„Praezeptor orbis terrarum“
12. Oktober 2021 von Thomas Hartung
Es war die nach ihm benannte Studie im Auftrag der von ihm mitgegründeten Deutschen Anthropologischen Gesellschaft von 1874, die ihn heute je nach Perspektive als „wissenschaftlichen Rassisten“ oder „objektiven Anthropologen“ erscheinen lässt. Dafür sollten 6,7 Millionen Schulkinder in Deutschland (mit Ausnahme Hamburgs) anhand von Kriterien wie Schädelformen, Haut-, Haar- und Augenfarbe auf Unterschiede zwischen jüdischen und christlichen Kindern untersucht werden. Dazu wurden damals auch Schädel vermessen – heute ein unverzeihliches Vergehen! Die Forscher wollten durch die Studie Aufschluss über die Verbreitung und die Beschaffenheit der Rassen in Deutschland erhalten, wobei die besonderes Augenmerk auf das Erscheinungsbild einer „jüdischen“ und einer „germanischen Rasse“ legten.
Laut seiner Statistik machten im gesamten Deutschen Reich bei nichtjüdischen Kindern die Blonden nur 31,8 Prozent aus; die Mischtypen überwogen weit mit 54,15 Prozent; bei den jüdischen Kindern wurden 11 Prozent rein blonde Kinder angetroffen. Dabei gab es bedeutende regionale Unterschiede. Gegenüber der Ideologie vom reinrassigen deutschen Ariertum zog Virchow die Folgerung, dass die Juden ein Volk, aber keine Rasse seien; wolle man ein germanisches Deutsches Reich, müsse man weite Teile Süd- und Westdeutschlands davon ausschließen. Den Vertretern der „Völkischen Bewegung“ gefiel diese Erkenntnis naturgemäß gar nicht, sie entwickelten daraus ihre Thesen von Überfremdung oder der jüdischen Gefahr, die Jahrzehnte später bittere Früchte trug.
Sein Resümee „Ja, meine Herren, wohin soll denn das führen, wenn wir plötzlich eine Art von ethnologischer Heraldik treiben, um zu untersuchen, wo jeder einzelne sein Blut hergenommen hat?”, führte gar zu seiner Verunglimpfung im Film „Robert Koch, der Bekämpfer des Todes“ mit Emil Jannings in der Titelrolle von 1939. Doch das schmälerte seinen Ruhm nicht, im Gegenteil – er wird bis heute als Universalgenie gefeiert, der als Arzt, Sozialmediziner, Anthropologe, Ethnologe, Prähistoriker und Politiker unschätzbare Verdienste erlangte: Rudolf Ludwig Karl Virchow, der am 13. Oktober 1821 als einziges Kind des Landwirts und Stadtkämmerers Carl Virchow im pommerschen Schievelbein (heute Swidwin/Polen) geboren wurde.
„Politik ist Medizin im Großen“
Virchow wuchs in bescheidenen Verhältnissen auf und war oft krank – vielleicht ein Grund für seinen Berufswunsch. Nach der Reifeprüfung am Gymnasium in Köslin studierte er ab 1839 mit Hilfe eines Stipendiums der Berliner militärärztlichen Akademie Medizin und promovierte 1843. Bereits mit 24 Jahren hielt er Privatvorlesungen und bezeichnete das allgemeinen physikalischen und chemischen Gesetzen unterliegende Leben im Wesentlichen als Aktivität der Zelle. Auch seine Vorstellungen zur Entstehung von Venenentzündungen, die bei der Zuhörerschaft erheblichen Widerspruch bewirkten, entwickelte er zu dieser Zeit. 1845 beschrieb er Weißes Blut bei Blutkrebs, dessen Namen Leukämie er ab 1847 prägte. Auch die Bezeichnungen Thrombose und Embolie gehen auf Virchow zurück: Ihm zu Ehren wird sein Geburtstag seit 2014 als Welt-Thrombose-Tag gefeiert.
