Kommunistischer Kaiser
9. September 2021 von Thomas Hartung
Im Jahrzehnt 1949-59, auf der Höhe seiner Macht, sah er sich ausgerechnet in der Tradition der chinesischen Kaiser. Sein Vorbild: Reichsgründer Qin Shihuangdi („Erster erhabener Gottkaiser von Qin“), ein besonders grausamer Herrscher, der im Jahr 221 nach Christus das Reich der Mitte mit äußerster Brutalität einte. Sonst war er kein großer Theoretiker, kein Intellektueller, kein Denker. Die theoretischen Schriften des Marxismus-Leninismus interessierten ihn nie wirklich. Wenngleich er seine eigenen literarischen Ergüsse millionenfach unter das Volk brachte und als Pflichtlektüre verordnete – und daran vorzüglich verdiente –, ist er doch nicht als kommunistischer Klassiker in die Literaturgeschichte eingegangen. Seine damals frenetisch gefeierten Phrasen wie „Der Revolutionär muss sich im Volk bewegen wie im Wasser“ zeugen von eher bescheidenem literarischen Talent.
1957 macht er den Spatz als Feind aus, der Getreide wegfrisst und damit verhindert, dass die Ernte noch besser ausfällt. Millionen Chinesen werden aufgerufen, so lange Lärm zu schlagen, bis die Spatzen erschöpft vom Himmel fallen, weil sie sich nicht getrauen, zu landen. Zwei Milliarden Vögel sollen auf diese Art getötet worden sein. Dummerweise vermehren sich anschließend: Die Insekten, zumal die Heuschrecken. Er sieht seinen Irrtum zwar ein, hat aber viele neue Ideen. Darunter die, Universalmenschen zu schaffen, die Arbeiter, Bauern und Intellektuelle zugleich sind. Die sind ein Jahr nach dem Spatzenkrieg 1958 aufgerufen, den „Großen Sprung“ zu schaffen – den Sprung zum Kommunismus, den Sprung ins 20. Jahrhundert: China soll von einem Agrarland zur Industrienation werden, in kürzester Zeit schaffen, wofür der Westen 100 Jahre brauchte.
Was dazu fehlte, war nach seiner Ansicht Stahl. Und der sollte nun auf den Dörfern in kleinen Hochöfen aus Lehm von Arbeiterbauern hergestellt werden. „Das Problem war allerdings dass sie sehr minderwertigen Stahl produziert haben und auch die Landwirtschaft stark vernachlässigt und die Ernte sehr schlecht eingeholt wurde“, so der Kölner China-Experte Felix Wemheuer im mdr. Der große Sprung endet deshalb in einer Katastrophe: Am Ende gibt es weder Stahl noch Getreide, sondern eine der größten Hungersnöte auf Erden mit 30 Millionen Toten. Der Urheber dieser Katastrophe: Mao Zedong (Tse-tung; „Wohltäter des Ostens“), der am 9. September 1976 in Peking starb.
Hoffnungsträger Oktoberrevolution
Geboren wurde er am 26. Dezember 1893 in Shaoshan (Provinz Hunan) als Sohn eines Bauernpaars nicht unbedingt in verelendeten Verhältnissen, er lernte beispielsweise lesen und schreiben. Seine Mutter war sehr religiös, ihr Volksbuddhismus beeinflusste Mao für sein ganzes Leben. Doch wie alle bäuerlichen Existenzen wurde auch er mit Entbehrungen, Hunger und Not konfrontiert, denn China war ein Armenhaus. Die im Reich der Mitte herrschende Dynastie der späten Kaiserzeit war inkompetent und korrupt. Die Folge: Landesweit verelendete die chinesische Bevölkerung. Von innen heraus schlecht geführt und völlig bankrott, wurde China von außen durch Kolonialmächte bedrängt und geknechtet: Das Deutsche Reich, Italien, die USA, vor allem aber Japan hatten China im Würgegriff.
Im Alter von vierzehn Jahren wurde Mao mit der achtzehnjährigen Luo Yigu zwangsverheiratet. Mao lehnte diese Ehe ab und versteckte sich; sie blieb unvollzogen. Nach der Schule absolvierte er von 1913 bis 1918 ein Lehrerseminar in Changsha. Dann wechselte Mao nach Beijing (Peking), wo er sich vorübergehend als Aushilfe in der Universitätsbibliothek verdingte. Der ihm vorgesetzte Bibliothekar beeinflusste ihn nachhaltig im Sinne des Marxismus, zu dem er sich fortan bekannte. Viele Chinesen, die unter den politischen und sozialen Missständen des frühen 20. Jahrhunderts schwer leiden mussten, fühlten sich zum Kommunismus hingezogen, schien er doch die einzige Möglichkeit, die bestehenden, ungerechten Verhältnisse umzukehren und aus der Verelendung herauszukommen. Als 1918 die Oktoberrevolution in Russland ausbrach, schöpften viele Chinesen Hoffnung. Die ersten Kommunisten waren also unzufriedene Idealisten, die die bestehenden Zustände ändern wollten.
