„ein Vertrauter der Hölle“
10. November 2021 von Thomas Hartung
Stirbt die Natur zum Winter hin, werden die Menschen im Sternbild Skorpion geboren. Kein Wunder, dass ihnen zu Leid, Vergänglichkeit, Tod, Trauer und Erlösung eine besondere existenzialistische Nähe nachgesagt wird – die sie manchmal suchen, die sie manchmal aber auch ungewollt ereilt. Sein Leben und Werk ist ein Paradebeispiel dafür. Als kleiner Junge lief er voller Angst vor einem Wolf durch ein Sonnenblumenfeld in die Arme des Bauern Marai, der mit seinen erdverschmierten Fingern ein Kreuz auf seine Stirn malt, erinnert er sich. „Er war ein Vertrauter der Hölle“ schrieb Thomas Mann. Seit seiner Kindheit Epileptiker, erlebte er bei seinen Anfällen Gefühle, die aus Nahtod-Erfahrungen bekannt sind: „Ich fühlte mich, als wenn der Himmel auf die Erde herabgekommen wäre und mich einhüllte“, schreibt er in einem Brief.
Die tiefste Erfahrung aber wurde ihm am 22. Dezember 1849 in Petersburg zuteil – der 28jährige war gemeinsam mit anderen wegen des Vorwurfs umstürzlerischer Umtriebe zum Tod durch Erschießen verurteilt worden. In weiße Leichenkittel und Kappen eingekleidet und bereits an den Pflöcken festgebunden, wurde dann ein Erlass von Zar Nikolaus verlesen, der ihm alle Vermögensrechte absprach, ihn für vier Jahre zur Zwangsarbeit in die Verbannung schickte und danach zum einfachen Soldaten verpflichtete – Stefan Zweig gestaltet dieses Ereignis in den Sternstunden der Menschheit. 1864 musste er dann den Tod seiner ersten Frau, seines Bruders Michail und eines guten Freundes verkraften, woraufhin er 1865 nach Wiesbaden fuhr und aus Verzweiflung versuchte, seine finanzielle Lage durch das Roulettespiel zu verbessern. Er verlor jedoch alles, was er besaß, und wurde spielsüchtig. Auch zwei der vier Kinder seiner zweiten Frau musste er früh begraben – und lebte und schrieb weiter.
Der dänische Slawist Adolf Stender-Petersen hat sein Schreiben als „psychologischen Realismus“ charakterisiert. Jahrzehnte vor der Begründung der Psychoanalyse sondierte er minutiös die menschliche Seele, zeigte ihre inneren Widersprüche und die Macht des Unbewussten auf und bemühte sich um eine Rehabilitierung des Irrationalen. Sigmund Freud und Alfred Adler haben sein Werk studiert und konnten bei der Entwicklung ihrer Lehren aus Entdeckungen schöpfen, die er bereits ausführlich dargestellt hatte. Friedrich Nietzsche hat einmal geschrieben, er sei der einzige Psychologe, von dem er habe lernen können. „Er hat die Herrschaft der Großinquisitoren und den Triumph der Macht über die Gerechtigkeit vorausgesehen“, wies ihm Albert Camus gar eine prophetische Begabung zu: Fjodor Michajlowitsch Dostojewski, der am 11. November 1821 als jüngster Sohn einer verarmten Adelsfamilie in Moskau geboren wurde.
Ideal eines christlichen Sozialismus
Er hatte acht Geschwister, von denen sieben das Erwachsenenalter erreichten. Der russisch-orthodoxe Glaube spielte in der Familie eine große Rolle: Die Mutter hatte die Söhne mit religiösen Kinderbüchern alphabetisiert. Einen Großteil seiner Kindheit verbrachte Dostojewski in der Klinik, in der sein Vater als Arzt arbeitete. Diese bedrückende Atmosphäre prägte den Charakter des jungen Fjodor, der wenig Kontakt zur Außenwelt hatte und früh die Welt der Bücher für sich entdeckte. Vor allem Puschkin verehrte Dostojewski sein ganzes Leben lang als Halbgott. Er war Vielleser und verschlang daneben auch populäre Unterhaltungsliteratur der Zeit. Von 1833 bis 1837 besuchten er und sein Lieblingsbruder Michail zwei private Internatschulen. Nach dem frühen Tod der Mutter siedelte die Familie 1837 nach St. Petersburg über, wo zwei Jahre später auch sein Vater starb.