Als Unterarzt der Charité legte er 1846 sein Staatsexamen ab, habilitierte sich ein Jahr später und gründete das „Archiv für pathologische Anatomie und Physiologie“, das bis heute als „Virchows Archiv“ ein zentrales Publikationsorgan für die Pathologie ist. Im Auftrag der preußischen Regierung reiste er Anfang 1848 nach Oberschlesien, um eine grassierende Hungertyphus-Epidemie zu untersuchen. Er erkannte deren Ursachen in sozialen Missständen, der Armut und Unwissenheit der Bevölkerung. Die Verantwortung dafür sieht er bei Staat und Kirche. Politische und soziale Reformen, Einführung der Demokratie, Aufbau eines Bildungssystems, lauteten seine Rezepte: „Die Medizin ist eine soziale Wissenschaft, und die Politik ist weiter nichts als Medizin im Großen.“ Er forderte einen Gesundheitsrat von Sachverständigen für die öffentliche Gesundheitspflege; an den Universitäten solle der medizinische Unterricht auf eine empirische Basis gestellt werden, um die Medizin zu einer „positiven Wissenschaft“ zu machen. Sein Abschlussbericht rief bei der Regierung keine Begeisterung hervor.
Und kaum wiedergekehrt, bringt Virchow die preußische Führung völlig gegen sich auf: Während der Märzrevolution beteiligt er sich am Barrikadenbau in der Berliner Innenstadt und wurde Mitherausgeber einer sozialpolitischen Wochenschrift namens „Medicinische Reform“. Darin forderte er erneut eine „öffentliche Gesundheitspflege“ und gebraucht erstmals den Begriff „Volksgesundheit“. Infolge seiner politischen Betätigungen drohte ihm die Entlassung aus der Charité, und so nahm er Ende 1849 einen Ruf auf den Lehrstuhl für Pathologische Anatomie in Würzburg an – gegen das Versprechen, sich nicht mehr radikal politisch zu betätigen. Im Jahr darauf heiratete er Rose Mayer, die Tochter eines Geheimen Sanitätsrats, und hat mit ihr insgesamt sechs Kinder.
Zwei Jahre später ging Virchow erneut mit politischen Forderungen an die Öffentlichkeit: nach einer im Auftrag der Württembergischen Regierung durchgeführten Untersuchung der Bevölkerung in den Elendsquartieren verkündete er, dass Bildung, Wohlstand und Freiheit Voraussetzung für die Gesundheit der Bevölkerung seien. Die sieben Jahre in Würzburg gehören aus medizinischer Sicht zu Virchows bedeutendster Zeit. Einen Großteil seiner bekanntesten Schriften verfasst er hier, darunter seine „Cellularpathologie“, in der er seine Überlegung von den Zellen als kleinste eigenständige Einheiten im Körper skizzierte und darin alle Krankheiten auf Veränderungen der Körperzellen zurückführte. Diese „Solidarlehre“ löst die jahrhundertealte „Humoralpathologie“ ab, die Krankheit als eine Störung des Säftesystems (Blut, Schleim, Galle und Schwarzgalle) versteht. So zu Berühmtheit gelangt, holte Berlin Virchow 1856 schließlich auf einen eigens für ihn geschaffenen und in Deutschland einmaligen Lehrstuhl für Pathologische Anatomie zurück.
Die „Trachten der Weiber“
Von 1859 bis zu seinem Tod war Virchow Mitglied der Berliner Stadtverordnetenversammlung. In diesem Gremium setzte er sich für den Bau von Krankenhäusern ein und sorgt für eine Professionalisierung der Krankenpflege sowie eine strukturierte Ausbildung an Krankenpflegeschulen, die an die großen Krankenhäuser angegliedert werden. Zudem führte er das System der Wasserversorgung und Abwasserbeseitigung Berlins ein. Während der Schwerpunkt der Medizin traditionell auf einem individualistischen Ansatz lag, hatte Virchow die Gesundheit der Gruppe, der Stadt, des ganzen Volkes im Blick – heute würde man „public health“ dazu sagen. Dieser soziale Blick auf eine Medizin, die nicht nur die Gesundheit Einzelner, sondern die der ganzen Gesellschaft im Blick hatte, drehte sich im Dritten Reich ins Negative. Das Individuum zählte nicht mehr, das Volk stand im Mittelpunkt. Dass nach dem Krieg die Individualmedizin wieder dominierte und Virchows Errungenschaften zunächst in den Hintergrund traten, verwundert deshalb nicht.
