„Pull-it-Sir“
28. Oktober 2021 von Thomas Hartung
Er ist zu groß, zu dünn, sieht schlecht – und will doch Soldat werden. Allerdings wird er von einer Armee nach der anderen abgelehnt: vom österreichischen Militär, der französischen Fremdenlegion, der britischen Armee. Ein anderes Land, weiter weg, befindet sich jedoch im Krieg und braucht jeden Mann: In den Vereinigten Staaten kämpfen Südstaaten gegen Nordstaaten. In Hamburg verpflichtet er sich für die U.S. Union Army, die Nordstaatentruppe; für Kriegsfreiwillige ist die Atlantiküberfahrt kostenlos. Er landet 1864 in Boston und kämpft auf der Seite der Nordstaaten – ohne ein Wort Englisch zu sprechen.
19 Jahre später kauft er die Abendzeitung New York World für 346.000 Dollar und steigert die Auflage von 15.000 auf 600.000 Exemplare. Sein erstes Editorial geriet zu einem Manifest für die Unabhängigkeit des Journalismus. Dessen Aufgabe sei der Kampf für Fortschritt und Veränderung, gegen Ungerechtigkeit, Armut und Korruption. Verleger und Journalisten dürften keiner Partei angehören und müssten auch sonst „radikale Unabhängigkeit“ bewahren. Kurz zusammengefasst: Zeitungsmenschen seien nicht spezifischen Interessen, sondern dem Allgemeinwohl verpflichtet. Diese wesentlichen Grundprinzipien schreibt rund 150 Jahre später der Bundesverband deutscher Zeitungsverleger als „Wächterrolle“ in sein Leitbild. Seit 1969 vergibt die „Stiftung Freiheit der Presse“ jährlich einen „Wächterpreis der deutschen Tagespresse“, darunter 1990 an Michael Klonovsky.
Er wie auch sein Hauptkonkurrent William Randolph Hearst versuchten dennoch mit wahren, aber auch gefälschten Sensationsmeldungen die „kleinen Leute“ auf ihre jeweilige Seite zu bringen. Höhepunkt: der Aufstand der Kubaner gegen die spanische Kolonialmacht und der daraus folgende amerikanisch-spanische Krieg. Die Kubaner wurden zu Opfern einer rücksichtslosen Kolonialmacht stilisiert – und die US-Amerikaner als ihre Retter: Der Kongress stimmte schließlich einer Kriegserklärung von US-Präsident William McKinley zu, nachdem das Kriegsschiff „USS Maine“ am 16. Februar 1898 aus ungeklärter Ursache im Hafen von Havanna explodiert war und 260 Menschen starben. Die „Goldenen Tage des Printjournalismus“, in denen mehrere Ausgaben täglich gedruckt, von den Zeitungsjungen, den „News Boys“, auf der Straße ausgerufen und an den Leser gebracht wurden, waren geboren, und er war einer der Geburtshelfer: Joseph Pulitzer, der am 29. Oktober 1911 starb.
stark sensationalistisch
Pulitzer wurde am 10. April 1847 als ältester Sohn eines wohlhabenden ungarisch-jüdischen Kornhändlers und einer streng katholischen deutschen Mutter in Makó bei Szeged geboren und nach dem Umzug der Familie nach Budapest auf Privatschulen und von Privatlehrern unterrichtet. Nach dem Tod des Vaters ging es aber rapide bergab, so dass er die Chance in den USA wahrnahm und bis zum Ende des Bürgerkriegs im 1. New Yorker Kavallerie-Regiment diente, das hauptsächlich aus Deutschen bestand. Nach vielen Gelegenheitsjobs, unter anderem als Kofferträger und Kellner, die er teilweise als Obdachloser bestritt, wurde er 1867 nach mehreren Schummeleien amerikanischer Staatsbürger: er sei fünf und nicht erst drei Jahre im Land, und er erfand zudem einen Abschluss in Jura. Auf Arbeitsuche kam er 1868 nach St. Louis (Missouri).