Ab 1838 studierte Dostojewski an der Militärakademie und begann im August 1843 seinen Dienst als Militäringenieur, zunächst als unbedeutender Militärzeichner. Als ihm eine Versetzung außerhalb Petersburgs drohte, reichte er 1844 seinen Abschied ein. In diesem Jahr hatte sich Dostojewski mit der Übersetzung französischer Prosa beschäftigt; seine Übertragung von Balzacs Eugénie Grandet wurde gedruckt. Aus Briefen ist bekannt, dass er daneben eigene schriftstellerische Versuche unternahm, die jedoch verloren gegangen sind. Sein erster erhaltener Text ist 1845 der Briefroman Arme Leute. Er porträtierte als erstes Werk in der russischen Literatur Menschen in Armut und Elend mit der ganzen Zartheit und Komplexität ihrer Gefühle und ihres Leidens. Die russische Intelligenzija feierte es enthusiastisch. Im selben Jahr lernte er den Kritiker Belinskij kennen, der einen atheistischen Sozialismus vertrat, ihn für die Lektüre von Ludwig Feuerbach warb und 1846 seine Novelle Der Doppelgänger veröffentlichte.
Parallel zur Publikation weiterer kleiner Prosaarbeiten wie „Weiße Nächte“ (1848) nahm er an Treffen der Petraschewzen teil und las dort ein „kriminelles Schreiben“ Belinskijs an Nikolai Gogol vor – nach Denunziation führte diese Lesung zum Prozess und zum Todesurteil. 1850-54 verbrachte er in Ketten in der Omsker Katorga, wo die politischen Häftlinge zusammen mit gewöhnlichen Kriminellen untergebracht waren. Er durfte nicht schreiben, lag aber einige Zeit in der Krankenstation, wo er heimlich ein Notizbuch führen konnte. Revolutionsideen und früheren politischen Überzeugungen schwor Dostojewski während der Gefangenschaft und des anschließenden Militärdienstes vollständig ab, hielt jedoch sein Leben lang am Ideal eines christlichen Sozialismus fest: der Idee, dass Menschlichkeit durch ihre spirituelle Kraft ein Paradies auf Erden schaffen könne.
Nach der Entlassung musste er sich im westsibirischen Semipalatinsk (heute Semei/Kasachstan) dem 7. Sibirischen Linienbataillon anschließen. Weil sich Freunde für ihn einsetzten, brauchte er nicht in der Kaserne zu wohnen, wurde 1855 zum Offizier befördert und durfte seit 1856 wieder veröffentlichen. Sein erster Text waren die „Aufzeichnungen aus einem Totenhaus“, in denen er präzise und authentisch die dürftigen Bedingungen der Katorga schilderte. Die Veröffentlichung mehrerer Kapitel scheiterten zuerst an der Zensur: Dostojewski hatte befürchtet, dass seine Enthüllung der Grausamkeit der Lagerrealität Anstoß erwecken würde. Doch das Gegenteil war der Fall: Ein Zensor kritisierte, dass potenzielle Straftäter durch die Schilderung nicht ausreichend abgeschreckt würden. Der Text begründete das Genre der „Lagerliteratur“, in dessen Tradition später auch Solshenizyn schrieb.
