„Genie mit Handwerkerbewusstsein“
10. Oktober 2021 von Thomas Hartung
Ohne je Not gelitten zu haben, versuchte er zusätzliche materielle Sicherheit durch viele Examina, Zeugnisse und Empfehlungsschreiben zu gewinnen: Bis weit ins Erwachsenenalter hinein war er sich seiner musikalischen Berufung offensichtlich nicht sicher. Auch sein Lebensstil war bescheiden. Er galt als depressiv und litt trotz seiner Erfolge sein ganzes Leben an Minderwertigkeitsgefühlen und tiefer Einsamkeit. Die demütige Haltung des Komponisten gegenüber Autoritäten zeigte sich auch darin, dass er seine 7. Sinfonie dem bayerischen König Ludwig II., die 8. Sinfonie dem Kaiser Franz Joseph und die 9. Sinfonie dem lieben Gott widmete, „wenn er sie nehmen mag“. Sein Gottvertrauen gab ihm Kraft, die zahlreichen Anfeindungen seiner Gegner auszuhalten.
Die Rolle von Frauen in seinem Leben erscheint widersprüchlich. Er verfasste zeitlebens schriftliche Heiratsanträge, vorzugsweise an junge Frauen um die 20, war aber durchwegs erfolglos. Sie ähneln seinem rastlosen Drängen nach Anerkennung als Musiker, nur konnte er die von ihm verehrten Frauen mit Zeugnissen und ähnlichem nicht beeindrucken. Seinem ehemaligen Lehrer Otto Kitzler entgegnete er einmal, als dieser ihn auf seine „ungeregelten Verhältnisse“ ansprach: „Lieber Freund, ich habe keine Zeit, ich muss jetzt meine Vierte schreiben!“. Sein Biograph Walter Gerstenberg befand: „Die mönchischen Tugenden des Gehorsams, der Unterordnung und der Enthaltsamkeit haben seinen Lebensweg begleitet.“ Zudem litt er an verschiedenen Zwangsneurosen, etwa einem Zählzwang (Arithmomanie), der sich unter anderem in den durchgängig nummerierten Taktperioden zahlreicher seiner Partituren niederschlug.
Auf ihm lastete die verbreitete Ansicht, er sei zwar musikalisch hochbegabt, doch letztlich nie seiner provinziellen Herkunft entwachsen. Die gern kolportierte Beschreibung „halb Genie, halb Trottel“ stammt jedoch nicht, wie vielfach angenommen, vom Kollegen Gustav Mahler, sondern vom Dirigenten und Pianisten Hans von Bülow. Der Musikwissenschaftler August Halm nannte ihn „Genie mit Handwerkerbewusstsein“. Dass er ausgebildeter Lehrer mit einer Zulassung für höhere Schulen war und als solcher zur oberen Bildungsschicht gehörte, lässt auch andere Interpretationen seines Verhaltens zu: Dieser große Einzelgänger der Musikgeschichte könnte sich durch ein klobig-kantig anmutendes, ungeschickt erscheinendes Benehmen, das er noch mit seiner Kurzhaarfrisur und überweiten Anzügen unterstrich, gegenüber ihm feindlich gesinnten Menschen wie manchen Musikkritikern bewusst abgegrenzt haben: Anton Bruckner, der am 11. Oktober 1896 in Wien starb.
Entfaltung in Wien
Geboren wurde er am 4. September 1824 in Ansfelden als ältestes von zwölf Kindern eines Dorfschullehrers mit bäuerlichen Vorfahren, zu dessen damaligen Pflichten auch kirchenmusikalische Dienste wie Kantoramt und Orgelspiel sowie das Aufspielen als Tanzbodengeiger auf Festen gehörten. So kam der junge Bruckner bereits früh mit der Musik in Kontakt und fungierte schon als Zehnjähriger gelegentlich als Aushilfsorganist. Nach dem Tod seines Vaters besuchte er dreizehnjährig als Schüler und Sängerknabe das Augustinerchorherrenstift St. Florian und übt wie besessen: Laut seiner Biografin Elisabeth Maier hat er „in der Nacht so viel gespielt, vor allem Bach, dass die Lehrersfrau dann aufgestanden ist und gesagt hat, er soll jetzt endlich Ruhe geben, er stört alle im Haus.“
Ab 1840 ließ er sich in einem Präparandenkurs in Linz zum Lehrer ausbilden. Schon 1841 wurde er Schulgehilfe im Dorf Windhaag, wo es bald schon zu Konflikten mit seinem Vorgesetzten kam, die schließlich zur Versetzung nach Kronstorf führten: Bruckner habe zu viel komponiert und auf der Orgel improvisiert, statt seinen Pflichten nachzukommen, die neben dem Schul- und Kirchendienst auch die Arbeit auf dem Feld und im Wald umfassten. Tatsächlich schrieb er in dieser Zeit drei sogenannte „Choral-Messen“ 1845 absolvierte er schließlich die Lehrerprüfung und trat noch im selben Jahr eine Stelle als Hilfslehrer der Schule von Sankt Florian an. In seiner Freizeit beschäftigte er sich mit der Fugenkunst von Johann Sebastian Bach und mit Volkstänzen.
