„Ihr Sohn ist geistig behindert“
17. Oktober 2021 von Thomas Hartung
Ohne die Liebe seiner Mutter wäre die Welt vielleicht um ein Genie ärmer. Als er eines Tages aus der Schule kam, gab er ihr einen Brief: „Mein Lehrer sagte mir, ich solle ihn nur meiner Mutter zu lesen geben.“ Sie habe die Augen voller Tränen gehabt, als sie dem Kind laut vorlas: „Ihr Sohn ist ein Genie. Diese Schule ist zu klein für ihn und hat keine Lehrer, die gut genug sind, ihn zu unterrichten. Bitte unterrichten Sie ihn selbst.“ Viele Jahre nach ihrem Tod stieß er in alten Familiensachen auf ein zusammengefaltetes Blatt Papier, öffnete es und las: „Ihr Sohn ist geistig behindert. Wir wollen ihn nicht mehr in unserer Schule haben.“ Er weinte stundenlang und schrieb dann in sein Tagebuch: „Thomas Alva Edison war ein geistig behindertes Kind. Durch eine heldenhafte Mutter wurde er zum größten Genie des Jahrhunderts.“ Der Erfinder, der zeitlebens 1093 Patente anmeldete, darunter Glühbirne, Phonograph und Zement-Drehrohrofen, starb am 18. Oktober 1931.
Die „Behinderten“-Diagnose beruhe darauf, dass Edison bereits in seiner Kindheit Hörprobleme hatte und sein Leben lang schwerhörig war, sind sich Biographen heute sicher. Er wurde als siebtes und letztes Kind eines unsteten Freidenkers und einer Lehrerin in Milan (Ohio) am 11. Februar 1847 geboren – noch heute als „Erfindertag“ (National Inventors Day) in den USA gefeiert. Das Elternhaus wird als intellektuell stimulierend eingeschätzt. Als er sieben Jahre alt war, zog die Familie nach Port Huron (Michigan), wo er von seiner Mutter unterrichtet wurde. Bereits vier Jahre später erhielt er eine erste Anstellung für den Süßigkeiten- und Zeitungsverkauf als „Trainboy“. Die langen Haltezeiten der Züge in Detroit bis zur Rückfahrt nutzte er für das Lesen von Büchern in der dortigen Bibliothek. Er kritisiert später das amerikanische Ausbildungssystem, äußerte sich geringschätzig über den Wert von Fächern wie Latein und sah die Ausbildung praktisch befähigter Ingenieure als Hauptaufgabe.
1862 bekam er von einem Telegrafisten, dessen Sohn er vor einem Unfall bewahrt hatte, Unterricht in der Telegrafentechnik und arbeitete danach sechs Jahre in wechselnden Anstellungen landesweit als Telegrafist. In dieser Zeit gewann er als Autodidakt nicht nur ein profundes Verständnis für diese Kommunikationstechnik, sondern erkannte auch deren Bedeutung für viele Geschäftsbereiche, begann zu experimentieren und 1868 in Boston selbst Telegrafentechnik zu entwickeln. Im April dieses Jahres veröffentlichte The Telegrapher seinen Bericht zu einer von ihm entwickelten Variante der Duplex-Technik für die gleichzeitige Übertragung von zwei Nachrichten über eine Leitung. Diese erste Veröffentlichung bewirkte zugleich seine Wahrnehmung in der Fachwelt. Im selben Jahr meldete er sein erstes Patent auf einen elektrischen Stimmenzähler für Versammlungen an.
Er lernte den Ingenieur Franklin Pope kennen, gründete mit ihm und weiteren Partnern eine erste Firma und erwarb mit ihm gemeinsam Patente für Telegrafen mit Druckvorrichtungen, die unter anderem zur Übermittlung der Goldpreise aus der Börse an die Händler benötigt wurden. Die Branche wurde zunehmend auf sein Talent aufmerksam. 1870 entstand Edisons erste eigen Werkstatt für Entwicklung und Fertigung von Kurstelegrafen und Telegrafen für private Leitungen in New Jersey. Sie markierte den Beginn der Tätigkeit Edisons als Erfinder-Unternehmer und hatte um die 50 Mitarbeiter, die etwa 600 Geräte im Jahr produzierten. Aufgrund zunehmender Einnahmen kaufte er 1871 sein erstes eigenes Haus, heiratete seine Frau Mary und bekam mit ihr drei Kinder.