finsterste Winkel der menschlichen Seele
1857 heiratete er die Witwe Marija Issajewa, die einen 9-jährigen Sohn mit in die Ehe brachte, erhielt seine Bürgerrechte zurück und schrieb weiter, so die Novelle Onkelchens Traum oder den Roman Erniedrigte und Beleidigte. Da sich seine Epilepsie verschlimmerte, wurde er 1859 aus dem Militärdienst entlassen, siedelte erst nach Twer und nach Zar Nikolaus‘ Tod wieder nach Petersburg über. Ab 1861 gab er zusammen mit seinem Bruder die Zeitschrift Die Zeit heraus, nach deren Verbot Die Epoche. Seine Einnahmen ermöglichten ihm dann drei größere Europareisen, auf denen ihn teilweise seine Geliebte Polina Suslowa begleitete. Die dritte diente zur Bewältigung seines Schicksalsjahres 1864. Die Zeit der großen Ideenromane begann – insgesamt 35 Romane wird Dostojewski am Ende geschrieben haben, in denen er die finstersten Winkel der menschlichen Seele ausleuchtet, auch die seiner eigenen.
1866 erschien Schuld und Sühne, in dem er die seelischen Reuequalen von Rodion Raskolnikow gestaltet, der aus Nächstenliebe und Mitleid zum Mörder wird. Im selben Jahr engagierte er die 20-jährige Stenographin Anna Snitkina, der er in 24 Tagen den Kurzroman „Der Spieler“ diktierte – und die er 1867 heiratet. Die Personalie „könnte im Zeitalter von MeToo Brisanz entfalten“, zieht Tilman Krause in der Welt genüsslich vom Leder. Denn seine zweite Gattin sei nicht nur „zur kompetenten Mitarbeiterin, ja sogar zur Verlegerin mutiert. Sie schrieb dann auch die erste Dostojewski-Biografie. War das nun Ausbeutung oder Förderung?“ Im selben Jahr flüchtet er wegen anhaltender finanzieller Schwierigkeiten mit Anna bis 1871 ins Ausland, darunter lange nach Deutschland. Er spielte wieder, überwarf sich mit Turgenjew, erlebte in der Schweiz Geburt und Tod seiner ersten Tochter und veröffentlichte 1868 Der Idiot, in dem er seinen Fürst Myschkin mit seiner christusähnlichen Mitleidskraft zum Sonderling der Gesellschaft macht. Im Jahr darauf kam seine zweite Tochter Ljubow in Dresden zur Welt, wo er mit Unterbrechungen zwei seiner vier Auslandsjahre verbrachte. Heute erinnert ein Denkmal an der Elbe nahe dem Sächsischen Landtag daran.
Die Eheleute Dostojewski spazieren auf den Spuren des hoch verehrten Friedrich Schiller, trinken Kaffee in der „Schillerlinde“, hören im Großen Garten die Konzerte der Regimentskapelle, machen Dampferfahrten auf der Elbe oder holen sich russische Bücher aus der Pachmann‘schen Leihbibliothek in der Wilsdruffer Straße. Und fast täglich besuchen sie die Gemäldegalerie und dort immer wieder Raffaels „Sixtinische Madonna“, wobei er Ärger mit einem Wärter bekommt, da der Kurzsichtige auf einen Stuhl steigt, um sie besser betrachten zu können. Hier schreibt Dostojewski die ersten zwei Bände der Dämonen und nennt darin Dresden einen „Schatz in einer Schnupftabakdose“, der „noch dazu eine kleine Schweiz im Taschenformat hat“. In den fast 60 Briefen, die Dostojewskij aus Dresden schrieb, spielt ihr Leben in der Stadt jedoch kaum eine Rolle. Mit seinen Gedanken war er allein in Russland, von dessen missionarischer Sendung für die Welt er sich durch seine Erfahrungen in Westeuropa bestätigt fühlte. In einem Brief spricht er vom „Licht aus dem Osten, das zu der erblindeten Menschheit im Westen strömt, die Christus verloren hat“.
