Der Suppenalchemist
8. Oktober 2021 von Thomas Hartung
Dass aus dem Dorf am Berg Hohentwiel eine florierende Stadt wurde, hat viel mit seinem unternehmerischen Geschick zu tun – aber auch mit den Zollbestimmungen im damaligen Großherzogtum Baden sowie damit, dass Singen am Gleisnetz der deutschen Eisenbahn lag. Das erleichterte den Weitertransport seiner Produkte in alle Teile des wichtigen, weil im Vergleich zur Schweiz vielfach größeren deutschen Markts. 1887 hatte dort Frauen, zum damaligen Spitzenlohn von 80 Pfennigen pro Tag, zunächst die Abfüllung einer Sauce begonnen, die heute weltweiten Erfolg hat. Seit Corona sei die Nachfrage nach seinen Produkten um zehn Prozent gestiegen, berichtet Betriebschef Alfred Gruber im Südkurier: „Die Kulinarik boomt, weil die Leute zu Hause mehr kochen“. Im März 2020 gab es sogar Hamsterkäufe bei den Ravioli. Für die über 600 Beschäftigten bedeutet das teilweise zusätzliche Schichten an Sonntagen.
Dabei war er in seinem Führungsstil geradezu revolutionär, erzählt die Historikerin Daniela Schilhab ebenfalls dem Südkurier. Er hatte für seine Arbeiter zahlreiche soziale Verbesserungen eingeführt: unter anderem einen werkseigenen Kindergarten und ein betriebseigenes Ferienheim, Regelungen bei Lohnausfall, Arbeiterwohnungen, eine Betriebskrankenkasse und später bezahlten Urlaub. 1912 sei ein Arbeiterausschuss gegründet und der erste Tarifvertrag in der Lebensmittelindustrie geschlossen worden. Noch heute sind je nach Schicht Vesper, Mittag- und Abendessen sowie Getränke kostenlos. Der Grund sei damals schlicht Angst vor Betriebsspionage gewesen: Die Firma Knorr soll 1893 versucht haben, Fabrikarbeiter abzuwerben, um so hinter seine geheimen Rezepturen zu kommen: Julius Michael Johannes Maggi, der am 9. Oktober 1846 als fünftes von sechs Kindern eines italienischen Müllers aus der Lombardei und einer Züricher Lehrerstochter in Frauenfeld zur Welt kam.
Seine Jugendzeit verläuft turbulent, Julius wechselt häufig die Schule. Nach der Schulzeit nahm er 1863 eine Lehre im Handelshaus Gerôme Stehelin in Basel auf. Dort zeichnete sich der fleißige und patente Maggi durch sein unternehmerisches Geschick aus und kam nach verkürzter Lehrzeit 1867 als Fabrikbeamter in die Erste Ofen-Pester Dampfmühlen-Aktiengesellschaft in Budapest, wo ihm nach zwei Jahren das Amt des stellvertretenden Direktors übertragen wurde. Dazwischen besuchte er noch die Rekrutenschule der Kavallerie. Im praktischen Geschäftsleben ist er voller Tatendrang. So gewinnt er schließlich das Vertrauen seines Vaters, von dem er 1869 die Hammermühle im Kempttal übernimmt. 1871 heiratet er Helene, die schon zwei Jahre später stirbt, 1879 die Pfarrerstocher Louise. Er hatte insgesamt sechs Kinder. Die Familie erwirbt weitere Mühlen und Gemüseanbaubetriebe in der Schweiz: Keine handwerklichen Traditionsbetriebe mehr, sondern halbindustrielle Unternehmen – denen es schlecht ging.
