„dann machen wir weiter“
8. August 2021 von Thomas Hartung
Ein warmer Aufwind brachte den Tod. Als er am 9. August 1896 seinen selbstgebauten Segelgleiter beim brandenburgischen Örtchen Stölln in eine sogenannte Sonnenbö steuerte, richtete sich das Fluggerät zunächst auf und blieb dann quasi in der Luft stehen. In einem verzweifelten Steuermanöver warf er noch Beine und Oberkörper nach vorn – doch das reichte nicht, um einen Absturz aus 15 Metern Höhe zu vermeiden. Der Pilot brach sich die Halswirbelsäule und habe unmittelbar nach dem Absturz zu seinem Mechaniker gesagt: „Ist nicht so schlimm, kann mal vorkommen. Ich muss mich etwas ausruhen, dann machen wir weiter“. Er wurde – bereits im Koma – in die Berliner Uniklinik kutschiert und starb am folgenden Tag. „Opfer müssen gebracht werden“, sollen seine letzte Worte gewesen sein – auch wenn dieser angeblich letzte Satz in Wahrheit erst 1940 an seinem Berliner Ehrengrab angebracht wurde: Otto Lilienthal, der bis heute als der deutsche Flugpionier gilt.
Geboren wurde er am 23. Mai 1848 als erstes von acht Kindern eines Tuchhändlers und einer studierten Musikerin in Anklam. Fünf Geschwister starben im Alter von wenigen Monaten oder Jahren. Als die Familie in wirtschaftliche Schwierigkeiten geriet und nach Amerika auswandern wollte, durchkreuzte der plötzliche Tod des Vaters den Plan. Die Mutter verdiente den Lebensunterhalt für sich und ihre drei Kinder durch ein kleines Putzgeschäft sowie durch Erteilen von Musikunterricht und gelegentliche Auftritte als Konzertsängerin. 1856 bis 1864 besuchte Otto Lilienthal das örtliche Gymnasium. Gemeinsam mit seinem ein Jahr jüngeren Bruder Gustav, dem er über zahlreiche Projekte und Erfindungen zeitlebens eng verbunden blieb, studierte er bereits dort den Flug der Störche, die über die Felder der pommerschen Landschaft glitten, führte erste Flugexperimente durch und baute ein erstes kindliches Flügelpaar. „Fliegen wie ein Vogel“ – dieser Traum setzte sich in ihm fest.
1866 erhielt er an der Gewerbeschule in Potsdam sein Reifezeugnis „mit Auszeichnung“, absolvierte dann in der Firma Schwartzkopf ein einjähriges Praktikum im Fach Maschinenbau und besuchte im Anschluss daran bis 1870 die Königliche Gewerbeakademie in Berlin. Er lebte in dieser Zeit als „Schlafbursche“ und musste sein Bett mit einem Droschken- und einem Rollkutscher teilen, wie er in einer Chronik berichtete. 1867 und 1868 bauten die Brüder Lilienthal in Anklam Experimentiergeräte zur Erzeugung von Auftrieb durch Flügelschlag. Das Ergebnis war eine maximal hebbare Masse von 40 kg. Zu den entscheidenden Experimenten wurden die darauf folgenden Untersuchungen des gewölbten Flügels in der Luftströmung ohne Flügelschlag. Nach seinem Studium meldete sich Lilienthal für ein Jahr zur freiwilligen Teilnahme am deutsch-französischen Krieg und erlebte als Infanterist die Belagerung von Paris.
„Vogelflug als Grundlage der Fliegekunst“
Danach arbeitete er in der Zeit von 1871 bis 1880 für die Berliner Maschinenbaufirma Weber und war teilweise parallel als Konstruktionsingenieur für das Maschinenunternehmen C. Hoppe in Berlin tätig. In dieser Zeit war er an der Entwicklung von Bergbaumaschinen beteiligt: Das Patent auf eine Schrämmaschine führte zwar zu einer Serienfertigung, jedoch nicht zu einem eigenen Unternehmen, das er mit Gustav, der inzwischen Architekt war, anstrebte. In dieser Zeit fing Lilienthal an, öffentlich Vorträge über die Probleme des Fliegens zu halten. 1874 experimentierte Lilienthal mit ebenen und gewölbten Tragflügeln, um die Luftkräfte zu messen. Dazu führte er Versuche mit Drachen und Flugmodellen durch, bei denen Schwester Marie protokollierte. Bei Messungen mit Mehrkomponentenwaagen erkannte er die kraftsparenden Eigenschaften gewölbter Flügel und ermittelte genaue Werte für Auftrieb und Widerstand bei verschiedenen Anstellwinkeln.
