„Tragödie am Kilometerstein 88“
26. November 2021 von Thomas Hartung
Als er unter dem Vorwand einer wichtigen wirtschaftspolitischen Beratung kurzfristig für den 23. März 1968 nach Dresden gerufen wird, ahnt er nicht, mit welch massivem Aufwand alle anderen bereits in den letzten drei Wochen, seit Aufhebung der Zensur in der ČSSR, Informationen über seine Politik der Öffnung gesammelt und eine konzertierte Aktion vorbereitet haben. Als sich in Elbflorenz die Generalsekretäre der sechs sozialistischen Bruderparteien versammeln (UdSSR, Polen, Ungarn, Bulgarien, DDR und ČSSR – das eigensinnige Rumänien wurde ganz bewusst nicht eingeladen) und in einer gemeinsamen Attacke versuchen, ihn und seine Genossen einzuschüchtern, wird streng darauf geachtet, das nichts nach außen dringt. Und so machen sich westliche Zeitungen – ohne wirkliche Quellen – ihren Reim darauf.
Der Daily Express schreibt nach der Konferenz in Dresden: „Der ruhige Tscheche geht als Sieger nach Hause.“ Der neue Parteichef habe in Dresden triumphiert. Ein paar Meter weiter, beim konservativen Daily Telegraph, das komplett gegenteilige Bild: „Nach der panischen kommunistischen Supergipfeltagung scheint es möglich, dass Russland bereit sei, Gewalt anzuwenden.“ Zwei Mal ein Blick in die Glaskugel – denn valide Informationen besitzen beide Blätter nicht. Ganz bewusst wurde in Dresden kein offizielles Protokoll angefertigt: Auch 1968 schon hatte man Angst vor den Leaks im eigenen Apparat. Aber ein inoffizielles gibt es, heimlich stenografiert und von Walter Ulbricht, möglicherweise in Absprache mit Leonid Breschnew, angeordnet.
Während Breschnew in Dresden versucht, zwei Rollen auf einmal zu bedienen – die des aggressiv Parteidisziplin einfordernden Chef-Generalsekretärs und die des sorgenden Vaters, für den das Wohl der sozialistischen Gemeinschaft an oberster Stelle steht, erweist sich ausgerechnet Polens Parteichef Władysław Gomułka als Scharfmacher: „Ihre Führung und Ihre Regierung haben im Wesentlichen nichts in der Hand. Sie führen nicht. Sie regieren nicht. … Wir haben nicht die Absicht, uns in die inneren Angelegenheiten einzumischen, aber es gibt Situationen, wo so genannte innere Angelegenheiten äußere Angelegenheiten werden, also Angelegenheiten des ganzen sozialistischen Lagers.“ Und dann schlägt Breschnew zu: „Wir können der Entwicklung in der Tschechoslowakei nicht mehr länger unbeteiligt zuschauen.“ Damit ist das Schicksal des „Prager Frühlings“ und auch seins als Parteichef früh besiegelt: Alexander Dubček, der am 27. November vor 100 Jahren im nordwestslowakischen Uhrovec als zweiter Sohn eines Tischlers und Kommunisten geboren wurde.
„sozialistisch“ nicht gerechtfertigt
Der Vater folgt dem Aufruf der „Internationalen Arbeiterhilfe“, sich am Aufbau der Sowjetunion zu beteiligen, übersiedelt mit seiner Familie 1925 und lebt bis zur Rückkehr 1938 anfangs im kirgisischen Bischkek (heute Frunse), ab 1933 in Zentralrussland. In dieser Zeit lernte Alexander Maschinenschlosser. 1939 wurde er Mitglied der Kommunistischen Partei der Slowakei (KPS), war ab 1941 Facharbeiter in den Skoda-Werken in Dubnica nad Váhom und nahm 1944 zusammen mit der Partisaneneinheit „Jan Ziska“ am Slowakischen Nationalaufstand teil. In den Kämpfen kommt sein älterer Bruder ums Leben. 1945 beginnt er als Schlosser in einer Hefefabrik in Trencin zu arbeiten und heiratet seine Kindheitsfreundin Anna. Aus der Ehe gehen drei Söhne hervor. Ab 1949 machte der als spröde, blass und unscheinbar beschriebene Dubček über verschiedene Parteiämter Karriere, ging 1955 für drei Jahre zum Studium an die Moskauer Parteihochschule und erlebt das Tauwetter nach Stalins Tod.