„volkstümliche Nahrungsmittel“
Denn technische Neuerungen brachten erhöhte Produktivität auf einem begrenzten Markt, und auch zunehmender Importhandel verstärkte den Konkurrenzdruck; Pleiten waren keine Seltenheit. Das Unternehmen – seit 1872 Julius Maggi & Cie., einige Teilhaber hatten zusätzliches Kapital eingebracht – durfte sich nicht länger ausschließlich auf die Herstellung und den Handel von Getreidemehlen verlassen, wenn es überleben wollte. In dieser Zeit trafen zwei glückliche Umstände zusammen. Zum einen befreundete er sich mit dem Arzt Fridolin Schuler, der sich jahrelang mit der Ernährungssituation der Arbeiterschicht befasst hatte. Deren Ernährung war damals einseitig und ungesund, es fehlt an Zeit und Geld für eine gesunde Ernährung. Die Arbeitswege sind lang, die Essenpausen kurz, manchmal ersetzt Schnaps die Mahlzeit; und so bleibt die Küche immer öfter kalt: Den schlecht ernährten Fabrikarbeitern fehlten schlicht Platz, Zeit und Geld, um Obst und Gemüse anzubauen oder gute Lebensmittel zu kaufen.
Zum anderen hatte 1882 auf Schulers Initiative die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft (SGG) angesichts weit verbreiteter Unterernährung bei Fabrikarbeitern und deren Familien Alarm geschlagen. Und so machte sich Maggi als SGG-Mitglied, anfangs zusammen mit Schuler, an die Entwicklung einer Spezialkost nach den Vorgaben der SGG: Guter Nährwert, leichte Zubereitung und vor allem ein selbst für Geringverdiener bezahlbarer Preis. Ein wichtiger Grundstein war zwei Jahrzehnte zuvor gelegt worden: 1863 hatte die großindustrielle Produktion von Fleischextrakten zur Herstellung von Suppen begonnen. Traditionelle Suppen aus Bier, Obst, Milch, Brot und Mehl verloren an Bedeutung. Die Basis für den Aufstieg auf Pflanzen basierender Würze und Suppen war geebnet. Das Zauberwort hieß Leguminosen: Hülsenfrüchte wie Bohnen, Erbsen, Linsen, Erdnüsse und Lupinen.
Als Müller kennt sich Maggi mit Mehl aus. Daher versucht er sich zuerst an einem Leguminosenmehl aus Bohnen und Erbsen, das sich durch Beigabe von Wasser in eine Suppe verwandeln lässt, und richtete im Kempttaler Mühlenbetrieb 1882 eine Röstpfanne ein. Zwei Jahre später bringt er schließlich das erste nahrhafte Leguminosen-Mehl auf den Markt – und forscht immer weiter. Seine Begeisterung für die Arbeit bei der Herstellung von Suppenkonzentraten auf dieser Basis war so groß, dass er eine seine drittgeborene Tochter Lucy fast „Leguminosa“ genannt hätte – was nur schärfste Familienproteste verhinderten. Die SGG übte anfangs eine Art Schirmherrschaft aus, unterstützte die Popularisierung des neuen Produkts und behielt sich dabei eine Preiskontrolle vor – heute würde man „public-private partnership“ sagen. Als Zweck der 1886 neu gebildeten Kommanditgesellschaft „J. Maggi & Co.“ mit ihm als unbeschränkt haftendem Teilhaber wurden „Herstellung und Verkauf von volkstümlichen Nahrungsmitteln“ genannt.
Im selben Jahr kommt die erste kochfertige Maggi Suppe aus Erbsen-und Bohnenmehl auf den Markt. Bald sind es 22 Sorten. Da der Geschmack anfangs noch nicht optimal war, widmete sich der Fastfood-Pionier nun der Entwicklung des Bouillon-Extracts, der heutigen Suppenwürze. Kurioserweise wurde in der Folge Liebstöckel auf Grund der Ähnlichkeit des Aromas im Volksmund als „Maggi-Kraut“ bezeichnet – obwohl es gar nicht enthalten ist. Dieses „gewisse Tröpfchen Etwas“ machte ihn in aller Welt bekannt. Eigenhändig entwirft Julius ein Jahr später die typische braune Würzflasche mit dem gelb-roten Etikett und dem Kreuzstern. Die Farben und die Form der Flasche sind mit leichten Modifizierungen bis heute gleich geblieben. Sogar sein Direktionszimmer wurde komplett in gelb-rot eingerichtet – ein erster Meilenstein auf dem Weg zum Konzept der Integrierten Kommunikation. 1972 machte Joseph Beuys das kleine Fläschchen gar zum Kunstobjekt für seine Installation „Ich kenne kein Weekend“ – und das Seite an Seite mit einem Reclam-Band von Immanuel Kants „Kritik der reinen Vernunft“.
