Der Großvater Karls des Großen
21. Oktober 2021 von Thomas Hartung
Der italienische Liedermacher Fabrizio Cristiano de André widmete ihm noch Ende der 1960er Jahre eine 28 Terzetten umfassende Ballade. Das Lied belegt in poetischer Weise, dass der fränkische Herrscher Spuren hinterlassen hat, die bis in unsere Gegenwart hinein reichen. Der österreichische Mediävist Andreas Fischer weiß in der Welt, dass maßgeblich seine militärischen Erfolge dazu beigetragen haben, die ihm ab 875 seine Beinamen Tudites („Stoßer“), später Malleus bzw. Martellus („Hammer“) einbrachten: „Insbesondere sein Sieg über die Araber und Berber in der Schlacht bei Poitiers im Jahr 732 hat ihn zur Identifikationsfigur für die Verteidigung des christlichen Europa gegen den Islam werden lassen.“
Allerdings hinterließ die Schlacht auch in der späteren arabischen Geschichtsschreibung tiefe Furchen – und kommt freilich in ihrer Synthese zu einem anderen Ergebnis, wie, auch in der Welt, der Bonner Islamist Stephan Conermann berichtet: „Zur Verteidigung der eigenen Kultur hat man Anfang des 20. Jahrhunderts von arabischer Seite behauptet, wenn dieser Karl uns nicht besiegt hätte, dann hätten wir eben tatsächlich das gesamte Abendland besiegt. Dann wäre es allerdings auch nie dazu gekommen, dass Europa uns im 16., 17., 18. Jahrhundert so besiegt und so dominiert hätte wie es jetzt der Fall ist.“ Wie auch immer – er stärkte damit seine Stellung innerhalb der fränkischen Notablen und wurde zum Begründer der Karolinger-Dynastie: Karl Martell, der am 22. Oktober 741 in der Königspfalz Quierzy nach schwerer Krankheit ruhig im Bett starb.
Dabei war seine dynastische Karriere gar nicht vorgesehen: Der Sohn Pippins des Mittleren – der zuerst Hausmeier in Austrasien, später Neustrien war -, kam zwischen 688 und 691 unehelich zur Welt und wurde von Bischof Rigobert von Reims getauft. Über das Verhältnis des Heranwachsenden zu seinem Vater, seinen Halbbrüdern Drogo und Grimoald und seiner Stiefmutter Plektrud ist nichts bekannt. Ebenso unklar sind seine Ausbildung, sein tatsächliches Aussehen und seine Jugend; angeblich lernte er nie richtig lesen und schreiben. Er ist der einzige zur Herrschaft aufgestiegene Karolinger, über dessen Aktivitäten vor dem Tod seines Vaters keine Nachrichten vorliegen, und wurde, anders als die beiden Söhne von Pippin, in keiner Weise an der Herrschaftsausübung beteiligt.
705 heiratete er Chrotrud, die ihm die Söhne Karlmann und Pippin den Jüngeren sowie die Tochter Hiltrud gebären wird. Es sei eine Liebesheirat gewesen, wird bis heute kolportiert: Laut Thomas R.P. Mielke führte Karl stets einen Becher mit sich, der aus der Wurzel des Rosenbuschs geschnitzt war, unter dem Karl und Chrotrud das erste Mal beieinander lagen. Nach ihrem Tod 725 ehelicht er die bayrische Prinzessin Swanahild, mit der er noch den Sohn Grifo bekommt. Diese Ehe bildete die Grundlage für freundschaftliche Beziehungen zum Langobardenkönig Liutprand. Mit seiner Nebenfrau Ruadheid zeugt er noch drei weitere Söhne, darunter Remigius, später Bischof von Rouen.