Mao gehört dazu. Er gab eine Jugendzeitung heraus, bekam eine Stelle als Grundschuldirektor, eröffnete ein Buchgeschäft für politische Literatur und gründete eine Gesellschaft zum Studium Russlands. 1920 traf er die Tochter seines mittlerweile verstorbenen Lehrers und Freundes, Yang Kaihui, und heiratete sie. Erst 1921 bezogen sie eine gemeinsame Wohnung. In diesem Jahr wirkte Mao an der Gründung der Kommunistischen Partei KP Chinas in Shanghai mit. Bereits zwei Jahre später trat der wissbegierige und belesene junge Mann in deren Zentralkomitee und Politbüro ein. Nachdem sich die KP mit der herrschenden Volkspartei Guomindang KMT unter Chian Kai-shek verbunden hatte, übernahm Mao bedeutende Koordinierungsaufgaben zwischen beiden Organisationen. Etwa ab Mitte der 1920er Jahre wandte sich der KP-Funktionär der Bauernbevölkerung zu, deren revolutionäres Massenpotential er erkannte und für kleinere Aufstände zu nutzen begann. Sein Traktat „Über die Lage der Bauern in Hunan“ brachte ihn 1927 in Konflikt zur offiziellen Parteilinie, die das städtische und nicht das ländliche Proletariat zur treibenden Kraft einer künftigen Revolution erhoben wissen wollte. 1930 wurde Yang Kaihui von der KMT verhaftet und ermordet, sie hatte drei Söhne geboren.
Gegen Ende der 1920er Jahre zogen die sich verschärfenden parteiinternen Differenzen den vorübergehenden Ausschluss Maos aus den Führungsgremien der KP nach sich. Zur gleichen Zeit erfolgte 1927 der Bruch zwischen KMT und KP, worauf die KMT unter der militärischen Führung von Chiang Kai-Shek eine blutige Unterdrückung der Kommunisten einleitete. Mao ließ sich indessen in der südöstlichen Provinz Jiangxi nieder, um dort mit Guerillaverbänden einer eigens geschaffenen chinesischen Roten Armee eine Räterepublik zu errichten, die auf einer grundlegenden Umwälzung der Agrarordnung gründete. Ein Guerillaführer betrieb 1928 aus Machttaktik die Heirat der Dolmetscherin He Zizhen mit Mao, der nie hochchinesisch sprach. Beide bekamen bis 1938 sechs Kinder; zwei davon gingen auf Fluchtwirren verloren, zwei weitere verstarben früh, ein Sohn fiel im Koreakrieg.
Auf die Militärschläge der KMT-Regierung gegen die kommunistische Republik reagierte Mao mit dem sogenannten „Langen Marsch“ 1934 bis 1935 in die nordwestliche Provinz Shaanxi. Der Fluchtweg erstreckte sich über eine Länge von 12.000 Kilometern. Von ursprünglich 100.000 bis 120.000 Kommunisten, die sich auf den Weg machten, überlebten nur etwa 10.000 die Entbehrungen und Strapazen der Irrfahrt. Es gab Flügelkämpfe zwischen den Moskau-treuen Kommunisten und dem chinesischen Flügel, dem Mao vorstand. Durch Seilschaften, Intrigen und taktisches Geschick putschte sich Mao ganz nach oben und machte sich zur Nummer Eins in der KP. Gegen Jahresende 1936 erzielte Mao einen Waffenstillstand mit den KMT-Truppen, um sich fortan gemeinsam gegen die japanischen Besatzer zu wenden.