1849 war er in Sankt Florian vorläufiger Stiftsorganist und Hilfslehrer, nahm zwei Jahre später diese Funktionen endgültig wahr und legte 1855 die Prüfung zum Lehrer für Hauptschulen ab. Im gleichen Jahr verließ er das Stift und wurde ein Jahr später in Linz Domorganist. Eine Anekdote besagt, dass sich Bruckner zunächst nicht bewarb, aber schließlich überredet werden konnte, daran teilzunehmen. Obwohl er keine schriftliche Bewerbung eingereicht hatte, wurde ihm erlaubt zu spielen. Keiner seiner Mitbewerber vermochte mit seiner virtuosen Orgelkunst gleichzuziehen, und so bekam er die Stelle. Zusätzlich absolvierte er eine klassische musikalische Ausbildung und bestand 1861 die Prüfung an der Orgel der Piaristenkirche zu Wien. In die Linzer Zeit fällt seine nahezu schicksalhafte Begegnung mit der Musik Richard Wagners, die ihn fortan begleiten sollte. Beide Musikwelten, die altmeisterliche Satztechnik und die moderne Klangführung, miteinander zu verschmelzen, blieb seitdem sein immanentes künstlerisches Streben und wird seine eigentümliche Stellung in der Musik des 19. Jahrhunderts begründen.
Zwischen 1864 und 1868 entstanden nun mit den drei großen Messen in d-Moll, e-Moll und f-Moll sowie der Sinfonie Nr. 1 c-Moll die ersten Meisterwerke. Bruckners angestrengte Arbeitsweise, private und berufliche Enttäuschungen untergruben seine Gesundheit in der Zeit um 1867 und brachten ihn bis an den Rand geistiger Verwirrung. Nach einer Kur trat er 1868 am Wiener Konservatorium die Nachfolge eines ehemaligen Lehrers an und wurde Professor für Generalbaß, Kontrapunkt und Orgel. „Erst auf dem künstlerisch reichen und gerade damals vielschichtigen Boden Wiens konnte sich Bruckners kompositorisches Genie vollends entfalten“, so Gerstenberg. Hier vor allem sind in oft harter und mühevoller Arbeit jene mächtigen Symphonien entstanden, die seinen Ruhm begründet haben. Als Sinfoniker nahm er sich Ludwig van Beethoven zum Vorbild. Aus seinen Werken, besonders aus seiner 9. Sinfonie, holte er sich Anregungen für die eigene Kompositionsweise. In der Kirchenmusik entwickelte Bruckner einen modernen sinfonischen Messestil und schuf eine liturgisch-kirchenmusikalische Ausdruckssprache, der er den zeitgenössischen sinfonischen Charakter unterlegte.
„etwas elementar Überwältigendes“
1869 wurde er zur Einweihung der Orgel der Kirche St-Epvre in Nancy geladen und gab einige Tage später ein umjubeltes Konzert in Notre-Dame in Paris. Der große Erfolg dort wiederholte sich 1871 in der Royal Albert Hall in London. Daheim wurde Bruckner zunehmend in den Streit der beiden musikalischen Parteien hineingezogen, der keine Stadt so leidenschaftlich wie Wien bewegt hat: die neudeutschen Anhänger Liszts und Wagners hielten sich für die Avantgardisten eines musikalischen Fortschritts und zählten ihn zu den Ihren, während Johannes Brahms, der seit 1862 ebenfalls in Wien lebte, als Hauptrepräsentant einer konservativen, von den Gegnern gern als reaktionär bezeichneten Richtung galt. Diese Spaltung der musikalischen Öffentlichkeit, besonders auch die immer unerbittlichere Gegnerschaft des angesehenen Musikkritikers Eduard Hanslick, hat Bruckner enorm mitgenommen und war mindestens teilweise Ursache einiger Uraufführungs-Misserfolge.