„sorgte für das eigene Seelenheil vor“
Da die beiden Halbbrüder früh starben, sicherte Plektrud nach Pippins Tod 714 ihrem Enkel Theudoald die Nachfolge im Hausmeieramt und nahm, um Ansprüchen Karls vorzubeugen, ihn kurzerhand in Haft: die „pippinidisch-karolingische Sukzessionskrise“ begann. Gegen Plektrud rebellierten zunächst neustrische Große, die 715 Theudoald besiegten, 716 einen Mönch Daniel als neuen König Chilperich II. erhoben und bis nach Köln vordrangen, um sich Plektruds Schätzen zu bemächtigen. Unterdessen war es Karl gelungen, aus der Haft zu entkommen, führende Anhänger Plektruds auf seine Seite zu ziehen und sich die Unterstützung des angelsächsischen Missionars Willibrord zu sichern. Nach einer Niederlage gegen die Friesen von Radbod – es blieb zeitlebens seine einzige – besiegte er die Neustrier 716/17 in zwei Schlachten. Anschließend belagerte er Plektruds Kölner Residenz und zwang sie zur Herausgabe des merowingischen Königsschatzes, womit der Übergang der Herrschaft versinnbildlicht wurde: Der Königsschatz als Machtmittel ermöglichte es seinem Besitzer, Gefolgsleute materiell zu belohnen und so deren Loyalität zu sichern.
Plektrud gab ihre politischen Ambitionen auf und wurde Stifterin des Kölner Konvents von St. Maria im Kapitol. Nach mehrjährigen Wirren erkannte Karl Chilperich an – ein kluger Schachzug, denn so konnten die Neustrier an ihrem König festhalten, während Karl damit die Akzeptanz seiner Herrschaft erhöhte. Nach Chilperichs Tod 721 erhob er mit dem etwa zehnjährigen Theuderich IV. einen neuen Merowingerkönig und beendete zwei Jahre später die Sukzessionskrise, indem er zwei Halbneffen Drogos inhaftieren ließ, da er Ansprüche von ihnen befürchtete. Bis 737 nun versuchte er als „Reisekönig“ seine Herrschaft auch an den äußeren Grenzen des Frankenreichs zur Geltung zu bringen. Die kriegerischen Aktivitäten richteten sich gegen die Völker der Friesen, Sachsen, Alemannen und Bayern sowie die Regionen Aquitanien, Burgund und Provence. Dabei variierte das Ausmaß der Einverleibung der jeweiligen Territorien: Offenbar beabsichtigte Karl die nicht immer.
So veranstaltete er mehrere Strafexpeditionen gegen die Sachsen als Vergeltungsschläge für deren Vorstöße und betrieb die Eingliederung Alemanniens ins Frankenreich. Mit Karls Hilfe gründete der heute als heilig verehrte Abtbischof Pirmin zwischen Bodensee/Schwarzwald und Vogesen mehrere Klöster, darunter Reichenau (724), Gengenbach (nach 727) und Maursmünster (728). Die Eingliederung Mainfrankens und Thüringens gelang Karl ohne Kriegszug, auch hier kam es durch Bonifatius zur Gründung von Klöstern, ja ganzen Bistümern. Die Hildesheimer Historikerin Monika Suchan beschreibt diese Herrschaftspraxis im DLF so: „Er band Gefolgsleute und Familienangehörige durch die Übertragung von Funktionsstellen wie Bischofs- oder Abtswürden an sich, setzte sich aber auch für den Schutz kirchlichen und klösterlichen Besitzes ein und sorgte damit für das eigene Seelenheil vor.“ Andererseits säkularisierte er auch Kircheneigentum nach Belieben, um seine Armee zu finanzieren. Im weiteren Verlauf des Mittelalters bildeten sich daher zwei Erinnerungsstränge heraus: Das negative Bild eines Kirchenräubers und das höchst positive eines glorreichen Feldherrn.
734 besiegte er das Heer der Friesen und tötete Herzog Bubo (Poppo) in der Schlacht an der Boorne, womit der Niedergang des Friesischen Großreichs begann. Auch in Bayern mischte er sich ein und unterwarf zuletzt schrittweise Burgund und die Provence. Der Koblenzer Mediävist Ulrich Nonn bilanziert im DLF: „Sein ganzes Leben ist im Wesentlichen geprägt von einer Vielzahl von Feldzügen. Es gibt in den kargen Annalen, den Jahrbüchern aus dieser Zeit, zum Jahr 740 ist es, glaube ich, die Nachricht: kein Feldzug. Das wurde als eine Besonderheit dargestellt, weil Karl fast jedes Jahr – sei es gegen Sachsen an der Grenze, sei es gegen Alemannen, sei es gegen Aquitanien, also modern: im Süden Frankreichs kämpfte, und eben in einer Reihe von Schlachten gegen die große Bedrohung der Sarazenen.“ Denn letztere setzten 711 bei Gibraltar übers Mittelmeer, zerschlugen sämtliche Heere der spanischen Westgoten und eroberten nur drei Jahre später fast die gesamte iberische Halbinsel.
