„keineswegs ein allwissender Prophet“
12. September 2021 von Thomas Hartung
Als genialer Vordenker nahm er unter anderem die Gen- und Nanotechnik, den bargeldlosen Zahlungsverkehr und den Biochip früh vorweg. Im Jahre 1954, bevor überhaupt an das World Wide Web zu denken war, entwarf er bereits Computernetze und ließ in seinem Roman Lokaltermin die Vorläufer der Suchmaschinen vom Stapel. Seine „Insperten“, ein genial übersetztes Kofferwort aus Inspektor und Experten, führten Untersuchungen zu Themen der „allgemeinen Ariadnologie und Labyrinthik“ durch und kamen schon damals zu dem Ergebnis, die „Informationsumwelt“ sei „von einer fürchterlichen Menge an Unsinn und Lügen verschmutzt“. Am Ende seines Lebens wurde er zum Kritiker der Informationsgesellschaft, weil diese die Nutzer zu „Informationsnomaden“ mache, die nur „zusammenhangslos von Stimulus zu Stimulus hüpfen“ würden. 2003 sagte er der FAZ den legendären Satz: „Der Mensch ist eine unangenehme Gattung, sehr peinlich, ja.“
Den vielleicht prophetischsten Satz schrieb er 1961 in seinem Roman Solaris: „Wir brauchen keine anderen Welten, wir brauchen Spiegel“. In dem dreimal verfilmten Science-Fiction-Epos – so von Andrei Tarkowski 1972 mit Donatas Banionis und Steven Soderbergh 2002 mit George Clooney – stoßen Wissenschaftler auf einer Raumstation mit einer fremden Planeten-Intelligenz zusammen, die als eine Art Denk-Ozean wundersame Kräfte besitzt, die über das Vorstellungsvermögen der Menschen weit hinausgehen. Die Astronauten werden in einen Wettstreit gegensätzlicher Emotionen gestürzt: Xenophobie gegen Neugier. Dieses Grundthema findet sich in vielen Romanen: Ob in Eden oder Der Unbesiegbare, oft ging es um die Erforschung fremder, extraterrestrischer Formen der Intelligenz und deren Abgleich mit den Grenzen des menschlichen Geistes. Er gilt als erfolgreichster polnischer Autor des 20. Jahrhunderts, dessen Werk in 57 Sprachen übersetzt ist und in einer Auflage von über 45 Millionen weltweit erschien: Stanisław Lem, der am 12. September seinen 100. Geburtstag feierte.
Er kam als Sohn einer polnisch-jüdischen Arztfamilie in Lemberg auf die Welt und studierte nach einer behüteten Kindheit von 1940 bis zur Besetzung Lembergs durch deutsche Truppen 1941 Medizin an der dortigen Universität. Mit einem Intelligenzquotienten von 180 galt er einst als „klügstes Kind Südpolens“. Er beschrieb sich als Lesenarr und Träumer: „Ich zeichnete darüber hinaus auch solche Monster, die es nicht gab, die es aber offensichtlich meiner Ansicht nach gegeben haben sollte. Ich bin also mit meiner Phantasie in andere Zeiten und andere Welten geflüchtet, und obwohl ich verstanden habe, dass dies nur scheinbar ist, ein Spiel, hütete ich meine Geheimnisse.“
Zwar konnte er mit gefälschten Papieren seine jüdische Herkunft verschleiern; der Großteil seiner Familie kam im Holocaust um: „Ich hab Hitler gebraucht, um draufzukommen, dass ich jüdisch bin“, schrieb er in seinen Erinnerungen. Während des Krieges arbeitete er als Hilfsmechaniker und Schweißer für eine deutsche Firma, die Altmaterial aufarbeitete, und half dem Widerstand gegen die deutsche Besatzungsmacht. Als gegen Ende des Krieges Polen durch die Roten Armee befreit wurde und das Land zum Einflussbereich der Sowjetunion gehörte, setzte er sein Studium in Lemberg fort.