Zurück in Petersburg gebar seine Frau den ersten Sohn Fjodor. Er vollendet den dritten Teil der Dämonen und veröffentlicht 1875 Der Jüngling. Im selben Jahr kommt sein zweiter Sohn Aljoscha zur Welt, der drei Jahre später schon wieder stirbt. 1880 erschien der letzte und umfangreichste Roman Die Brüder Karamasow, eine hochkomplexe kriminalistische Familiengeschichte mit einer immensen Anzahl an Figuren und vielen Handlungssträngen, in denen Dostojewski sämtliche Ideen und Menschenentwürfe, die ihn bis dahin bewegt hatten, erneut behandelte. Die zentralen Fragen, die von den Protagonisten auf jeweils eigene Weise beantwortet werden, sind die nach der Existenz Gottes und dem Sinn des Lebens. Das künstlerische Autorentum Dostojewskis erreicht hier seinen Höhepunkt, was Sigmund Freud zu dem Urteil veranlasste, dies sei „der großartigste Roman, der je geschrieben wurde“. Hermann Hesse las ihn als Prophezeiung des Unterganges des europäischen Geistes. Dostojewskis mehrdeutige Sentenz „Wir sind Revolutionäre (…) aus Konservatismus“ wurde 1921 von Thomas Mann aufgegriffen und in das Schlagwort einer „konservativen Revolution“ umgemünzt. Seine finanzielle Lage hatte sich in den letzten Jahren aufgrund seines Ruhmes verbessert, doch sein Gesundheitszustand verschlechterte sich rapide. Fjodor Dostojewski verstarb am 28. Januar 1881 nach einem Blutsturz infolge eines Lungenemphysems.
getrieben von Liebe und Sehnsucht
An der Trauerfeier am 31. Januar nahmen 60.000 Menschen teil. Begraben ist er auf dem Tichwiner Friedhof im Alexander-Newski-Kloster. Mit Iwan Turgenjew und Leo Tolstoi gehört Dostojewski zum unangefochtenen Dreigestirn des russischen Romans, zu den Giganten der russischen Literatur. Er avancierte mit moderner psychologischer Erzählweise und der philosophischen Komplexität seiner Gedankenwelt zu einem der bedeutendsten Autoren des 19. Jahrhunderts, der seinerseits nahezu alle namhaften Autoren nach ihm beeinflusste. Bezeichnend für seinen Stil ist die große emotional-emphatische Eindringlichkeit der Beschreibung der Charaktere seiner Protagonisten. Seine Gestalten sind entweder von einem bösen Dämon gerittene Wesen, andere wieder von einer fast überirdischen Reinheit und Weichheit. Immer ist er von tiefstem Mitleid und Verstehen der gequälten Menschheit besessen. „Thema seines gesamten Schaffens ist das Leben der Erniedrigten und die verzweifelte Menschenseele, die aber trotz aller Verirrungen sich immer wieder erhebt, getrieben von Liebe und Sehnsucht nach dem Guten“, befindet Georg Bürke auf dem Blog Deutschland-Lese.
Seine Romane spielen fast ausnahmslos in der Großstadt, besonders in Petersburg, dessen Elendsviertel er mit ungeheurer Kraft und Anschaulichkeit schildert und ins Unheimliche, ja Dämonische steigert. Doch er lehnt alle Versuche ab, die sozialen Probleme durch äußere Mittel zu lösen, und ersehnt Erlösung allein durch die erbarmende Liebe Gottes, der sich dem Demütigen und Liebenden offenbart, selbstherrliches Übermenschentum aber an der eigenen Überheblichkeit scheitern lässt. Besonders in seinem Spätwerk zeigt sich als leitendes Motiv die vom Sozialismus übernommene Idee eines goldenen Zeitalters. Trotzdem wurde er, beginnend bei Lenin und Maxim Gorki, bis 1956 in seiner Heimat als „reaktionär“, „bourgeois“ und „individualistisch“ verfemt. Seine Werke wurden in mehr als 170 Sprachen übersetzt. „Bei Dostojewski gab es Glaubhaftes und Unglaubhaftes“, bilanzierte Ernest Hemingway seine Lektüre, „aber manches davon so wahr, dass es beim Lesen einen anderen Menschen aus dir macht“.