Die Anekdote besagt, er habe in einem Schachklub zwei spielende Männer beobachtet und einen Schachzug kommentiert. So lernte er Emil Preetorius kennen, Mitherausgeber der überregionalen deutschen Zeitung Westliche Post, bei dem er als „Mädchen für alles“ anheuert. Er folgt Gerüchten, deckt Missstände auf, lernt den Job von der Pike auf. Als Lokalreporter wichtigen Leuten nachzurennen, in Geschäften sich nach Stories umzuhören war alles andere als ein Vergnügen, noch dazu, wenn man wegen einer größeren Nase mit der Verballhornung „Pull-it-Sir“ gehänselt wurde. Doch er machte seine Sache gut, wurde bald von Kollegen anerkannt und zum Lieblingsschüler von Preetorius. Durch den Kontakt zu den richtigen Leuten fand Pulitzer sehr schnell heraus, wie Politik im Land gemacht wurde: über und mit der Presse.
So lernte er, wie freundliche Berichterstattung über Parteien oder Personengruppen sich in Form von Inseratenaufträgen bezahlt machte – eine Erkenntnis, die im Übrigen auch heute noch gilt. Für den Amerikanisten Wolfgang Hockbruck ist er im WDR „eigentlich der Erfinder einer unabhängigen Presse in den Vereinigten Staaten gewesen. Regierungskritisch. Immer da, wenn eine Regierung oder Regierungsämter – was in Washington damals schon ziemlich häufig vorkam – in Korruptionsskandale verwickelt waren. Gleichzeitig arbeitet er stark sensationalistisch.“
In den folgenden Jahren machte er seine ersten politischen Gehversuche als Unterstützer von Freunden des liberalen Flügels der Republikaner in St. Louis. Durch einen Zufall – ein anderer Kandidat war erkrankt und Pulitzer war bei der Wahl zufällig anwesend – kam er auch kurzfristig ins Parlament von Missouri. Politisch verfolgte er ein Hauptziel: den Kampf gegen die Korruption und Verschwendung von öffentlichen Geldern. Einer der Anlässe war der Bau eines Asyls für Geisteskranke in St. Louis, bei dem einiges schief gelaufen war.
1872 stand die Westliche Post ziemlich schlecht da: Sie hatte bei Wahlen die falschen Kandidaten unterstützt, so dass jetzt Leser, Unterstützer und Inserate ausblieben. Doch Pulitzer, inzwischen durch seine politische Tätigkeit zu bescheidenem Vermögen gekommen, half aus und erwarb einen Anteil an der Zeitung. Doch bald kam es zu Unstimmigkeiten mit den Mitherausgebern. Pulitzer ließ sich ausbezahlen und erhielt ein Vielfaches seiner Einlagen zurück – über 30.000 Dollar. Plötzlich war er ein gemachter Mann, der nicht mehr regelmäßig arbeiten musste.
Er reiste nach Europa, befasste sich privat ein wenig mit juristischen Studien, um im amerikanischen Rechtssystem sattelfest zu werden, passte Kleidung und Wohnadresse an die neuen finanziellen Verhältnisse an und war bereit für risikoreichere Investitionen. So kaufte er eine bankrotte Zeitung auf, die aber einen lukrativen Anteil an einem Vertriebssystem hatte. Keine zwei Tage später verkaufte er sie wieder mit dem beachtlichen Gewinn von 20.000 Dollar. Aus einer risikoreichen Investition in den Bau eines Schifffahrtskanals zum Mississippi generierte er ebenfalls einige zehntausend Dollar.
„Konzentration auf das Wesentliche!“
Auch politisch orientierte sich Pulitzer neu: Nach Unstimmigkeiten mit seinen republikanisch orientierten Freunden und ehemaligen Förderern wechselte er die Seite und wurde im Herbst 1874 Demokrat. Vor allem seine jüdische Herkunft, die er zu verschleiern suchte, machte es ihm nicht leicht: Die New York Times schrieb 1876: „Pulitzer gehört zu der großen Gruppe unbeachteter Narren, die sich fälschlicherweise für bedeutende Männer halten“. 1878 gelang Pulitzer die familiäre Etablierung: Er heiratete Kate Davis, Tochter eines heruntergekommenen Plantagenbesitzers. Wenige Tage vor der Hochzeit brachte er seine Braut zur Verzweiflung, weil er plötzlich nach New York verschwand, um eine bankrotte Zeitung zu kaufen – was er dann aber doch nicht tat. Mit Kate hatte er dann sieben Kinder haben, von denen zwei sehr früh starben.