1945 musste er, nachdem seine Heimatstadt an die Sowjetunion gefallen war, nach Krakau ziehen, wo er an der Jagiellonen-Universität sein Medizinstudium zum dritten Mal aufnahm und als Forschungsassistent an Problemen der angewandten Psychologie arbeitete. In diese Zeit fielen auch seine ersten literarischen Versuche: Geschichten, ein Theaterstück und eine erst nach Lems Tod wiedergefundene, 2009 herausgegebene antistalinistische Satire. 1948 entstand sein erster Roman Die Irrungen des Dr. Stefan T., der wegen der Zensur erst acht Jahre später erscheinen konnte. Ebenfalls in dieser Zeit lernte er seine spätere Frau Barbara Leśniak kenne, eine Radiologin, die er 1953 heiratete und mit ihr sein gesamtes Leben verbrachte. Als seine Lieblingsschriftsteller wird er Dostojewski, Rilke, Kafka nennen – und die Brüder Arkadi und Boris Strugazki (Stalker), die etwa zeitgleich mit ihm zu publizieren begannen.
technische Evolution statt Futurologie
Da er sich in seinem letzten Examen weigerte, Antworten im Sinne der genetischen Irrlehre des Russen Lyssenko zu geben, entging er zwar einem Dasein als Militärarzt, konnte deswegen aber auch nicht als Arzt praktizieren, arbeitete in der Forschung und verlegte sich immer mehr aufs Schreiben. Sein erstgeschriebener Roman Der Mensch vom Mars von 1946 erschien in Buchform erst 1989. 1951 wurde sein erster Roman Der Planet des Todes veröffentlicht und 1960 von der DEFA unter dem Titel Der schweigende Stern verfilmt. Es war einer von nur vier Science-Fiction-Kinofilmen der DDR; in der Bundesrepublik lief der Film später als Raumschiff Venus antwortet nicht. Hauptthema des Films ist die zu Zeiten des kalten Krieges auf die Venus verlegte Warnung vor einer nuklearen Katastrophe – ein Thema, das Lem immer wieder umtreiben sollte.
Seinen literarischen Durchbruch schaffte er 1956 mit der Veröffentlichung von Gast im Weltraum. In den darauffolgenden Jahren schrieb er seine wichtigsten Science-Fiction-Romane, darunter die Sterntagebücher, die Kyberiade und Die Stimme des Herrn. Mit Ijon Tichy (abgeleitet von polnisch Cichy, „Der Stille“) schuf Lem eine Art Weltraum-Münchhausen, der auf fremden Welten irrwitzige Abenteuer erlebt, die vor Absurdität strotzen. Er ist die Hauptfigur in den Sterntagebüchern und weiteren Romanen wie dem pessimistischen Der futurologische Kongress, Lokaltermin und Der Flop. Das ZDF verfilmte 2007 und 2011 mehrere Episoden unter dem Titel „Ion Tichy: Raumpilot“ in einem verdächtig an eine studentische Altbauwohnung gemahnenden Flugobjekt mit „so unverhohlener kindlicher Freude am Trash, dass man sich kurz vergewissern muss, ob man tatsächlich den oft als ‚Kukidentkanal‘ verspotteten Mainzer Sender eingeschaltet hat“, wunderte sich Peter Luley im Spiegel.
Das Faktotum „Analoge Halluzinelle“ als kongenialer Sidekick Tichys spielte Nora Tschirner (Tatort). Kreiert, um Tichy durch die gelegentliche Übernahme des Steuers ein wenig Schlaf zu ermöglichen, verschuldet sie bspw. eine Bruchlandung auf dem unwirtlichen Planeten Torkov. Dort wird der Raketenzündschlüssel von einer kilometergroßen haarigen Kulupe gefressen, einem Monster, das so viel Schrecken verbreitet wie Samson aus der Sesamstraße. Um ihn wiederzubeschaffen, übergießt sich Tichy nach kurzem Nachschlagen in der „Kosmischen Enzyklopädie“ mit Pilzsoße und lässt sich als lebenden Köder verspeisen, um dann im Innern der Kulupe eine Bombe zu zünden.
Der Deutsche Fernsehpreis und eine Grimme-Nominierung waren der Lohn für solch Spektakel. Unvergessen ist auch, wie der tölpelhafte Pilot Pirx, eine weitere Lieblingsfigur Lems, mit verdorbenen Lebensmitteln, vergesslichen Robotern und den Sinnlosigkeiten der Weltraum-Bürokratie kämpft. „Lems Helden sind sternenfahrende Don Quichottes, die nicht gegen Windmühlen kämpfen, sondern gegen die Invasion der Technokratie in die geistige Welt“, befindet Andreas Borcholte im Spiegel.