„Ich bin ein guter Schwamm“
1876 wurde er praktisch über Nacht weltberühmt, nachdem er die Leitung des Menlo Park Laboratoriums übernommen und seine bahnbrechende Erfindung des Phonographen der Öffentlichkeit vorgestellt hatte. Mit konnten erstmals gesprochene Stimmen oder Musik aufgenommen und anschließend durch eine von Hand gedrehte Trommel wieder abgespielt werden. Die nächsten Jahre waren von zahlreichen Erfindungen geprägt, die Edisons internationalen Ruf als visionärer Techniker untermauerten und ihn zu einem reichen Mann machten. Er erkannte die Nützlichkeit und Marktlage von Erfindungen und hatte Managerqualitäten: Es gelang ihm stets, finanzkräftige Investoren für seine zahlreichen Projekte zu finden und sie von deren wirtschaftlichen Perspektiven zu überzeugen.
Da Edison von einer Elektrifizierung urbaner Räume träumte, konzentrierte er sich in den späten 1870er Jahren auf die Entwicklung der Glühbirne, die ihm 1880 erste internationale Erfolge einbrachte. Bis heute wird kolportiert, dass der wahre Erfinder der Glühlampe ein anderer war: Zuletzt galt der in New York ansässige deutsche Uhrmacher Heinrich Goebel als ihr wahrer Erfinder. Doch 2006 kamen neue Studien zu dem Schluss, dass auch er nicht der Richtige sei. Die Geschichte passt zu seiner Selbsteinschätzung: „Ich bin ein guter Schwamm, ich sauge Ideen auf und mache sie nutzbar. Die meisten meiner Ideen gehörten ursprünglich Leuten, die sich nicht die Mühe gemacht haben, sie weiterzuentwickeln“. Er sei ein „homo faber der extremsten Form gewesen…und seine raffinierteste Erfindung sei seine Selbstwandlung zur Kulturikone gewesen“, urteilt Edison-Biograf Neil Baldwin.
Sein Glanz war zunehmend umstritten. Schon seit seiner ersten Firmengründung kam es immer wieder zu Streitigkeiten und Gerichtsverfahren. Edison führte zahlreiche Urheberrechtsprozesse gegen Andere, geriet aber genauso oft in Verdacht, selbst gegen Urheberrechte zu verstoßen. Nach der Patentierung der Glühbirne folgten die Gründungen unterschiedlicher Unternehmen wie der Edison Lamp Co. oder der Edison Electric Light Co. sowie von Zweigstellen in Europa. Edison meldete allein über dreißig Patente auf technische Entwicklungen rund um die Glühlampe an, die ab 1883 zu einer schrittweisen Stromversorgung New Yorks durch unterirdisch verlegte Kabel führten. Ein Jahr später starb Mary, woraufhin Edison seine zweite Frau Mina heiratete. Auch aus dieser Ehe gingen eine Tochter und zwei Söhne hervor. Sein Sohn Charles wird nach dem Rückzug seines Vaters 1927 die Führung des Konzerns übernehmen, 1940 unter Roosevelt das Amt des Marineministers bekleiden und danach Gouverneur des Bundesstaates New Jersey.
Edisons Konkurrent George Westinghouse hatte in dem kroatischen Erfinder Nikola Tesla, der zuvor kurze Zeit bei Edison tätig gewesen war, einen genialen Mitarbeiter gewonnen, der durch die Idee eines rotierenden magnetischen Feldes den Wechselstrom entwickelt hatte. Zwischen Edison, der den Gleichstrom als einzige Möglichkeit einer Elektrifizierung favorisierte, und Westinghouse kam es dadurch zum sogenannten „Stromkrieg“, der ersten bedeutenden wirtschaftlichen Auseinandersetzung in der Geschichte der Vereinigten Staaten. Um Teslas Errungenschaften zu denunzieren, ließ er zahlreiche Tiere, darunter auch Katzen und Hunde, im Zuge öffentlicher Vorführungen durch Wechselstrom qualvoll verenden. Mit der Elektrisierung und Tötung eines Elefanten legte er den Grundstein zur Entwicklung des elektrischen Stuhls 1888, der in den USA bis ins Jahr 2013 zur Hinrichtung von zum Tode verurteilten Menschen benutzt wurde.