1861 gehörte Virchow zu den Mitbegründern der liberalen „Deutschen Fortschrittspartei“, deren Mitglieder hauptsächlich in besser verdienenden und studierten Berufen arbeiten und für die er von 1862 bis 1867 im preußischen Abgeordnetenhaus vertreten war. Hier gehört er bald zu den schärfsten Kritikern Bismarcks. Dieser wurde gerade zum preußischen Ministerpräsidenten berufen, um im Verfassungskonflikt zwischen dem preußischen König Wilhelm I. und dem Parlament zu vermitteln. Geschickt versucht Bismarck den Konflikt in seinem Sinne zu lösen: Da eine Lücke in der Verfassung bestehe und die Exekutive die tragende Kraft sei, falle dieser – also dem König – im Zweifel die Entscheidungsgewalt bei. Von dieser Machtbeschneidung des Parlaments hält Virchow natürlich wenig. Genauso wenig kann er mit Bismarcks Machtpolitik – „Blut und Eisen“ – anfangen. Er sieht die Stärke und Expansion nach außen vor allem als Weg, um von den Problemen im Inneren abzulenken, und meint, die preußischen „Einigungskriege“ von 1864 (und 1866 sowie 1870) gäben ihm Recht.
Am 2. Juni 1865 kam es zu einer hitzigen Budgetdebatte im Landtag – Virchow wollte das Geld für den Ausbau des Kieler Kriegshafens lieber in eine Verbesserung der Infrastruktur und in soziale Maßnahmen wie Parks und Spielplätze stecken. Bismarck explodiert, er fordert Virchow zum Duell. Doch der lehnt ab. Ein Waffenduell sei keine zeitgemäße Art der Diskussion, belehrt er seinen Widersacher kühl. Der Cottbuser Anzeiger berichtete von Virchows Studenten, die sich an Stelle ihres Lehrers mit dem Ministerpräsidenten schlagen wollten: „Nun sei es ihnen ja klar, welchen unersetzlichen Verlust die Wissenschaft und die Nation durch einen unzeitigen Tod Dr. Virchow‘s erleiden würde. Der Gedanke sei ihnen entsetzlich, dass er bei einem Spiel, dass sie selbst wahrscheinlich besser verstünden als ihr berühmter Lehrer, der Welt entrissen werden könnte.“ Nach dem Eingreifen des Kriegsministers sah Bismarck dann von seiner Forderung ab. Ab 1880 saß Virchow zunächst für die Fortschrittspartei, ab 1884 dann für die Freisinnige Partei im Deutschen Reichstag, wo er sich erneut für den Aufbau einer staatlichen Gesundheitsfürsorge einsetzte – und von Bismarck erneut attackiert wurde.
Darüber hinaus forschte Virchow zur Anthropologie und Urgeschichte, wozu er schon 1857 seine „Untersuchungen über die Entwicklung des Schädelgrundes“ vorlegte, der eine zentrale Rolle auf dem Weg von der pathologischen Anatomie zur Anthropologie zukam. Er trug wesentlich zur Professionalisierung und Institutionalisierung des Fachs in Deutschland bei und reiste zu Studienzwecken nach Österreich-Ungarn und in den Kaukasus, aber auch nach Pommern und in die Mark. Er prägte den Begriff der „Lausitzer Kultur“, unterschied als erster zwischen der slawischen Keramik des Burgwalltyps und der bronzezeitlichen Keramik des Lausitzer Typs und beschrieb 1875 nach einer Exkursion „Die ‚Trachten der Weiber‘ und das wendische kirchliche Leben“. Außerdem besuchte er Heinrich Schliemann in Troja und ging mit ihm nach Griechenland und Ägypten. 1881 gab Schliemann auf Virchows Vermittlung den „Schatz des Priamus“ zur ungeteilten Aufbewahrung nach Berlin.