1878 heiratete Lilienthal die sächsische Bergmannstochter Agnes Fischer, mit der er vier Kinder hatte. Im Jahr darauf entwickelte er mit Gustav ein Baukastensystem für Kinder mit Steinen aus Firnis, Kreide und Sand, deren Vermarktung aber ebenfalls nicht gelang. Schon 1880 verkauften sie das Herstellungsverfahren an den Geschäftsmann Friedrich Adolf Richter aus Rudolstadt, der sofort ein Patent anmeldete und die Steine im Rudolstädter „Anker-Werk“ produzieren ließ. Unter diesem Namen traten sie ihren Siegeszug an – die Brüder Lilienthal konnten sich nur noch verschiedene Auslandspatente für ihre Erfindung sichern und stritten bis 1887 mit Richter, der letztlich gewann. Dem Erfolg konnten die Unstimmigkeiten aber nichts anhaben: Über drei Milliarden Anker-Bausteine wurden hergestellt, Albert Einstein, Erich Kästner und Walter Gropius sollen damit gespielt haben.
Der dritte Versuch als Unternehmer war dann erfolgreich. 1881 erhielt Lilienthal ein Patent für einen Schlangenrohrkessel, das den erhofften Erfolg brachte: Zusammen mit einer kleinen Wand-Dampfmaschine entstand der Lilienthalsche Kleinmotor, der ab 1883 in einer eigenen Firma hergestellt wurde, die schnell zur Fabrik mit bis zu 60 Mitarbeitern anwuchs und auch Akkordsirenen für Nebelhörner produzierte. Es folgten weitere 19 Patente, darunter vier Luftfahrtpatente. Mit dem Ethiker Moritz von Egidy bekannt und sozial engagiert, beteiligte er seine Arbeiter mit 25 % am Unternehmensgewinn und richtete eine Volksbühne im Berliner Ostend-Theater ein.
War er zusammen mit Gustav schon 1873 Mitglied in der „Aeronautical Society of Great Britain“ geworden, trat er 1886 dem „Deutschen Verein zur Förderung der Luftschifffahrt“ in Berlin bei. In diese Zeit fallen auch die ersten Versuche mit Fluggeräten, die einen Menschen transportieren. Als er Ende der 1880er Jahre ein Patent auf den gewölbten Tragflügel anmelden wollte, musste er konstatieren, dass ihm der Engländer Horatio F. Phillips zuvor gekommen war, der 1907 den ersten bemannten Motorflug in Großbritannien absolvieren wird. All seine Erfahrungen und Erkenntnisse bis hierhin verwertete Lilienthal 1889 in „Der Vogelflug als Grundlage der Fliegekunst“. Als Protagonist des „Schwerer als Luft-Prinzips“ war er überzeugt: „Die Nachahmung des Segelflugs muss auch dem Menschen möglich sein, da er nur ein geschicktes Steuern erfordert, wozu die Kraft des Menschen völlig ausreicht.“ Das bis dahin favorisierte „Leichter als Luft-Prinzip“ der Ballonfahrten geriet ins Hintertreffen. Die im Buch enthaltene graphische Darstellung des Zusammenhangs zwischen Auftrieb und Widerstand unter Angabe des Anstellwinkels ist in dieser Form noch heute üblich und wird als Lilienthalsche Polare bezeichnet. Nach der Veröffentlichung experimentiert er ohne Gustav weiter.
Im März 1891 gelang ihm ein Gleitflug zwischen Derwitz und Krielow nahe Potsdam über die Distanz von mehr als 25 Metern. 1892 setzte Lilienthal seine Flugversuche mit neuen Geräten fort. Dabei gelangen ihm in Gollenberg bei Stölln bahnbrechende Gleitflüge bis zu einer Weite von 250 Metern. Auch im Flugzeugbau experimentierte der emsige Forscher weiter. Unter seinen Flugapparaturen befand sich auch ein Flügelschlagapparat, der für einen Motorantrieb vorgesehen war. Zwischen 1890 und 1896 konstruierte Lilienthal rund 30 Flugapparate, die er zu mehr als 2.000 Flugversuchen in Berlin und Umgebung einsetzte und dabei sagenhafte Weiten von über 400 Metern erreichte. Sein so bezeichneter „Normalsegelapparat“ ging 1894 in Serie und wurde zum Stückpreis von 500 Mark neunmal verkauft. Den ersten erwarb der Schweizer Industrielle Charles E. L. Brown, einer der beiden Gründer des Elektrotechnikkonzerns „Asea Brown Boveri“, einen weiteren der amerikanische Zeitungsmogul William Hearst.