„Alles Wohl beruht auf Paarung“
Gerade weil diese Produkte nicht sinnlich-konkret Nährwert und Geschmack kommunizieren konnten, bedurfte es noch anderer „kommunikativer Stellvertreter“ der Marke: Reisende Händler, firmenintern anerkennend als „Apostel des Maggi-Evangeliums“ bezeichnet. Die „Apostel“ führten auch vor, wie man mit Maggi-Produkten das Essen verfeinern konnte. Diese Tradition der Kochvorführungen wurde später im 20. Jahrhundert fortgesetzt, in den 1950er-Jahren mit dem reisenden „Fridolin“ und dann bis heute mit dem Maggi-Kochstudio. Maggi ging es darum, eine persönliche Beziehung zwischen Käufer und Produkt zu schaffen. Die dafür nötige Kommunikation sollte ein „Reclame- und Pressebureau“ leisten, das er ebenfalls 1886 gründete und mit dem damals unbekannten, aber begabten 22-jährigen späteren Dramatiker Frank Wedekind besetzte – der hatte sein Jurastudium abgebrochen und war in finanzieller Not. Er präsentierte er 1887 die Firma bei der I. Internationalen Ausstellung für Kochkunst und Volksernährung in Leipzig und kassierte dort stellvertretend eine Goldmedaille.
Obwohl die Produkte als günstige und nahrhafte Mahlzeit für die Arbeiterschaft beabsichtigt waren, sprach die Werbung vor allem reichere Bürgersfrauen, Hotels und Restaurants an. Dank der Strahlkraft der bürgerlichen Wertvorstellungen wirkte die am Bürgertum ausgerichtete Werbung aber auch in den Unterschichten. Wedekind hielt es allerdings nur acht Monate bei Maggi aus, denn er fühlte sich „mit Leib und Seele verschachert“, wie er in einem Brief an seine Mutter schrieb. Zu seinen Hauptaufgaben gehörte das Verfassen von 12 bis 18 Reklametexten in Prosa oder Vers pro Woche, deren handschriftlichen Originale in einer Sondersammlung der Aargauer Kantonsbibliothek zu sehen sind. Resultate waren Köstlichkeiten wie „Frohsinn, Scherz und Maggiwürze bessern jedes Mahl in Kürze!“ oder gar solche Elogen:
Was dem einen fehlt, das findet
In dem Andern sich bereit;
Wo sich Mann und Weib verbindet
Keimen Glück und Seligkeit.
Alles Wohl beruht auf Paarung;
Wie dem Leben Poesie
Fehle Maggi‘s Suppen-Nahrung
Maggi‘s Speise-Würze nie!
1897 wird die Maggi Gesellschaft mbH in Singen als eigenständige deutsche Firma gegründet. In Berlin entsteht das erste Auslieferungslager. Ab 1900 führt Maggi den Suppenwürfel, den Soßenwürfel und den Fleischbrühwürfel ein. Besonders letzterer wird ein voller Erfolg; ein Fleischbrühwürfel ist um 1910 circa 30mal günstiger als ein Kilo Suppenfleisch. Daneben verlagert Maggi seine Aktivitäten zunehmend nach Frankreich und suchte dort die Unterstützung des berühmten Meisterkochs Auguste Escoffier für die „Nobilitierung seiner Produkte“. 1899 gründete er in Paris ein Unternehmen für nichtalkoholische Getränke, zog zur Weltausstellung 1900 mitsamt seiner Familie für fünf Monate nach Paris und baute 1902 mit der „Société laitière Maggi“ ein Verteilersystem für pasteurisierte Milch auf, deren Qualität durch ein von ihm gegründetes Labor kontrolliert wurde. Vor der Einführung der pasteurisierten Maggi-Milch waren zu Beginn des 20. Jahrhunderts 90.000 Kinder in Frankreich, davon 20.000 in Paris, an infantiler Cholera gestorben.