„der rassistische Gehalt seines Tuns“
Von 1886 bis 1888 beteiligte sich Virchow an der Gründung des Ethnologischen Museums und des Völkerkundemuseums in Berlin: Er und andere Forscher wollen mehr über unbekannte Völker, Kulturen und die Physiognomie des Menschen erfahren. Zu diesem Zweck sammeln sie alles, was von Fernreisen und Expeditionen mitgebracht wird: Neben Artefakten wie Keramiken werden auch menschliche Knochen untersucht, diskutiert und katalogisiert. Virchow trägt in dieser Zeit mehr als 5.000 Skelette und Schädel aus aller Welt zusammen: Die „Virchow-Sammlung“ entstand. Zumeist waren es Schiffsärzte, die in seinem Auftrag aus allen Kontinenten Skelette und Schädel mitbrachten. Für Wissenschaftler sind solche ethnografische Sammlungen von unschätzbarem Wert: Sie betrachten diese Skelette als biohistorische Urkunden, „Sachzeugen“. Die Kritiker dieser Sammlungen dagegen fordern eine Rückgabe der menschlichen Überreste an die Völker der Ursprungsorte, damit sie dort würdig bestatten werden können. Die sogenannte Virchow-Sammlung wird heute vom anthropologischen Institut der Humboldt-Universität verwaltet.
Daneben beteiligt sich der Freigeist und Humanist auch an der Praxis, Untersuchungen am „lebenden Objekt“ vorzunehmen. Hierzu holte man sich in die Studierzimmer Menschen aus den sogenannten „Völkerschauen“ wie die des Hamburger Tierparkunternehmer Carl Hagenbeck, die Ende des 19. Jahrhunderts in allen großen europäischen Städten zu sehen waren: Feuerländer und Lappen, Indianer und Nubier wurden dem neugierigen Publikum als „unverfälschte Naturmenschen“ vorgeführt. „Ganz dem Anspruch wissenschaftlicher Objektivität verpflichtet, entging Virchow die Überheblichkeit und der rassistische Gehalt seines Tuns“, dekretiert ebenso ahistorisch wie arrogant und ideologisch das ARD-Portal Planet Wissen.
Doch der geniale Wissenschaftler ist Zeit seines Lebens längst nicht in allen Bereichen genial: Auch ihm unterlaufen Fehler. So giftet er offen über den „Bazillenzirkus“, wie er die These seines einstigen Schülers Robert Koch bezeichnet, wonach Bakterien Krankheiten wie Tuberkulose und Milzbrand auslösen könnten. Diese Hartnäckigkeit selbst angesichts sich häufender, gegenteiliger Befunde erklärt die Universität Würzburg in einer Abhandlung zur Geschichte ihres Pathologischen Instituts mit dem ungeheuren Selbstbewusstsein Virchows und vielleicht auch einem gewissen Hang zur Eitelkeit: „Während Virchow seine eigenen Hypothesen mit einer fast lutherischen Selbstgewissheit verteidigte, hatte er große Mühe, bahnbrechende Ergebnisse anderer großer Forscher anzuerkennen … Manchmal hat man den Eindruck, dass Virchow deren Ideen durchaus enthusiastisch akzeptiert hätte, wären sie nur seiner eigenen Einsicht entsprungen“. Er stand Darwins Evolutionstheorie ebenso skeptisch gegenüber wie dem Befund Johann Carl Fuhlrotts, dass die in der sogenannten Kleinen Feldhofer Grotte bei Düsseldorf gefundenen Schädelknochen einem Urmenschen gehörten. Dass sie tatsächlich 42.000 Jahre alt waren, wurde 1903 kurz nach seinem Tod festgestellt.
Denn im Januar 1902 stürzte Virchow beim Abspringen von einer noch fahrenden Straßenbahn, brach sich den Oberschenkelhals und erholte sich von diesem Unfall nicht mehr. Er starb am 5. September 1902 und wurde auf dem Alten St.-Matthäus-Kirchhof in Schöneberg begraben, seit 1952 als Ehrengrab der Stadt Berlin gewidmet. Er war Mitglied vieler Akademien der Wissenschaften weltweit. Die Rudolf-Virchow-Medaille ist die höchste Auszeichnung der Deutschen Gesellschaft für Pathologie. Zudem wurden der Rudolf-Virchow-Preis (DDR) sowie der Virchow-Preis des Aktionsbündnisses Thrombose nach ihm benannt, daneben ein Campus-Klinikum der Charité, Straßen, Plätze, ein Mondkrater, ein Asteroid – und die Rudolf-Virchow-Vorlesung des Römisch-Germanischen Zentralmuseums Mainz. Sein Nachfolger als Professor in Berlin, sein ehemaliger Assistent Johannes Orth, würdigte seinen Lehrer in einem Nachruf als „Praezeptor orbis terrarum“.