„ein zu Eis erstarrter Gürtel“
Über die Pyrenäen ging die Invasion jetzt nordwärts; 725 wird das Heer des Herzogs Eudo von Aquitanien geschlagen. Eudo flieht nach Paris, in Karls Residenz, und macht ihm Angst: Die wilden Reiter aus dem Morgenland seien pfeilschnell, grausam und zahllos, verspeisen mit Vorliebe Herz und Leber ihrer gefallenen Gegner und plündern und sengen, so dass ganz Südfrankreich einer Wüstenei gleiche. Karl springt darauf an, weiß aber, dass er sich auf sein kampferprobtes Heer verlassen kann. Das besteht zum einen aus dem mit der „Francisca“ bewaffneten Fußvolk – einer Streitaxt, die mit einer Schnur auf kurze Distanz gegen den Feind geschleudert wird und für deren Zustand ihr Träger persönlich verantwortlich ist: Für Nachlässigkeit sind hohe Geldstrafen fällig. Karls entscheidende Streitkraft bilden zum anderen die schweren Reiter auf holzverstärkten Ledersätteln und Steigbügeln mit Helm, Beinschienen und Panzerhemden; die Ausfuhr letzterer war bei Todesstrafe verboten.
Abd er-Rachman, Feldherr des mächtigen Kalifen von Damaskus, weiß zwar, dass bei diesen schweren Kavalleristen Vorsicht geboten ist. Doch als ihm seine Späher melden, das Frankenheer sei mit allenfalls 15.000 Mann lächerlich klein, wird er wagemutig: Schließlich haben die Truppen der Moslems noch nie eine Niederlage im Feld erlitten. Normalerweise sind die arabischen Heere jener Zeit allen anderen an Beweglichkeit weit überlegen. Doch auf ihrem Raubzug haben sich die leicht bewaffneten und berittenen Soldaten derart mit Beute bepackt, dass sie diesen Vorteil einbüßen. Karl hingegen lässt nur wenig Gepäck zu und kann die Araber ausmanövrieren. Bei Tours verlegt er ihnen den Weg. Abd er-Rachman hat nur zwei Möglichkeiten: Kampf oder Rückzug. Letzteres ist für den stolzen Moslem undenkbar, also wählt er am 10. Oktober 732 (nach anderen Angaben auch am 18. oder 25.) mit knapp 50.000 Mann die Offensive.
Die Schlachtordnung der Araber besteht aus drei Linien mit allegorischen Titeln: Die erste „Morgen des Hundegebells“ wird von ausgeschwärmten Reitern gebildet; die zweite „Tag der Hilfe“ und die dritte „Abend der Erschütterung“ bestehen aus dichten Reiter- und Fußvolkkolonnen. Die unaufhörlichen Angriffe der arabischen Kavallerie prallen an dem Fußvolk der Franken ab. Der spanische Chronist Isidorus Pacensis berichtet: „Die Männer aus dem Norden standen bewegungslos wie eine Mauer. Wie ein zu Eis erstarrter Gürtel wichen sie nicht und erschlugen ihre Feinde mit dem Schwert.“ Karl beschließt nun, diesen Erfolg auszunutzen, und lässt seine Panzerreiter eingreifen. Er durchbricht an ihrer Spitze die feindlichen Reihen, dringt bis zum arabischen Hauptlager vor und vernichtet alles, was sich den Franken in den Weg stellt. Dass er persönlich seinen Widersacher Abd er-Rachman erschlagen hat, ist eine fromme Legende – der Feldherr kommt während der regellosen Flucht ums Leben. Paulus Diaconus gab in der Historia Langobardorum die Verluste der Sarazenen mit 375.000 Mann an; auf fränkischer Seite seien nur 1.500 Mann gefallen. Real dürften es 5.000 bzw. 1.000 sein.