Nach seiner Rückkehr gerät er prompt in Konflikt mit Antonín Novotný, dem damaligen Ersten Sekretär des Zentralkomitees der KPČ. So lehnt er dessen Verfassungsreform von 1958 ab: Nach seiner Meinung war bspw. die Namensänderung von ČSR in ČSSR – also der Zusatz „sozialistisch“ – nicht gerechtfertigt. Der Kampf kulminierte am 31. Oktober 1967: Dubcek fordert auf einer ZK-Tagung seinen Rücktritt, da dessen autoritäres und starres System immer mehr auf Ablehnung innerhalb der Bevölkerung stoße. An diesem Tag hatten Studenten gegen die Zustände in ihren Wohnheimen protestiert, Novotný ließ die Proteste gewaltsam auflösen. Letztlich ging es dabei um Banales, meint der Münchner Historiker Martin Schulze Wessel im DLF: „Es ging darum, dass es in dem Studentenwohnheim keinen Strom und keine Heizung gab. Und man ging dann mit Losungen auf die Straße‚ wir wollen mehr Licht, mehr Wärme, was auch sehr bildhaft zu verstehen war.“ Am 5. Januar 1968 löste Dubček Novotný als Ersten Sekretär der KPČ ab – noch mit Moskauer Zustimmung.
„Wir wussten nicht viel über ihn, aber die Slowaken versicherten uns, dass er einen beträchtlichen Schub in Sachen Freiheit bringen würde. Man konnte mit ihm reden. Im Grunde genommen war er ein lieber Mensch, der versuchte, mit jedem gut auszukommen. Er war nicht dieser traditionelle Kommunist, der genau wusste, was die Wahrheit ist“, so der Schriftsteller Ivan Klíma. Schlüsseldokument wurde ein Aktionsprogramm, das Dubček vor dem Zentralkomitee verteidigte: „Wir müssen der Initiator für die Verfassungsänderung unserer Republik werden. Dabei geht es nicht nur um die Verbesserung von Missständen, sondern tatsächlich um ein neues Konzept, das den Bedürfnissen unserer Gesellschaft in den kommenden Jahren gerecht wird.“ Eine technokratische Expertenregierung sollte die Krise beenden und wurde im April unter Oldrich Cernik gebildet, und auch die langjährigen Forderungen der Slowaken nach stärkerer Selbstbestimmung sollten die Reformer erfüllen.
„die Bürger konnten Einfluss nehmen“
Das Parteiorgan Rudé Pravo schrieb von einem „tschechoslowakischen Weg zum Sozialismus“. Besonders die Gesellschaft soll liberalisiert werden, um dem „Sozialismus ein menschliches Antlitz“ zu geben. Unter anderem wird die Zensur abgeschafft, den Bürgern die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit garantiert, Reisen ins westliche Ausland erlaubt sowie Privatisierungen kleinerer Betriebe sowie Entscheidungskompetenzen für Betriebsräte eingeleitet. Kommunismus, Einparteiensystem und die Treue zu Moskau dagegen stellte Dubček nicht in Frage: „Es ist nicht nötig, darüber zu diskutieren, ob die Partei die führende Rolle behalten soll oder nicht, aber wir müssen die Art der tatsächlichen Anwendung dieser Rolle überprüfen.“ Er wird zur weltweit berühmten Symbolfigur des sogenannten Prager Frühlings, erhält den Tschechoslowakischen Friedens- und den Dimitroff-Preis.