Saarland als Maggi-Weltmeister
In der Pariser Zeit hatte Julius Maggi eine Liaison mit einer Schauspielerin und geizte nicht mit repräsentativen Ausgaben. Den erworbenen Lebensstandard trugen er und seine Familie durchaus offen zur Schau: Sie waren im Besitz von Dienern, einer vierspännigen Kutsche und den Dampfjachten „Maggi I“ bis „Maggi IV“ an der französischen Küste. In Zürich ließ er die „Villa Sumatra“ repräsentativ umbauen und ausgestalten. Er arbeitete nahezu ununterbrochen. Der Unternehmer vertrat dabei die eigenwillige Theorie, seinen Schlafmangel – er schlief täglich nur drei bis vier Stunden – durch zusätzliche Nahrungsaufnahme ausgleichen zu können. 1911 fuhr Maggi schließlich in Folge einer Blinddarmentzündung das erste Mal in seinem Leben in den Erholungsurlaub. Doch schon im Jahr darauf litt der Unternehmensgründer unter Bewusstseinsstörungen, die sich innerhalb weniger Wochen verschlimmerten. Während einer Arbeitssitzung erlitt er einen Schlaganfall und wurde noch in die Schweiz überführt, wo er am 19. Oktober 1912 in einem Sanatorium starb und auf dem Gemeindefriedhof Lindau im Kanton Zürich begraben wurde.
Als sein Nachfolger leitete in der Folge Sohn Harry die „Maggi AG“. Die starke Abwehr der übrigen Pariser Milchhändler und das schon ungünstig gewordene politische Klima führten zu verschiedensten, teilweise aggressiven Kommunikationsaktivitäten. Bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges wurden das Labor und fast alle 850 Auslieferungsstellen der „Société laitière Maggi“ in Paris von einem wütenden Mob angegriffen und verwüstet. Es kursierte das Gerücht, dass die Maggi-Produkte und insbesondere die Milch vergiftet seien – man hielt Maggi für ein deutsches Unternehmen, das nur als Tarnung für Spionageaktivitäten gegenüber Frankreich diente.
Ein anderes Gerücht besagte, dass Monsieur Maggi, der in Wirklichkeit schon fast zwei Jahre tot war, bei dem Versuch verhaftet worden sei, mit 40 Millionen Francs, die in Milchkannen versteckt waren, aus Paris zu fliehen. 1934 wurden alle Maggi-Gesellschaften in der Holding „Alimentana AG“ zusammengefasst und 1947 mit „Nestlé“ zur „Nestlé Alimentana AG“ in Vevey (Schweiz) vereinigt. Ein mit Erbsenmehl verfertigtes Nebenprodukt war übrigens Hoosh, suppenähnliche Eintopfgerichte auf englischsprachigen Antarktisexpeditionen zu Beginn des 20. Jahrhunderts.
In keinem anderen Bundesland übrigens verbrauchen die Menschen so viel Maggi-Würze wie im Saarland: Fast ein Liter jährlich. Der hohe Verbrauch hängt auch mit der Industriegeschichte des Landes zusammen. So würzten sich insbesondere die Bergmänner früher ihre oft kargen Mahlzeiten mit ein paar Tropfen Maggi. Bis heute genießt die Würze in der braunen Flasche in weiten Teilen des Saarlandes Kultstatus und gilt im Volksmund als eine Art saarländisches Grundnahrungsmittel. So setze sich der saarländische Adventskranz angeblich aus einem Ringel Lyoner und vier Maggi-Flaschen zusammen. Uwe Hoffmann vom Eiscafé „Favretti“ in Saarbrücken kreierte 2017 gar ein „Maggi-Eis“. Dazu passt eine Nachricht aus diesem Frühjahr: Danach wollten „Axe“ und das „Maggi-Kochstudio“ als Kooperationspartner ein neues Duschgel mit dem unverwechselbaren „Maggi-Würze-Geruch“ auf den Markt bringen. Das Saarland sollte als Testregion dienen. Manche Saarländer sollen traurig gewesen sein, als die Meldung als Aprilscherz enttarnt wurde.