Partner und nicht Angestellte
1893 ging ein lukrativer Vertrag zur Elektrifizierung der Weltausstellung in Chicago an Westinghouse und nicht an Edisons ein Jahr zuvor gegründete General Electric Co. Nach dieser Niederlage konzentrierte sich Edison auf technische Entwicklungen innerhalb der Filmindustrie und erfand mit dem Kinetographen den direkten Vorläufer der heutigen Filmkamera. 1893 führte er den 35-mm-Film mit Lochperforation für den Transport ein, der Industriestandard wurde. Dieser Erfolg veranlasste ihn, sich ab Beginn des 20. Jahrhunderts mit der Einrichtung von Filmstudios und der Entwicklung verschiedener Tonträger zu beschäftigten. Damit machte er sich einen Namen als einer der Pioniere der US-amerikanischen Filmindustrie: Ein Stern auf dem Hollywood Walk of Fame war der Lohn.
1912 wurde das Kinetofon patentiert, eine Kombination von Filmkamera und Phonograph, die den frühen Tonfilm ermöglichte. 1915 wurden er und Tesla für den Nobelpreis vorgeschlagen. Da sie sich jedoch beide weigerten, die Auszeichnung zusammen entgegenzunehmen, wurden sie bei der Auswahl übergangen. Ab diesem Zeitpunkt arbeitete der alternde Edison vermehrt an der Verbesserung elektrisch betriebener Fahrzeuge. Gemeinsam mit anderen Wissenschaftlern stellte er sich nach der Versenkung der RMS Lusitania durch die Marine im Ersten Weltkrieg der Regierung zur Verfügung, um Abwehrmaßnahmen gegen deutsche U-Boote zu erarbeiten. Er wurde Vorsitzender des Naval Consulting Board, das Vorschläge und Erfindungen prüfen und in Prototypen umsetzen sollte.
Bevor er in New Jersey verstarb, hatte er das Prinzip des Wechselstroms als bessere Lösung anerkannt und seine Arroganz gegenüber Westinghouse und Tesla als gravierenden Fehler zugegeben. US-Präsident Herbert Hoover bat die Amerikaner, anlässlich seiner Beisetzung die elektrischen Lampen auszuschalten. Er wird als charismatische Persönlichkeit beschrieben. Mitarbeiter aus Menlo Park sagten später, er habe ihnen das Gefühl gegeben, Partner und nicht Angestellte zu sein. Bei relativ geringer Bezahlung stellte Edison seinen Mitarbeitern ihren Leistungen entsprechende Anteile an später zu gründenden Unternehmen in Aussicht. Als sich bei der Entwicklung der Glühlampe und der Elektroinfrastruktur erste Erfolge einstellten, hatten selbst geringste Anteile seiner Mitarbeiter bereits den Gegenwert mehrerer Jahresgehälter.
„99 Prozent Transpiration“
Für den Historiker Keith Near war Edison von allen berühmten Personen diejenige, über die man am wenigsten wisse. Was die meisten über ihn zu wissen glaubten, seien nichts Anderes als Märchen. An der wissenschaftlichen Aufbereitung der umfangreichen Quellen arbeitet ein Team von etwa zehn Historikern seit über 20 Jahren im Projekt The Thomas Edison Papers an der Rutgers University in New Jersey; ein Ende ist nicht abzusehen. Edison hat allein 3500 Notizbücher hinterlassen mit Zeichnungen, die das Entstehen vollendeter Erfindungen dokumentieren, sowie Skizzen von nicht realisierten Ideen. Zu seinen erfolglosen Erfindungen gehören Skurrilitäten wie die Herstellung von Möbeln und Klavieren aus Beton. Auch die aus der Glühlampenherstellung abgeleitete und patentierte Konservierung von Obst in evakuierten Glasbehältern blieb damals erfolglos.
„Was Henry Ford für den Automobilbau ist, George Eastman für die Fotografie und Charles Goodyear für die Gummiherstellung, ist Edison nicht für eine, sondern gleich für mehrere heute grundlegende Technologien“, befand Kathleen McAuliffe in The Atlantic Monthly. Von der Popularität Edisons auch in Deutschland zu jener Zeit zeugt eine Umfrage der Berliner Illustrierte Zeitung zur Jahrhundertwende 1899/1900. Die etwa 6000 teilnehmenden Leser wählten Thomas Edison zum größten Erfinder. „Heute ist die Fachwelt sich praktisch einig, dass Edisons wichtigster Beitrag nicht seine Erfindungen selbst waren, sondern die Erfindung der Erfindungsindustrie. Edison ist kein Geringerer als der Vater der modernen Forschung und Entwicklung“, meint Debra Galant in der New York Times 1997. Er selbst kommentierte sein Erfolgskonzept mit dem legendären Satz: „Genialität besteht zu einem Prozent aus Inspiration und zu 99 Prozent aus Transpiration.“