Er vollendete weitere Sinfonien, sein Streichquintett F-Dur (1879), ein Te Deum in C-Dur (1881) sowie zahlreiche Chorwerke und Orgelkompositionen. Kaiser Franz Joseph I. zeigte sich vom Te Deum sogar so beeindruckt, dass er Bruckner dafür das Ritterkreuz des Franz-Joseph-Ordens verlieh und die Drucklegung zweier Sinfonien finanzierte. Bruckners Selbstkritik verstärkte sich inzwischen derart, dass er immer wieder bereit war, auch schon abgeschlossene fertige Werke oder Teile davon nicht selten von Grund auf umzuarbeiten, was nach seinem Tod zu Aufführungsproblemen führen wird. Allein für seine dritte Sinfonie sind vier Umarbeitungswellen nachgewiesen. 1879 in die kaiserliche Hofkapelle aufgenommen, ehrte ihn 1891 die Philosophische Fakultät in Wien mit der Ehrendoktorwürde, 1894 die Stadt Linz mit der Ehrenbürgerschaft. Ab 1895 wurde ihm, gesundheitlich schon schwer angeschlagen, die Ehre zuteil, im Schloss Belvedere wohnen zu dürfen – bis zu seinem Tod. Seine letzte, neunte Sinfonie blieb unvollendet. Gemäß seinem Testament wurde er bei seinem Berufsanfänger- und Lieblingsinstrument beigesetzt: In der Krypta unter der Orgel des Stifts St. Florian.
Bruckner ist neben Brahms und Wagner derjenige Komponist des späten 19. Jahrhunderts, dessen Schaffen wohl am richtungweisendsten für die folgende Entwicklung der abendländischen Musik wurde. Gustav Mahlers ausdrucksstarke Monumentalsinfonik ist undenkbar ohne Bruckners gründliche Vorarbeit. Vom „Bruckner-Rhythmus“ etwa in der sechsten und neunten Sinfonie ließ sich Jean Sibelius anregen. Selbst Schostakowitsch ist ohne Bruckner kaum denkbar. Seine Bedeutung für die gesamte spätere Musik wurde in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg aber in den Hintergrund gerückt, da die Nationalsozialisten Bruckners Musik als „arisch-deutsch“ bezeichneten und ihre Erhabenheit, Weite, Größe und Repräsentation für propagandistische Zwecke missbrauchten: So wurde nach der Bekanntmachung von Hitlers Tod am 1. Mai 1945 das Adagio der siebenten Sinfonie im Rundfunk übertragen. Der Missbrauch ging sogar so weit, Bruckners Typus – klein, untersetzt, Hakennase – als eigene Unterart des Ariers zu definieren, die besonders gut für die Musik geeignet sei. Daher trauten sich viele Komponisten in der frühen Nachkriegszeit nicht, sich auf Bruckner zu berufen. 2019 krönte der Filmregisseur Reiner Moritz seine Karriere mit dem 96minütigen Dokumentarfilm „Anton Bruckner – Das verkannte Genie“, der im Kino aber nur mäßigen Erfolg hatte.
Seit den 1960er Jahren ist bekannt, dass die authentische Überlieferung seiner Symphonien durch den „wohlmeinenden Rat“ einiger seiner Schüler gefährdet ist: sie erlaubten sich teils weitgehende Eingriffe in das Gefüge der Druckausgaben. Ob Bruckner dabei zugestimmt hat, ist unbekannt. Zu denken gibt, dass er seine unverfälschten Handschriften der Nachwelt durch Bibliotheksvermächtnis erhalten wollte. Gemeinsam mit seinem Umarbeitungsdrang „ist die Frage nach der authentischen, letztgültigen Klang- und Formgestalt von Bruckners Musik so verwickelt wie bei kaum irgendeinem anderen Komponisten und gegenwärtig noch nicht vollständig zu lösen“, resümiert Gerstenberg. Die Tendenz der Erstausgaben gegenüber den Originalfassungen scheint aber klar: während die Schüler-Korrektoren bestrebt waren, sie näher an das neudeutsche Ideal Wagners heranzuführen, ist Bruckners Klanggestalt härter, schärfer in sich abgesetzt, weniger ausladend. Gerstenberg reißt sie gar zu Pathos hin: „Beethoven meißelt seine Formen, Bruckner lässt sie wachsen. Diese Naturkraft seiner Musik hat etwas elementar Überwältigendes“.