Häftling Nr. 5
1. September 2021 von Thomas Hartung
„Das Geheimnis liegt in seiner leisen Beredsamkeit, seinem scharfen Verstand und seiner angeborenen Fähigkeit, die Menschen um ihn herum zu bezaubern und zu manipulieren, sei es die Richter in Nürnberg oder die Journalisten, Verleger und Filmemacher. Das half ihm, die Vergangenheit und seinen eigenen Anteil daran neu zu schreiben.“ So beschreibt die israelische Filmemacherin Vanessa Lapa das Charisma des gutaussenden, kultivierten Mannes, das mitverantwortlich war für eine Legendenbildung, die sich über viele Jahre halten konnte. In ihrem Streifen „Speer goes to Hollywood“ wollte sie zeigen, wie es Hitlers Rüstungsminister fast gelang, Hollywood für diese Legendenbildung einzuspannen. Sein Name zieht bis heute: Der Film feierte auf der 70. Berlinale vor einem Jahr mit ungeheurem Publikumszuspruch auch aus dem Ausland Premiere.
Die Geschichte dahinter: 1971 planten die Paramount-Studios des Ex-Ministers Bestseller „Erinnerungen“ zu verfilmen: Zu groß war die Versuchung, das Thema Nationalsozialismus in Kombination mit einem Überlebenden, der zum engsten Führungszirkel der Nazis gehörte, auf die Leinwand zu bringen. Der damals 26 Jahre alte Andrew Birkin – der Bruder von Jane Birkin und später erfolgreicher Regisseur und Drehbuchautor („Der Name der Rose“, „Das Parfum“) – traf sich damals mit ihm, um über Drehbuch und Filmfassung zu sprechen. Diese Gespräche, rund 40 Stunden Ton-Material, hat Lapa für ihren Film ausgewertet und bebildert. Er spräche „frei und ohne Hemmungen“ und „korrigiert die Vergangenheit, während er spricht. Die Aura, die er ausstrahlt, ist die von einem eleganten Mann, der eher einem Landjunker ähnelt als dem Massenmörder von Millionen“, so Lapa.
Paramount gab das Projekt, das unter dem Titel „Inside the Third Reich“ ins Kino kommen sollte, schließlich kurzfristig auf, zu risikoreich erschien der Film. Ein Jahrzehnt später wurden die „Erinnerungen“ übrigens doch noch verfilmt: Der US-Sender ABC machte eine mehrteilige Fernsehserie daraus. Nicht zuletzt sorgten auch große Kinoproduktionen wie der oscarnominierte deutsche Spielfilm „Der Untergang“ (2004) dafür, dass die „Legende“ weiter bestehen konnte. Die akribisch erarbeiteten Erkenntnisse der Historiker setzten sich bei einem breiten Publikum kaum durch. Erst langsam, auch wiederum durch einen Film, nämlich Heinrich Breloers „Speer und Er“ (2005), brach der Mythos vom „guten Nazi“ in sich zusammen: dem des Architekten Berthold Konrad Hermann Albert Speer, der am 1. September 1981 in London starb.
„geringe Ansprüche an sein architektonisches Können“
Am 19. März 1905 in Mannheim als mittlerer von drei Söhnen hineingeboren in eine Architektendynastie, besuchte er Schulen in Mannheim und Heidelberg und studierte auf Drängen des Vaters Architektur in Karlsruhe und München, bevor er 1925 nach Berlin wechselte und Schüler beim Gartenstadt-Vater Heinrich Tessenow wurde. Von ihm übernahm er einen mit kargen Mitteln arbeitenden, die vertikalen Linien betonenden monumentalen Baustil, wurde nach dem Diplom 1927 dessen Assistent und blieb es bis Anfang 1932. Als Student hatte er in Heidelberg die gleichaltrige Margarete Weber kennengelernt, die er 1928 in Berlin gegen den Willen von Speers Mutter heiratete. Zwischen 1934 und 1942 bekamen sie sechs Kinder, von denen einige selbst bekannte Persönlichkeiten wurden. Sein Sohn Albert war ebenfalls Architekt und Stadtplaner von internationalem Rang, seine Tochter Hilde Schramm Erziehungswissenschaftlerin und ehemalige Vizepräsidentin des Berliner Abgeordnetenhauses für die Alternative Liste.