In kurzer Zeit entwickelte sich in der Tschechoslowakei eine kritische Öffentlichkeit, sagt der Historiker Vítězlav Sommer ebenfalls im DLF: „Die Medien wurden zu einer mehr oder weniger freien Tribüne für den Austausch darüber, in welche Richtung die Reform gehen sollte. Nun wurde die Entwicklung nicht nur von oben, von Politikern und Experten gesteuert, sondern auch die Bürger konnten Einfluss nehmen, von unten.“ Jenseits der Partei entstanden offene politische Gruppierungen wie der „Klub der engagierten Parteilosen“ und unabhängige Studentenorganisationen. Zum bedeutenden Zeugnis des aufkeimenden Pluralismus wurde das „Manifest der 2000 Worte“, das im Juni massive Kritik an der Politik der Partei äußerte. Im September sollte ein vorgezogener großer Parteitag die Reformer endgültig legitimieren.
Doch als Anfang August in Bratislava ein letzter Versuch der „sozialistischen Bruderländer“ scheiterte, die tschechoslowakischen Genossen zur politischen Umkehr zu bewegen, okkupieren in der Nacht auf den 21. August Truppen des Warschauer Paktes das Land. Die DDR-Volksarmee blieb hinter der Grenze, denn man wollte jede Erinnerung an den Einmarsch der deutschen Wehrmacht 1938/1939 vermeiden. Historiker sprechen von mehr als 100 Toten und 500 Verletzten. Die NATO musste dem Einmarsch tatenlos zusehen, jede Hilfe war wegen der atomaren Bedrohung völlig ausgeschlossen. Am 12. November 1968 erlässt der sowjetische Parteichef dann seine „Breschnew-Doktrin“, die von einer beschränkten Souveränität der sozialistischen Staaten sprach und eine neue Erstarrung der beiden Blöcke im „Kalten Krieg“ auslöste.
Dubček verharrt im Prager ZK-Gebäude, bis er verhaftet wird. Anschließend wird er nach Moskau verschleppt und unterzeichnet dort mit dem „Moskauer Protokoll“ die Kapitulationsurkunde des Reformprozesses sowie die Einführung politischer Verhältnisse nach sowjetischem Vorbild. Er kehrt als gebrochener Mann zurück. Als er vor dem Radiomikrophon saß, um die Ergebnisse aus Moskau zu verkünden, versagte ihm mehrmals die Stimme. Am 17. April 1969 musste er als Parteichef der KPČ zurücktreten und durfte ein halbes Jahr den unbedeutenden Posten des Parlamentspräsidenten bekleiden. Danach für kurze Zeit als Botschafter in die Türkei abgeschoben, wird ihm im Januar 1970 sein Platz im ZK der Partei, im April sein Mandat im Slowakischen Nationalrat und im Juni seine Parteimitgliedschaft entzogen.
Dubček weigert sich, das Land zu verlassen, und arbeitet bis zu seiner Pensionierung, abgeschirmt von der Öffentlichkeit durch den Sicherheitsdienst, als Aufseher eines Fuhrparks der Waldarbeiter in einem Forstbetrieb in Bratislava. 1974 beschwert er sich in einem Brief an den neuen Parteichef Husák über die Verweigerung der Promotionsfeier für seinen Sohn und kritisiert zusätzlich die politische Situation im Lande. Husák, der kein Stalinist war, aber Realismus mit Opportunismus auf den einen Nenner der Macht brachte, bescheinigte dem Vorgänger „ehrliches Bemühen“ plus Naivität und Romantik. Die 1977 vor allem von Václav Havel initiierte „Charta 77“ unterschrieb Dubček nicht.
unvorsichtige Politik?
1988 darf er auf Drängen der italienischen Kommunisten die Ehrendoktorwürde für politische Wissenschaften der Universität Bologna im Rahmen ihrer 900-Jahres-Feier entgegennehmen. Die Prager Reformbewegung wäre ohne das gewaltsame Eingreifen der Sowjetunion sicherlich erfolgreich gewesen, ihre Ziele ähnelten denen der Reformpolitik Michail Gorbatschows, sagte er in seiner Rede. Noch immer jedoch würden Menschen, die so dächten wie er, in der ČSSR verfolgt. Es war Dubčeks erster öffentlicher Auftritt in einem westlichen Staat überhaupt. Im Zuge der Reformpolitik ab 1989 wird er Mitbegründer der Bewegung „Öffentlichkeit gegen Gewalt“ (VPN).
