Siemens. Bis 1870 wird er als erster Inhaber eines Physiologielehrstuhls an der Universität Heidelberg lehren, darunter mit Wilhelm Wundt als Assistent, sowie zeitweise als Rektor fungieren. In seiner noch heute aktuellen Rektoratsrede 1862 hatte er erstmals „Naturwissenschaften“ und „Geisteswissenschaften“ gegenübergestellt und die Schäden durch die Vernachlässigung rationaler naturwissenschaftlicher Schulbildung aufgezeigt.
Er entwickelte eine mathematische Theorie zur Erklärung der Klangfarbe durch Obertöne, die Resonanztheorie des Hörens, und darauf basierend „Die Lehre von den Tonempfindungen als physiologische Grundlage für die Theorie der Musik“ (1863). Mit der Aufstellung der Wirbelsätze (1858 und 1868) über das Verhalten und die Bewegung von Wirbeln in reibungsfreien Flüssigkeiten, lieferte Helmholtz wichtige Grundlagen der Hydrodynamik. 1858 wurde Hermann von Helmholtz zum korrespondierenden und 1870 zum auswärtigen Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften gewählt. 1871 verzichtet er auf eine Berufung in Cambridge und kehrt schließlich nach Berlin zurück, wo er den sehr gut dotierten Lehrstuhl für Physik übernahm und zeitweise wiederum als Rektor wirkte. Mathematisch ausgearbeitete Untersuchungen über Naturphänomene wie Wirbelstürme, Gewitter oder Gletscher machten Helmholtz zum Begründer der wissenschaftlichen Meteorologie: Nur „die Mangelhaftigkeit unseres Wissens und die Schwerfälligkeit unseres Kombinationsvermögens“ ließen uns von der „wildesten Launenhaftigkeit des Wetters“ sprechen.
„er sich ebenso langweilte wie wir“
Mit seinen Vorlesungen hatte er wenig Erfolg: „Wir hatten das Gefühl, dass er sich selber mindestens ebenso langweilte wie wir“, berichtet Max Planck. Als Schüler hatte er eigentlich nur den ihm kongenialen Heinrich Hertz von 1879-83, der auch 1880 bei ihm promovierte. Zu den herausragenden späten Leistungen zählen die drei Abhandlungen über die „Thermodynamik chemischer Vorgänge“ (1882/1883). Hier wandte Helmholtz die Hauptsätze der Thermodynamik auf die Elektrochemie an und führte den Begriff der „freien Energie“ ein. Die Weite seines systematischen Denkens und seiner Interessen belegen seine erkenntnistheoretischen Arbeiten. Zu ihnen ist die auch auf die Wissenschaftsgeschichte eingehende Behandlung der Allgemeingültigkeit des ursprünglich auf mechanische Bewegungsvorgänge beschränkten „Prinzips der kleinsten Wirkung“ (1886) zu rechnen, die er durch „Das Prinzip der kleinsten Wirkung in der Elektrodynamik“ (1892) abschließt.
1886 entschließt er sich zur Aufgabe der Leitung des Institutes, nachdem er seinen theoretischen Untersuchungen zuliebe schon einige Jahre auf experimentelle Arbeiten verzichtet hat. Mit der Gründung der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt, die er 1887 zusammen mit Werner von Siemens ins Leben rief, vollendete er seine wissenschaftliche Karriere. Bis zu seinem Tod war er Präsident der Reichsanstalt, die noch heute als Physikalisch Technische Bundesanstalt die Wissenschaft der exakten Messtechnik vorantreibt.
Viele Schicksalsschläge verdüsterten sein Leben in der letzten Phase, so der Tod seines Sohnes Robert und der seines Freundes Werner von Siemens. Im Sommer 1893 besuchte er die Weltausstellung in Chicago und verletzte sich auf der Rückreise schwer bei einem Ohnmachtsanfall. Am 8. September 1894 starb Helmholtz an einem zweiten Schlaganfall. Er fand seine letzte Ruhe auf dem Friedhof Wannsee; sein Grab ist seit 1967 als Ehrengrab der Stadt Berlin gewidmet. Der enorme Erkenntniszuwachs, den er im 19. Jahrhundert geschaffen hatte, wurde bald schon durch die Entdeckung der Röntgenstrahlung sowie der Radioaktivität und durch Albert Einstein Formulierung der Relativitätstheorie überholt, welche die Physik revolutionierten. Nach ihm sind nicht nur seit 1995 die Gemeinschaft Deutscher Forschungszentren, Schulen, Plätze sowie die Helmholtz-Medaille der Deutschen Gesellschaft für Akustik benannt, sondern auch Mond- und Marskrater sowie ein Asteroid.