Speers Hinwendung zum Nationalsozialismus Anfang der 1930er Jahre erfolgte aus eigenem Antrieb und nicht aus dem Wunsch nach Versorgungssicherheit: „Für einen großen Bau hätte ich, wie Faust, meine Seele verkauft.“ Er wollte bewusst nicht – wie sein Vater – Miets- und Privathäuser, Gewerbebauten, Villen oder vereinzelt auch mal öffentliche Gebäude errichten. 1930 erhielt er den ersten Bauauftrag einer nationalsozialistischen Organisation: Eine Berliner NS-Kreisleitung beauftragte ihn, eine angemietete Villa in Berlin-Grunewald in ein Parteibüro umzubauen. Danach erhielt er von Joseph Goebbels den Auftrag, das neue Gauhaus in der Voßstraße für Parteizwecke umzugestalten. Beide Aufträge „stellten geringe Ansprüche an sein architektonisches Können, gaben ihm aber die Gelegenheit, sein Organisationstalent unter Beweis zu stellen und sich bekannt zu machen“, so sein Biograph Ludolf Herbst.
Die Entwürfe entsprachen dem Repräsentationsbedürfnis der schnell wachsenden Partei; er übertrug den nationalsozialistischen Gedanken erfolgreich in eine architektonische Ästhetik. Im Januar 1931 trat Speer der NSDAP bei. Seit 1933 entwarf er die Bauten und die Fahnen- und Scheinwerferinszenierungen für die Maifeier der NSDAP und die Nürnberger Reichsparteitage. Besonders Hitler und Goebbels fanden Gefallen an dieser Choreographie, die der nationalistischen Propaganda eine ins Grandiose gesteigerte Fassade gab. Hitler begriff Speer „als Künstler, dem es gelungen war, ein Lebensziel zu verwirklichen, an dem er selbst gescheitert war“, meint Herbst. Bald gehörte er zur engsten Entourage des Führers und nutzte die Möglichkeit, Macht zu akkumulieren, die seinen fehlenden Rückhalt in der NSDAP mehr als kompensierte. 1933 wurde er in Anerkennung seiner wichtigen Rolle als Propagandachoreograph zum „Amtsleiter der NSDAP für die künstlerische Gestaltung von Großveranstaltungen“ berufen, seit 1934 leitete er das Amt „Schönheit der Arbeit“ in der Deutschen Arbeitsfront.
Speer war verantwortlicher Leiter der „Lichtdome“ im Rahmen des Parteitages von 1934. Im selben Jahr ernannte ihn Hitler nach dem Tod seines bevorzugten Architekten Paul Ludwig Troost zum „Architekten des Führers“, 1936 zum Professor und 1937 zum „Generalbauinspekteur für die Reichshauptstadt Berlin“ (Germania) im Rang eines Staatssekretärs. Dafür sollte im Spreebogen als größter Kuppelbau der Welt die Große Halle nördlich des Reichstagsgebäudes entstehen, die über die „Nord-Süd-Achse“ mit einem neuen „Südbahnhof“ an der Stelle des heutigen Bahnhofs Südkreuz in Berlin-Tempelhof verbunden werden sollte. Zwischen 1938 und 1939 baute Speer in Berlin die neue Reichskanzlei. In diesem Zusammenhang war Speer direkt für die „Entmietung“ der jüdischen Bevölkerung Berlins und deren Abtransport in die Konzentrationslager verantwortlich. Auf diese Weise wurden bis zu 18.000 Wohnungen „requiriert“. Nur wenige seiner Gebäude sind erhalten, die Neue Reichskanzlei ist gänzlich zerstört.
Mit Heinrich Himmler vereinbarte Speer die Herstellung und Lieferung von Baumaterial durch KZ-Häftlinge. Das Kapital für die von der SS gegründete Firma „Deutsche Erd- und Steinwerke GmbH (DEST)“ wurde aus dem Haushalt Speers finanziert. Das Geld floss direkt in den Aufbau des KZ-Systems. Der zinslose Kredit für die SS-Totenkopfverbände war rückzahlbar an Speers Behörde in Form von Steinen. Deshalb wurden fast alle KZs zwischen 1937 und 1942 in der Nähe von Tongruben oder Steinbrüchen gebaut. Nach der Besetzung Frankreichs im Juni 1940 wurde in den Vogesen auf Vorschlag Speers das Konzentrationslager KZ Natzweiler-Struthof errichtet, um den dort vorkommenden roten Granit zu brechen. Auch für das KZ Groß-Rosen in Schlesien legte Speer 1940 den Standort nahe den dortigen Granitvorkommen selbst fest.