Landbevölkerung als Träger der Revolution
Der 1937 eröffnete chinesisch-japanische Krieg endete 1945 mit der Niederlage Japans, auf die nach erfolglosen Koalitionsbemühungen erneut der Bürgerkrieg zwischen KMT und KP folgte. Die Rote Armee eroberte in der Folge das gesamte chinesische Territorium, das Mao am 1. Oktober 1949 in Peking zur Volksrepublik China proklamierte. Als Vorsitzender der nun gebildeten „Zentralen Volksregierung“ und der „Revolutionären Militärkommission“ vereinte Mao die höchsten Staatsämter auf sich. Um die Unterstützung in der Bevölkerung zu verbreitern und aus Sorge um den Zusammenhalt der KP hatte Mao ab Ende 1939 – in dem Jahr heiratete er seine vierte Frau Jiang Qing – das Konzept der „Neuen Demokratie“ entwickelt. Es umfasste die staatliche Achtung von Eigentum, die Förderung des chinesischen Unternehmertums, die Förderung ausländischer Investitionen, die Kontrolle von Schlüsselsektoren durch den Staat, ein Mehrparteiensystem mit Koalitionsregierung und demokratische Freiheiten.
Die Kommunistische Partei beanspruchte in diesem Konzept jedoch die Führungsrolle. Gegenüber ausländischen Besuchern erklärte Mao, dass die Neue Demokratie ein notwendiger Zwischenschritt Chinas auf dem Weg zum Sozialismus und letzten Endes dem Kommunismus sei. 1954 wurde Mao nach der Verkündung einer neuen Verfassung zusätzlich auch zum Staatspräsidenten erhoben. Zu Beginn der Machtübernahme wurde er vom chinesischen Volk begeistert gefeiert. Er verstand es, den Chinesen etwas Entscheidendes zurückzugeben: Selbstwertgefühl und Vertrauen in die Zukunft. Mao versprach das Ende der Unterdrückung und propagierte die glorreiche Wiederauferstehung des Reichs der Mitte – Balsam für die geschundene chinesische Seele.
Und er versprach eine gerechtere Gesellschaft, eine radikale Umverteilung. Auf diese Weise richtete Mao gleich zu Anfang seiner Herrschaft die Identität der Chinesen wieder auf und einte das Land mit einem neuen Nationalgefühl. Er begründete auf philosophisch-ideologischem Gebiet eine neue Interpretation der Lehren von Marx, Engels und Lenin und entwickelte eine neue Revolutionstheorie, die die besonderen Bedingungen der sogenannten „Dritten Welt“ berücksichtigte und daher nicht die städtische Arbeiterschaft, sondern die unterdrückte Landbevölkerung zum Träger der proletarischen Revolution erhob. Nach Auffassung des „Maoismus“ war die Revolution in einem Land der Dritten Welt durch einen Guerillakrieg auszulösen, der sich sukzessive zum Volkskrieg ausweiten sollte, dessen Ziel der Sturz der herrschenden Klasse und die Errichtung der Diktatur des Proletariats waren. Kambodscha sollte sich als grausames Experimentierfeld dieser Lehre erweisen.
Für die nachrevolutionäre Errichtung einer sozialistischen Gesellschaft propagierte der Maoismus die Aufrechterhaltung einer permanenten inneren Revolution, durch die nicht nur die Wirtschafts- und Sozialstruktur, sondern auch die individuellen Bewusstseinslagen nachhaltig verändert und hinsichtlich der Ausbildung neuer Hierarchien und Klassengegensätze immer wieder hinterfragt werden sollten. Mit Hilfe seiner enormen Machtfülle trieb Mao in den 1950er Jahren gemäß den ideologischen Prämissen des Maoismus die grundlegende Umgestaltung der chinesischen Gesellschaft voran, die eine Bodenreform, die Gleichstellung der Frau und die Verstaatlichung der Wirtschaft umfasste. Verschiedene propagandistische Kampagnen wie die „Hundert-Blumen-Bewegung“ von 1956/57 sollten den Umbau im Innern ideologisch absichern.
Im außenpolitischen Bereich kam es im Verhältnis zur kommunistischen Führung der Sowjetunion nach dem Tod Josif W. Stalins und der Machtübernahme durch Nikita Sergejewitsch Chruschtschow im Jahre 1953 zu erheblichen Meinungsverschiedenheiten, die schließlich um 1960 in einen langfristigen Bruch der beiderseitigen Beziehungen mündeten. Schon Stalin hatte Mao misstraut, den er wiederholt als „Höhlenmarxisten“ bezeichnet hatte. Mao sinnierte etwa, dass ein Atomkrieg zwar die Hälfte der Menschheit ausrotten, dafür aber dem Kommunismus zum Sieg über den Kapitalismus verhelfen würde.