Im selben Jahr kaufte Pulitzer in St. Louis eine finanzschwache Zeitung, die er später mit einer anderen kränkelnden lokalen Zeitung zum St. Louis Post-Dispatch verband. Damit beherrschte er den boomenden Abendzeitungsmarkt in St. Louis. In kurzer Zeit konnte er die Auflage von 4.000 auf 20.000 Exemplare steigern. Sein Erfolgsgeheimnis: „Wir brauchen in der Zeitung jeden Tag mindestens eine außergewöhnliche, eine gut recherchierte Geschichte.“ Eine Geschichte „to talk about at dinner table“ sagte er dazu – Stern-Chef Henri Nannen nannte das rund 100 Jahre später „Küchenzuruf“.
So wurden die Steuererklärungen sehr wohlhabender Mitbürger veröffentlicht, die sich dem Finanzamt gegenüber als mittellos deklarierten. Auch die schamlos hohen Monopoltarife der St. Louis Gas-Light Company konnte das Blatt mit Erfolg bekämpfen. Pulitzers Jahreseinkommen lag jetzt bei rund 50.000 Dollar, seine Zeitung warf einen Jahresgewinn von 150.000 Dollar ab. 1883 gelang es Pulitzer, eine große Werbe- und Spendenkampagne für den Bau des Sockels der Freiheitsstatue zu initiieren, um die nötigen Finanzmittel zu sammeln. Im selben Jahr wurde er ins US-Repräsentantenhaus gewählt.
Prompt wurde es ihm in St. Louis zu eng. Die Familie übersiedelte nach New York, wo auch sein jüngerer Bruder Albert im Zeitungsgeschäft tätig war – und er bei der New York World zugriff. Der Spruch in seinem Arbeitszimmer „The World has no friends“ sollte die Unabhängigkeit des Blattes dokumentieren. 1895 war sie die erste Zeitung auf der Welt, die mit teilweisem Farbdruck erschien und auch Comics veröffentlichte. Manche sagen, die Schlagzeilen seien nur so groß, damit der aufgrund seiner Diabetes fast blinde Pulitzer sie selbst lesen kann. Der Comic mit dem Yellow Kid, einem grinsenden Kind mit gelbem Kittel, wird das Markenzeichen der Zeitung und gibt der Yellow Press, der Sensationspresse, ihren Namen. „Genauigkeit! Klarheit! Konzentration auf das Wesentliche!“ – das sind Pulitzers Prinzipien für guten Journalismus. Er hatte auch ein gutes Gespür für junge Journalisten: So stellte er etwa Nellie Bly an. Sie war mit verdeckten Reportagen bekannt geworden und ließ sich unter anderem einmal in ein Haus für nervenkranke Frauen einweisen, um dort „undercover“ zu recherchieren. Sie gilt als erste Investigativjournalistin der Welt.
Nach dem viermonatigen Spanien-Krieg distanzierte sich Pulitzers World von dieser Art Journalismus, betrieb wieder schonungslosen, gut recherchierten, investigativen Journalismus und setzt auf gut recherchierte Stories – vielleicht auch, weil die Hearst-Presse derart skrupellos vorging, dass man sie in dieser Hinsicht perspektivisch schlecht übertrumpfen konnte. Dies brachte ihn und seine Zeitung in große Schwierigkeiten, als er 1909 den Bestechungsskandal um den Panamakanal, d. h. die Zahlung von 40 Millionen US-Dollar der USA unter dem US-Präsidenten Theodore Roosevelt an die French Panama Canal Company, aufdeckte. Pulitzer wurde daraufhin von Roosevelt und dem Finanzier J. P. Morgan verklagt. Aus dem Verleumdungsprozess ging Pulitzer siegreich hervor, was er als Sieg des freien Journalismus feierte und ihn noch populärer machte – doch lange konnte er sich nicht darüber freuen, denn zwei Jahre später starb er.