Das „Rüstungswunder“
Wenige Stunden nach dem tödlichen Flugzeugabsturz des Rüstungsministers Fritz Todt im Februar 1942 ernannte Hitler für viele überraschend Speer zu dessen Nachfolger in allen Ämtern, also zum Reichsminister für Bewaffnung und Munition, Leiter der Organisation Todt und zum Generalinspektor für das deutsche Straßenwesen, Generalinspektor für Festungsbau und Generalinspektor für Wasser und Energie. Von seinen Aktivitäten als Organisator des Straßenbaus ist die Linienführung einiger Autobahnstrecken, die er der Landschaft harmonisch einzufügen versuchte, übriggeblieben. Im September 1942 besprach Speer mit Oswald Pohl die Vergrößerung von Auschwitz und stellte dazu ein Bauvolumen von 13,7 Millionen Reichsmark zur Verfügung. In einer auf Gespräche von Speer, Pohl und dem Leiter für das Bauwesen der SS Hans Kammler basierenden Bauakte sind auch die „Kostenüberschläge“ zur „Sonderbehandlung“ mit dem „Gleisanschluss“ für die Rampe, die neuen Krematorien und andere Maßnahmen festgehalten. Nach Abschluss der Verhandlungen hob Amtschef Kammler das „außerordentlich große Bauvolumen“ des Bauvorhabens hervor, das er „Sonderprogramm Prof. Speer“ nannte. Speer hörte auch Himmlers berüchtigte Rede auf der Gauleitertagung in Posen am 3.10.1943, in der dieser die Praxis der Massenvernichtung offenlegte.
Im selben Jahr erfolgte Speers Berufung zum Reichsminister für Rüstung und Kriegsproduktion. In dieser Funktion war er für die Ausbeutung und Vernichtung Tausender von Zwangsarbeitern und KZ-Häftlingen verantwortlich, mit deren Hilfe er die Kriegs- und Rüstungsziele zu erreichen suchte. Speer konnte seinen Machtbereich erheblich ausdehnen: Im Juli 1943 kam die Marinerüstung hinzu. Im September übernahm er wesentliche Funktionen des Reichswirtschaftsministeriums. Damit war er auch für die wichtigsten Bereiche der zivilen Wirtschaft zuständig – jetzt lautete sein Titel „Reichsminister für Rüstung und Kriegsproduktion“. Schließlich übernahm er 1944 auch die Luftrüstung. Bis zum Herbst 1944 stieg die Rüstungsproduktion in einer als erstaunlich wahrgenommenen Weise an, trotz der Zerstörungen durch alliierte Bombenangriffe. Später sprach man zum Teil von einem „Rüstungswunder“.
Zu dieser Zeit begannen seine Handlungen widersprüchlich zu werden, er erkannte die bevorstehende Niederlage. So führte er heftige Auseinandersetzungen mit Joseph Goebbels: Während Speer die Rüstungsproduktion steigern wollte, suchte Goebbels dieser die Arbeiter zu entziehen, um sie der Wehrmacht zuzuführen. Im März 1945 verweigerte Speer die Ausführung des Befehls „verbrannte Erde“, die gesamte deutsche Infrastruktur zu zerstören. Hitler ernannte Speers Stellvertreter Karl Saur in seinem Politischen Testament vom 29. April 1945 zu Speers Nachfolger. Speer widersetzte sich nicht. Am 24. April traf er sich in Berlin ein letztes Mal mit Himmler, wobei offen bleibt, ob er bei diesem Treffen sondieren wollte, inwieweit er Himmlers Kontakte zu Mittelsmännern im Westen für sich selbst nutzen könne. Jedenfalls hielt er sich anschließend bei Karl Dönitz in Schleswig-Holstein auf und gehörte nach Hitlers Tod dem Kabinett Dönitz an, bevor er am 23. Mai 1945 von den Briten auf Schloss Glücksburg verhaftet wurde.
Da er sich zu einer Mitschuld bekannte, gar ein eigenes Gasattentat auf Hitler erfand, wurde er 1946 durch das Internationale Militärtribunal in Nürnberg wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit für schuldig befunden und zu einer 20jährigen Haftstrafe verurteilt, die er bis 1966 als „Häftling Nr. 5“ im internationalen Militärgefängnis in Berlin-Spandau verbüßte. Seine langjährige Sekretärin Annemarie Kempf hatte als Zeugin durch positive Aussagen und gesammeltes Entlastungsmaterial versucht, das Urteil zu mildern. Der Todesstrafe entkam Speer nur sehr knapp. Zunächst votierten der sowjetische und der amerikanische Richter für Tod durch den Strang, während der französische sowie der britische Richter eine Haftstrafe verhängen wollten. Da eine Mehrheit notwendig war, musste später die Abstimmung wiederholt werden, in der sich der amerikanische Richter schließlich umstimmen ließ.