zu „70 Prozent positiv“
Aufgrund des Misserfolgs seiner Wirtschaftspolitik, die keinen Durchbruch zur Industrialisierung zeitigte, trat Mao auf parteiinternen Druck 1959 als Staatspräsident zurück. In der Folge wirkte er vor allem als ideologischer Führer der KP. Ab 1962 eröffnete Mao mit Unterstützung der Armee eine „sozialistische Erziehungskampagne“ unter der Bevölkerung. Die „Große Proletarische Kulturrevolution“ von 1965/66 sollte kapitalistischen und bürgerlichen Tendenzen in Partei, Staat und Gesellschaft entgegenwirken. Mit der Parole „Die Liebe zu Mutter und Vater gleicht nicht der Liebe zu Mao Zedong“ forderte er Kinder auf, ihre Eltern als „Konterrevolutionäre“ oder „Rechtsabweichler“ zu denunzieren – wie überhaupt die Förderung der Denunziation eines von Maos wirksamsten Herrschaftsinstrumenten war.
Das erklärte Ziel der Kampagne war die Beseitigung reaktionärer Tendenzen unter Parteikadern, Lehrkräften und Kulturschaffenden. In Wirklichkeit sollte durch das entstehende Chaos die erneute Machtergreifung Mao Zedongs und die Beseitigung seiner innerparteilichen Gegner erreicht werden. Durch die Einsetzung von Revolutionskomitees riss er erneut die Macht an sich, um fortan einen Führerkult um seine Person aufzubauen. Mao regierte im folgenden Jahrzehnt als „großer Vorsitzender und Steuermann“ über das chinesische Riesenreich, über dessen Grenzen hinaus seine im „roten Buch“ gesammelten politischen Weisheiten als „Mao-Bibel“ mit einer Milliardenauflage seit 1964 weltweite Verbreitung fanden. Innenpolitisch fiel er 1968 nochmals durch einen absurden „Mango-Kult“ auf, außenpolitisch war die Aufnahme Chinas in die UNO 1971 Maos größter Erfolg.
Mao genoss ungeheure Privilegien und verstieß gegen alle Sittlichkeitsvorstellungen, Zwänge und Entbehrungen, die er seinem leidgeprüften Volk auferlegte. Mao aß und trank im Überfluss, war zeitweise Kettenraucher und führte ein ausschweifendes Sexualleben mit zahlreichen jungen Mädchen, da er fest an die lebensverlängernden Praktiken der taoistischen Tradition glaubte. Er besaß Luxusautos, Villen und Schwimmbäder, auf Sonderkonten verfügte er über enorme Summen. Mit äußerster Brutalität und Menschenverachtung unterdrückte Mao jede Opposition und überzog China mit einem Netz aus Terror und Misswirtschaft. Er war schlau, gerissen und instinktsicher, und besonders in späteren Jahren nur sich und seinen Interessen verpflichtet, ausgestattet mit einem absoluten Willen zur Macht. Dadurch bis ins Mark korrumpiert, bestimmte schließlich tiefes Misstrauen seinen Umgang selbst mit seiner engsten Umgebung, er schottete sich am Ende gegen alles und jeden ab, verlor den Bezug zur Realität, zu seinem eigenen Volk. Seinen Leitspruch „die Wahrheit in den Tatsachen suchen“ aus den 1920er Jahren kehrte er selbst ins Gegenteil. Seine Überreste wurden 1977 in einem Mausoleum am „Platz des Himmlischen Friedens“ aufgebahrt. Selbst sein Schlafanzug ist noch Museumsstück. Mao ziert mehr als 2.000 Statuen und bis heute alle Geldscheine der Volksrepublik.
Und bis heute diskutiert die westliche Geschichtswissenschaft, ob ein China ohne Mao eine schnellere und menschlichere ökonomische Entwicklung erfahren hätte. Zwangsläufig musste er von seinen politischen Nachfolgern immer neu erfunden, zu einem Zerrbild uminterpretiert werden. Die Kulturrevolution wurde erst nach Maos Tod offiziell als beendet erklärt. 1981 gestand die KP erstmals offiziell die Misserfolge der Kampagnen ein, ohne sich dabei gegen Mao auszusprechen: Die Kulturrevolution sei ein „grober Fehler“ gewesen, Maos Wirken insgesamt aber zu „70 Prozent positiv“ zu bewerten, da die Leistungen die Irrtümer mehr als ausgeglichen hätten. Heute spricht man von einer „sozialistischen Marktwirtschaft mit chinesischen Besonderheiten“. Maos politische „Kampagnen“ sollen insgesamt 76 Millionen Tote nach sich gezogen haben. Der Spatz steht in China heute noch auf der Liste der bedrohten Arten.