„Demokratieressource Journalismus dauerhaft sichern“
Schon 1892 wollte Pulitzer der Columbia University in New York einen hohen Geldbetrag für die Gründung eines Journalismus-Instituts spenden. Die Annahme wurde von der Universität, möglicherweise wegen Pulitzers drängendem Auftreten, jedoch abgelehnt. Nach seinem Tod vermachte er der Universität zwei Millionen Dollar, und 1912 wurde das Institut, das sich „Columbia University Graduate School of Journalism“ nannte, eröffnet. Seit 1917 wird von der Universität ebenfalls aus Pulitzers Nachlass jährlich der Pulitzer-Preis für hervorragende journalistische Arbeiten in verschiedenen Kategorien vergeben, seit 1948 auch für Publizistik. Die Liste der Preisträger liest sich wie ein Who is Who moderner US-Literatur: Ernest Hemingway, William Faulkner, Harper Lee, Saul Bellow, Norman Mailer, John Updike, Philip Roth. Die World wurde nach Pulitzers Tod von seinem Sohn weitergeführt, der 1913 das erste Zeitungs-Kreuzworträtsel der Welt veröffentlichte.
Den New Yorker Philharmonikern vermachte er daneben 700.000 Dollar, wogegen seine Erben erfolglos klagten. Zu seinen bekanntesten Zitaten gehört: „Es gibt kein Verbrechen, keinen Kniff, keinen Trick, keinen Schwindel, kein Laster, das nicht von Geheimhaltung lebt. Bringt diese Heimlichkeiten ans Tageslicht, beschreibt sie, macht sie vor aller Augen lächerlich. Und früher oder später wird die öffentliche Meinung sie hinwegfegen. Bekannt machen allein genügt vielleicht nicht – aber es ist das einzige Mittel, ohne das alle anderen versagen.“ Wie aber würde dann Pulitzer heute über das urteilen, was sich in Deutschland Journalismus nennt? „Wie bereits zu Pulitzers Zeiten kann das Verhältnis zwischen Medien und Politik als mindestens kompliziert bezeichnet werden. Wenn es aber um den Erhalt der Demokratie geht, so sitzen beide im selben Boot“, befand 2018 Hamburgs Mediensenator Carsten Brosda (SPD) in der Journalistik.
Prompt fragte Brosda, „ob die ökonomischen Probleme vieler Medienunternehmen perspektivisch die Qualität, Vielfalt und Freiheit der Presse strukturell einschränken.“ Und ebenso prompt kritisierte er: „Noch immer wird die Förderung von Journalismus nicht als eigenständiger gemeinnütziger Zweck anerkannt.“ Und genauso prompt forderte er „einen neuerlichen Blick darauf, welche Schritte notwendig sind, um die Demokratieressource Journalismus dauerhaft zu sichern.“ Das hat der Bundestag sicher auch im Blick gehabt, als er ein 200 Millionen Euro schweres Förderprogramm unter der Federführung des Bundeswirtschaftsministeriums beschloss. Der Tübinger Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen jubelte, dass kritischer, unabhängig recherchierender Journalismus unbedingt erhalten werden müsse, da er in einer Demokratie „systemrelevant“ sei – das Wort kennen wir seit der Bankenkrise.
Dass nahezu alle Zeitungen in Größenordnungen Leser verlieren, hat aber auch, wenn nicht nur, mit der Staatshörigkeit sowie Journalisten wie Relotius, Restle oder Reschke zu tun, sondern vor allem mit der Glaubwürdigkeitskrise eines Berufsstands, der weder seine Blase verlassen noch seinen volkpädagogisch-linken Impetus ablegen will. Selbst der US-Reporter Matt Taibbi befindet aktuell in der NZZ: „Doktrinärer Aktivismus ist ein Problem. Wenn ich die Storys eines bestimmten Mediums vorhersagen kann, weil ich seine politische Stoßrichtung kenne, dann betreibt es für mich Propaganda … Aktivistischer Journalismus macht abhängig – er ist intellektuell uninteressant, aber höchst effizient“. Subventionen fördern nun aber nicht die journalistische Unabhängigkeit, sondern führen zur Huldigung der Subventionierenden. Es ist ein Zeichen demokratischer Reife, wenn Leser aufwachen und sich dem gesteuerten Zugriff auf die eigene Urteilsfähigkeit entziehen. Das ist das eine.