Er trat am 22. November im Rahmen der „Samtenen Revolution“ erstmals wieder in Prag öffentlich auf. Zwei Tage später sprachen Havel und er am Wenzelsplatz zu hunderttausenden Demonstranten und forderten den Rücktritt des Politbüros der Kommunistischen Partei. „Es kommt, glaube ich, sehr selten vor, dass ein Mensch, der bei der Geburt einer großen Bewegung dabei ist, 20 Jahre später wieder in dieselbe Politik zurückkehrt“. Doch es ist nicht dieselbe Politik. Die Bevölkerung will keinen demokratischen Sozialismus, sondern einen freiheitlichen Kapitalismus. Seine Zeit ist vorbei, obgleich die alte Parteiführung ging und er rehabilitiert wurde.
Am 28. Dezember 1989 wieder zum Parlamentspräsidenten gewählt, erhält er den Sacharow-Menschenrechtspreis und in den nächsten 20 Monaten die Ehrendoktorwürde der Universitäten Madrid, Washington, Bratislava, Brüssel und Dublin. 1990 stirbt seine Frau Anna. Er verlässt die VPN wegen deren nationalistischen Bestrebungen, tritt 1992 in die Sozialdemokratische Partei der Slowakei (SDSS) ein, deren Vorsitz er im Juni übernimmt, und wird als heißer Kandidat für das Amt des slowakischen Präsidenten gehandelt. Am 1. September erleidet er dann auf der Autobahn nahe der Stadt Humpolec mit seinem Dienst-BMW einen schweren Unfall: Aquaplaning und überhöhte Geschwindigkeit, heißt es später. Er bricht sich Rückgrat und Becken und stirbt am 7. November im Prager Homolka-Krankenhaus. Die Aufspaltung des Landes in Tschechien und Slowakei erlebt er nicht mehr.
Da der Chauffeur und ehemalige Mitarbeiter des tschechischen Geheimdienstes, Jan Resnik, der zudem als rasanter Fahrer verschrien war, lediglich leicht verletzt wurde, nur wenige Vertraute Route und Ziel kannten und die Aktentasche Dubčeks, die brisante Dokumente über die Rolle des KGB bei der Niederschlagung des Prager Frühlings enthalten haben soll, spurlos verschwindet, wird von seinem Sohn Pavol und anderen bis heute die These eines gezielten Anschlags diskutiert. Letzteren versuchte der Jurist Liboslav Leksa in seinem 1998 veröffentlichten Buch „Tragödie am Kilometerstein 88“ zu beweisen. Doch mehrere staatliche Untersuchungen, die diesem Verdacht nachgingen, fanden – zuletzt und endgültig 1999 – keine Hinweise auf Unregelmäßigkeiten.
Sowohl in der Tschechischen Republik als auch in der Slowakei wird der „Prager Frühling“ heute zum großen Teil als unvorsichtige Politik gewertet, die die Tschechoslowakei danach zu einem der repressivsten kommunistischen Staaten überhaupt werden ließ. Denn Dubčeks „dritter Weg“ hätte unweigerlich in eine Demokratie geführt: Zu schnell entwickelte sich in breiten Schichten der Bevölkerung der Wunsch, nun alle Freiheiten zu genießen. Jede dieser Freiheiten, zumindest aber ein Mehrparteiensystem, hätte den Sozialismus zweifellos beendet.
So hat der tschechische Reformer ungewollt eines endgültig bewiesen: Einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“, wie ihn Teile der bundesdeutschen Linken bis heute propagieren, kann es nie geben. „Wer den Sozialismus vermenschlichen will, muss ihn beseitigen“, meint der Politologe Andreas von Delhaes-Guenther im Bayernkurier. „Denn der Allmachtsanspruch dieser Ideologie, das Gleichmachen von Ungleichem, das zwangsweise zum Scheitern verurteilte Wirtschaftskonzept und die Idee, den Menschen jede Eigenverantwortung zu nehmen, führt zwangsläufig immer in die Diktatur.“