„Er war wohl zu wagemutig“
Die Reise-, Transport- und Verkehrsdimension seiner Entdeckung sei Lilienthal nicht bewusst gewesen, ist der stellvertretende Direktor des Otto-Lilienthal-Museums Anklam, Peer Wittig, auf dem Portal heise.de überzeugt. Lilienthal habe in seinem Normalsegelapparat in erster Linie ein Sportfluggerät gesehen. In einem Brief an Egidy schwärmt Lilienthal aber trotzdem von den friedensstiftenden Möglichkeiten der Fliegerei. „Die Grenzen der Länder würden Ihre Bedeutung verlieren, weil sie sich nicht mehr absperren lassen; die Landesverteidigung, weil zur Unmöglichkeit geworden, würde aufhören, die besten Kräfte der Staaten zu verschlingen, und das zwingende Bedürfnis, die Streitigkeiten der Nationen auf andere Weise zu schlichten als den blutigen Kämpfen um die imaginär gewordenen Grenzen, würde uns den ewigen Frieden verschaffen.“ In diesem Punkt, sagt Wittig, habe sich Lilienthal gewaltig geirrt.
1895 unternahm Lilienthal mehrere Auslandsreisen, um sich im Kontakt mit anderen Flugforschern und -technikern auszutauschen. In diese Zeit fallen auch seine ersten Flugversuche mit Doppeldeckern. Zu den Erkenntnissen, die er bei seinen Konstruktionen und ihrer Erprobung gewann, gehören die Entdeckung des Vorteils von an der Vorderkante des Flügels verdickten Profilen und die Zweckmäßigkeit scharfer Hinterkanten – Ergebnisse, die für den Flugzeugbau heute allgemeingültig sind. Über Lilienthals Flüge wurde im In- und Ausland berichtet; die sensationellen Flugfotografien erschienen in wissenschaftlichen und populären Veröffentlichungen vieler Länder. Regelmäßig erschienen seine Artikel in der Zeitschrift für Luftschifffahrt und Physik der Atmosphäre sowie in der populären Wochenschrift Prometheus, Übersetzungen in den USA, Frankreich und Russland. Die Gebrüder Wright verwendeten Lilienthals Arbeiten als Grundlage für den Bau ihres ersten flugfähigen Motorflugzeugs der Welt: „Der deutsche Ingenieur Otto Lilienthal lieferte wohl den größten Beitrag zur Lösung des Flugproblems, der je von einem Mann geleistet wurde“, schrieb Wilbur Wright 1901.
Mit Lilienthals Tod auf einem seiner Normalsegelapparate endete Deutschlands Vorreiterrolle im Flugwesen mit Tragflächen; ein gleichermaßen mutiger wie systematischer Nachfolger fand sich nicht. Er war der erste, der die Wirkung verschiedener Flügelprofile systematisch vermaß und dokumentierte, aufbauend auf diesen Messungen kontrolliert geflogen ist und seine Erkenntnisse regelmäßig publizierte. Und schließlich war er der erste, der einen Flugapparat zur Serienreife entwickelte und verkaufte. Porträts und Flugapparate Lilienthals dienten als Würdigung der technischen Pionierleistung auf Briefmarken, Medaillen und in anderer Form in vielen Ländern als Vorlage. Häufig ist die Darstellung mit dem Ikarusmotiv verbunden. Schulen, Straßen, Vereine und Körperschaften tragen seinen Namen, darunter die Otto-Lilienthal-Kaserne im fränkischen Roth.
Vor fünf Jahren bauten Forscher des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) den 20 Kilogramm schweren, 6,70 Meter breiten Normalsegelapparat aus Weidenholz und Stoff nach und testeten ihn im Windkanal. Bei Windgeschwindigkeiten von bis zu zehn Metern pro Sekunde zeigte er sich verblüffend modern in seinen Leistungswerten: „Aus den Daten lässt sich auf den ersten Blick keine kritische Flugeigenschaft ableiten, die Lilienthal in Gefahr bringen musste“, sagt Physiker Henning Rosemann dem Spiegel. Um alle drei Achsen stabil, gutmütige Flugeigenschaften: „Je länger man sich mit dem Fluggerät beschäftigt, desto mehr Hochachtung bekommt man“. Wohl auch, weil das Fliegen ein Kraftakt ist: der Pilot hängt wie ein Reckturner zwischen den Flügeln und steuert allein mit Körperbewegungen. Eine technische Todesursache wurde ausgeschlossen – Overconfidence, zu großes Vertrauen, nennt man das Problem bei heutigen Piloten: Die Böe zu stark, der plötzliche Anstellwinkel zu steil. „Er war wohl zu wagemutig“, so Rosemann. „Das hat ihn das Leben gekostet.“