Anfang der 1960er Jahre entstand auch sein wichtigstes nicht-fiktionales Werk Summa technologiae. Der Titel bezieht sich auf die großen „Summen“ der Theologie: Summa theologica von Thomas von Aquin bzw. Summa Theologiae von Albertus Magnus. Es geht Lem darin eher um eine Metatheorie technischer Evolution als um Futurologie, da die moderne Technologie erstmals in der Geschichte dem Menschen die Welt mit Hilfe immer komplizierterer Regelsysteme verfügbar machen – und ihn damit von der Natur emanzipieren will. Den technokratischen Anwälten amoralischer Sachzwänge gibt er zu bedenken: „Unser weiteres Vorgehen muss von einem moralischen Kanon geleitet sein, der uns als Ratgeber bei der Entscheidung zwischen den Alternativen dient, die die amoralische Technologie hervorbringt.“ Seine Diskussion dieses imaginären Kanons liest sich immer noch genussvoll, et-wa sein Blick auf „maschinelle Ehestifter“ sprich Heiratscomputer. Alle Literaturkritik aber ist bis heute hilflos, wie seine philosophische Tiefgründigkeit mit seinem utopischen Humor zu vereinen sei.
„gemacht, was ich konnte“
Nachdem in Polen das Kriegsrecht verhängt worden war, verließ Stanisław Lem 1982 sein Heimatland und arbeitete in West-Berlin am Wissenschaftskolleg. Ein Jahr später ging er nach Wien, wo sein einziger Sohn Tomasz die American International School besuchte. In Berlin und Wien schrieb Lem unter anderem den preisgekrönten Krimi Der Schnupfen und Fiasko – sein letzter zu Lebzeiten veröffentlichter Roman. Lem kehrte erst 1988 im Zuge der politischen Veränderungen nach Polen zurück. Er hielt in Krakau Vorlesungen zur Futurologie, gründete die polnische Astronautische Gesellschaft, war Mitglied mehrerer Schriftsteller- und Gelehrtenverbände sowie mehrfacher Ehrendoktor und wurde 1976 auf Betreiben von Philip K. Dick (Blade Runner) Ehrenmitglied in der Science Fiction and Fantasy Writers of America. Dicks psychische Krankheit führte allerdings dazu, dass er gegen Lem – den er für eine geheime Organisation namens L.E.M. hielt – eine Anzeige an das FBI schrieb und ihm auf sein Betreiben diese Ehrenmitgliedschaft vorübergehend wieder entzogen wurde.
„Ich habe auch genug geschrieben. 40 Bücher reichen“, erklärte er 1996 auf telepolis. „Ich war keineswegs ein allwissender Prophet der kreativen technischen Explosion mit einem wunderbar sonnigen Avers und einem schwarzen und düsteren Revers. Diese Aufteilung ergab sich irgendwie von selbst, und erst jetzt, am Ende meiner schriftstellerischen Arbeit, kann ich dieses aus zwei Hälften zusammengesetzte Ganze erkennen“, schrieb er ein Jahr später. Der Mensch als gottgleiche Kreatur, die dank wissenschaftlicher Erkenntnisse die Gesetze der Natur aushebelt und beherrscht – diese Vorstellung war Lem ein ewiges Menetekel. „Die Tragik des 20. Jahrhunderts liegt darin, dass es nicht möglich war, die Theorien von Karl Marx zuerst an Mäusen auszuprobieren“, schrieb er. Bis zuletzt verweigerte er sich dem Internet. Lem starb nach längerer Krankheit am 27. März 2006 in einer Klinik in Krakau an Herzversagen. Auf seinem Grabstein steht die Inschrift „Feci, quod potui, faciant meliora potentes“ – „Ich habe gemacht, was ich konnte, mögen die es besser machen, die dazu imstande sind.“
Seine Kurzgeschichten, Romane und Essays zeichnen sich durch überbordenden Ideenreichtum und fantasievolle sprachliche Neuschöpfungen aus, wobei auch die Kritik an der Machbarkeit und dem Verstehen der technischen Entwicklung im Kontext philosophischer Diskurse immer ein zentraler Bestandteil seiner Werke ist. „Seine schier unbändige Phantasie, Fabulierlust und sein immer wieder durchdringender Humor macht ihn zu einem der herausragenden Autoren, der, sagen wir es ehrlich, einen Nobelpreis verdient hätte“, befand Matthias Weidemann in der Leipziger Internetzeitung. Durch seine utopischen Werke erwarb sich der als schwer übersetzbar geltende Lem den Ruf, einer der größten Schriftsteller in der Geschichte der SF-Literatur zu sein; neben den Strugazkis der größte des einstigen Ostblocks sowieso: Allein in der DDR erfuhr jedes seiner Bücher mindestens eine zweite, oft vierte oder fünfte Auflage. 1992 wurde ein Asteroid nach ihm benannt, 2013 der polnische Forschungssatellit Lem mit einer russisch-ukrainischen Dnepr-Trägerrakete in eine Erdumlaufbahn transportiert. Der Sejm, das polnische Parlament, erklärte 2021 zum Stanisław-Lem-Jahr.