„eine Nase gedreht“
In der Haft verfasste er seine Memoiren. Deren Dreh- und Angelpunkt ist die persönliche Beziehung zwischen ihm und Hitler; sie zeigen, in welchem Umfang er von dem Diktator psychisch abhängig war – in seinem „Bann“ stand, wie er selbst formulierte. Da von anderen Führungsgestalten des Dritten Reiches keine Memoiren vorliegen, kommt den Speer-Erinnerungen (1969) und seinen „Spandauer Tagebüchern“ (1975), die die Memoiren fortsetzten und ergänzten, eine erhebliche Bedeutung als Quelle zu. Doch damit konstruierte Speer die Legende von seiner Schuldlosigkeit auf literarischer und filmischer Ebene als unpolitischer Technokrat, ja „guter Nazi“ weiter. Dabei unterstützte ihn unabsichtlich Hitler-Biograph Joachim Fest, der 1969 einen dokumentarischen Film mit Speer drehte und später äußerte, Speer habe „uns allen mit der treuherzigsten Miene der Welt eine Nase gedreht.“ Bei Speers Entlassung waren Hunderte Journalisten und Tausende Zuschauer zugegen.
Von Verlegerseite bekam Speer bei der Konstruktion seiner geschönten Lebensgeschichte unfreiwillige Unterstützung durch Wolf Jobst Siedler, der seine Bücher verlegte: Neben den „Erinnerungen“ 1981, für deren Vorabdruck Speer von der Welt 600.000 DM kassierte, auch „Der Sklavenstaat – Meine Auseinandersetzung mit der SS“. Speers Bücher werden zu einem der größten Memoirenerfolge der Bundesrepublik: „Deutschlands liebster Ex-Nazi“ nannte ihn Klaus Wiegrefe im Spiegel. Ein Neuanfang als Architekt scheiterte: Einen Anschluss an moderne Tendenzen der Architektur hatte er nicht gesucht, zum Bauhaus und zu Repräsentanten der Moderne wie Mies van der Rohe und Le Corbusier stand er in Distanz. Er lebte überwiegend in der Heidelberger Stadtvilla seines Vaters und verkaufte regelmäßig auch heimlich Werke aus einer NS-Raubkunst-Bildersammlung.
Speers Veröffentlichungen verursachten ein Zerwürfnis mit vielen ehemaligen Mitarbeitern und Weggefährten, die ihm – ähnlich wie Kreise der intellektuellen Linken – vorwarfen, sich wie in den 1930er Jahren erneut völlig dem Zeitgeist zu unterwerfen. Demnach sei Speer ein überzeugungsloser Opportunist, der versuchte, in der Öffentlichkeit der Bundesrepublik Fuß zu fassen. Es kam zum endgültigen Zusammenbruch seiner Beziehung zu seinem engen Freund aus Studienzeiten, Rudolf Wolters. Dieser stieß sich vor allem an der Diskrepanz zwischen Speers öffentlichen Buß-Bekenntnissen und seinem Lebensstil sowie Speers angeblichem Bruch mit Hitler. Albert Speer, so Wolters, sei „ein Mann, für den Geld und Geltung entscheidend waren“. In der Folge machte Wolters seine Akten dem Historiker Matthias Schmidt zugänglich, der 1982 eine erste kritische Biografie veröffentlichte. Im Jahr zuvor war Speer nach einem BBC-Interview in einem Hotelzimmer in London im Beisein seiner deutsch-englischen Freundin an einem Schlaganfall verstorben und in Heidelberg begraben worden.
„Speer ist ein Prototyp für die gesellschaftliche Gruppe der Funktionseliten, die sich bewusst für Hitler entschieden und dem Nationalsozialismus durch ihre Fachkenntnisse erst seine eigentliche Dynamik gegeben haben“, bilanziert der Historiker Magnus Brechtken. „Ohne die ganzen Mediziner, Juristen und Verwaltungsfachleute hätte die Herrschaft gar nicht so gut funktionieren können. Speer war im Grunde nur einer der Engagiertesten, Ehrgeizigsten und Fleißigsten. Deswegen war er nach 1945 auch die ideale Figur für alle, die sagen wollten: ‚Ich habe zwar mitgemacht, aber von den Verbrechen habe ich nichts mitbekommen.‘ Selbst Leute, die ganz vorne mitmarschiert sind, waren ja hinterher angeblich nicht beteiligt. Speer wusste wie alle anderen genau, was er getan hatte. Er hat das nachher sehr erfolgreich geleugnet und verdrängt.“ Zeitlebens räumte er eine Gesamtverantwortung ein. Persönliche Schuld aber nie.