„Retter des Abendlandes“
Fünf Jahre später beginnt mit dem Tod von Theuderich Karls kurze Zeit der Alleinherrschaft: Bis zu seinem Tod regiert er das fränkische Gesamtreich allein, er war Hausmeier ohne König – eine in der Geschichte des Frankenreichs bislang einmalige Konstellation, deren Beurteilung die ungünstige Quellenlage dieses Zeitraums erschwert. Er hatte seine Stellung durch seine militärischen Erfolge weitgehend abgesichert, dadurch auch sein Ansehen gesteigert und zugleich wichtige Positionen mit seinen Gefolgsleuten und Verwandten besetzt. Seine Stellung als „erwählter Hausmeier“ ließ er laut Andreas Fischer und Matthias Becher von den Franken auf einer Reichsversammlung absichern. Damit setzte sich die Entwicklung zur königsgleichen Herrschaft der Hausmeier fort: Seit 697 ist keine einzige Hofversammlung in Anwesenheit des Königs überliefert.
Am Ende dieses Prozesses waren die merowingischen Könige nur noch Marionetten der rivalisierenden Adelsfraktionen. Denn Karl hatte vor seinem Tode eine Reichsteilung nach Königsart vorgenommen, indem er dem älteren Sohn Karlmann Austrien mit Alemannien und Thüringen, Pippin dem Jüngeren Neustrien mit Burgund und der Provence zusprach – er wird der Vater Karls des Großen werden. Grifo sollte im Reichsinnern ausgestattet werden; Bayern und Aquitanien blieben außerhalb dieser Teilung. Ihren Halbbruder Grifo und dessen Mutter setzten Pippin und Karlmann nach Karls Tod gefangen und nahmen 742 eine erneute Reichsteilung vor, die Grifo nicht mehr berücksichtigte. Veranlasst durch Aufstände erhoben sie 743 mit Childerich III. letztmals einen Merowingerkönig. Mit Pippins Erhebung zum König der Franken endete 751 die Phase von machtvollem Hausmeier und schwachem König. Den letzten Merowingerkönig setzte Pippin ab und wies ihn ins Kloster ein.
Bestatten ließ sich Karl Martell in der einstigen Abteikirche Saint-Denis, seit 564 Grablege aller fränkischen und lange Zeit auch der französischen Herrscher. Ab Mitte des 11. Jahrhunderts verblasste im Reich die Erinnerung an Karls Sieg; für Marianus Scottus und Frutolf von Michelsberg war die Schlacht keinen Jahreseintrag wert. Eine Aufwertung seiner Stellung erfuhr er im 13. Jahrhundert: Bei der Grabmalanordnung unter Ludwig IX. 1246/47 wurde er in die Reihe der Könige eingeordnet. Der britische Historiker Edward Gibbon nannte ihn 1788 erstmals „Retter des Abendlandes“ und behauptete, ohne den Sieg Karls hätte es längst in Paris und London Moscheen gegeben, und in Oxford wäre statt der Bibel der Koran gelehrt worden. Ein Schlachtschiff der französischen Kriegsmarine wurde 1897 nach Karl Martell benannt. Seit den 1990er Jahren mehren sich dagegen Stimmen, welche die Bedeutung von Karls Schlachtensieg relativieren und den Erfolg als Abwehr einer insgesamt schon abflauenden Bewegung ansehen.
Im Sommer 2020, nach der vorläufigen Urlaubs-Wiederöffnung der pandemiegeschlossenen Grenzen, veröffentlichte die FAZ übrigens eine Anti-Serie „Reisewarnungen“ mit Zielen, „die man tunlichst vermeiden sollte“. Gleich die zweite Folge widmete sich dem französischen Poitiers. Darin hieß es: „Es lohnt sich nicht. Es gibt nichts zu sehen, außer einer alten, düsteren Kathedrale, ein paar unbehauenen Steinblöcken aus der Vorzeit und einer Erinnerungstafel an eine Schlacht im 8. Jahrhundert, bei der Karl Martell die Muslime zurückgeschlagen haben soll. Inzwischen wird die Bedeutung der Schlacht von Historikern angezweifelt. Dass das Abendland hier gerettet wurde, glauben nur noch ein paar Identitäre, die auf dem Dach der örtlichen Moschee mit Plakaten fuchteln, auf denen steht: ‚Gallier wach auf, Du bist hier zu Hause‘.“ So tragen Medien Tradition und Geschichte nicht weiter, sondern schreiben sie bewusst klein und schaffen sie damit ab.