„freiwillige Gleichschaltung“
Das andere ist ein „Tendenz-Journalismus“ als „Begleiterscheinung einer Gesellschaft, die immer mehr von staatlicher Bevormundung, Intoleranz und Beschränkung der Freiheit geprägt ist, in der Ideologie Pragmatismus verdrängt, Emotion die Vernunft, Radikalität das Augenmaß, elitäres Bewusstsein die Nähe zu den Bürgern“, wie Laszlo Trankovits auf Tichys Einblick erkennt. „Unsere Medien werden schon seit Jahren ihrer Bedeutung als „vierte Gewalt“ in der Demokratie immer weniger gerecht, sie vernachlässigen sträflich ihre Aufgabe, vor allem den Mächtigen – im eigenen Land, nicht in den USA, Israel, Ungarn oder Großbritannien – auf die Finger zu schauen“, bilanziert er.
Der Leipziger Kommunikationswissenschaftler Christian Hoffmann betonte gar in der NZZ, dass die „Schlagseite der Branche“ sogar noch zunehme, weil sich immer mehr Journalisten in den Redaktionen ohne jedes Unrechtsbewusstsein auch als Aktivisten für das Gute in der Welt ansähen. Die linke Ausrichtung der ARD-Anstalten wurde auch von einer Umfrage unter den ARD-Volontären aus dem vergangenen Herbst bestätigt, der zufolge sich 57 Prozent zu den Grünen, 23 Prozent zu den Linken und elf Prozent zur SPD bekannten. Fazit: „Der Haltungsjournalismus heute ist im Grunde nichts anderes als die Übernahme des marxistischen Objektivitätsbegriffs: Objektivität als Parteinahme im Sinne der Geschichte, und zwar der Geschichte der richtigen Entwicklung der Gesellschaft.
Nur dass Geschichte ersetzt wird durch „moralisch richtige Seite“, erbost sich Hans Mathias Kepplinger auf Tichys Einblick und spricht von „freiwilliger Gleichschaltung“. Der Leipziger Journalistik-Emeritus Michael Haller, der die bislang umfassendste wissenschaftliche Studie vorlegte, die sich mit der Rolle der deutschen Medien während der Hochphase des Flüchtlingszustroms beschäftigte, zieht im Rückblick seiner von der Otto Brenner Stiftung in Auftrag gegebenen Studie ebenfalls ein ernüchterndes Fazit. Journalisten seien ihrer Rolle als Aufklärer nicht gerecht geworden; statt kritisch zu berichten, habe der „Informationsjournalismus die Sicht, auch die Losungen der politischen Elite“ übernommen und sei selbst mehr als politischer Akteur denn als neutraler Beobachter aufgetreten. Sorgen und Ängste der Bevölkerung seien hinter der großen Erzählung von der „Willkommenskultur“ fast völlig zurückgedrängt, Andersdenkende diskursiv ausgegrenzt worden.
Haller geht davon aus, dass dies eine „Frontbildung“ in der Gesellschaft befördert habe. Erst nach den Ereignissen der Kölner Silvesternacht 2015 „entdeckten die Medien die reale Wirklichkeit hinter der wohlklingenden Willkommensrhetorik“. Haller sieht Parallelen zur Flüchtlingskrise, „als viele Journalisten ihre Willkommenseuphorie im Rückblick als naiv und parteiergreifend erkannten“. Prompt macht er heute die Übereinstimmung von Journalisten mit Regierungspositionen als großes Problem aus. Im Tagesspiegel kritisiert er Malte Lehming vom Tagesspiegel, der das Phänomen als „Ausdruck einer Wertegemeinschaft“ verteidigt hat. Die handwerklichen Fähigkeiten, die seriösen Journalismus ausmachen, würden so „unter den Meinungsteppich“ gekehrt. Pulitzer dürfte ob solcher Befunde im Grab rotieren.