„der Puls beschleunigte sich“
16. November 2021 von Thomas Hartung
Was wäre in diesem Jahr für eine Diskussion entbrannt! „Wie kann man die Pockenimpfung einführen, ohne selbst mit gutem Beispiel voranzugehen?“, schrieb sie in einem privaten Brief an Friedrich II. von Preußen. Sie ließ Mitte Oktober 1768 eigens den britischen Arzt Tomas Dinsdale kommen, der die Impfmethode der sog. „Inokulation“ praktizierte, die in Indien seit der Antike bekannt war: Bis zu 15 winzige Schnitte wurden in der Haut gemacht, so dass es kaum blutete. Auf die Wunden wurde ein Stück Stoff gelegt, das mit einer Lösung aus Wasser und Flüssigkeit aus Pockenpusteln getränkt war, in ihrem Fall von einem 6-jährigen Jungen.
Der Arzt führte ein Tagebuch über ihren Zustand: „In der Nacht nach der Impfung schlief die Kaiserin gut, es gab leichte Schmerzen und der Puls beschleunigte sich. Der Gesamtzustand war ausgezeichnet. Das Essen bestand aus Eintopf, Gemüse und etwas Hühnerfleisch.“ Am 18. Oktober hatte sie zum ersten Mal Fieber, verlor den Appetit, und an ihrem Körper bildeten sich Pockenpusteln. Nach zehn Tagen waren alle Symptome vollständig abgeklungen, und am 1. November nahm sie nicht nur die Glückwünsche ihres Hofstaates entgegen, sondern ließ auch ihren Sohn Paul Petrowitsch erfolgreich impfen.
Dass sie Angst vor den Pocken hatte, lag auch an ihrem Mann Peter III., der als Kind schwer erkrankt war und noch immer unter den Folgen litt: seine Gesundheit war irreversibel beschädigt und sein Gesicht für immer entstellt von Pockennarben – was erotisch so wenig anziehend war, dass sie sich mit über 20 Liebhabern umgab. Ob ihrer erfolgreichen Immunisierung ernannte sie Dinsdale zum Baron und gab ihm eine jährliche Rente. Dann impfte der englische Arzt den höchsten russischen Adel. Nach seiner Rückkehr nach England war Dimsdale so reich, dass er eine Pockenimpfklinik und eine Bank eröffnete. Er kehrte 1781 noch einmal nach Russland zurück, um auch Konstantin und Alexander zu impfen, ihre Enkel: Katharina II. „die Große“, die vor 225 Jahren, am 17. November 1796, an einem Schlaganfall in Petersburg starb.
Hochzeit und erste Liebhaber
Als Sophie Auguste Friederike Prinzessin von Anhalt-Zerbst kam sie am 2. Mai 1729 als Tochter des preußischen Generals und Staathalters von Stettin in der Ostseestadt zur Welt. Ihre unbeschwerte Kindheit verbrachte sie, die anfangs als unscheinbar, aber bildungs- und sprachbegeistert beschrieben wird, im Stettiner Schloss, unterbrochen von Verwandtschaftsbesuchen in Zerbst, Braunschweig oder Berlin sowie 1739 im Eutiner Schloss, wo sie ihrem zukünftigen Gatten Karl Peter Ulrich von Schleswig-Holstein-Gottorf, einem Cousin zweiten Grades, erstmals begegnete. Nach dem Tod ihres Großvaters und der dadurch bedingten Regierungsübernahme ihres Vaters zog die Familie im Dezember 1742 ins Zerbster Schloss. Fast parallel dazu entschloss sich die kinderlose Kaiserin Elisabeth Petrowna, ihren Neffen Karl Peter zum Thronfolger zu ernennen. Der nahm an, trat zum russisch-orthodoxen Glauben über und wurde als Peter Fjodorowitsch Großfürst. Im Jahr darauf riet Friedrich II. Elisabeth, ihren Nachfolger mit Sophie zu vermählen.
Elisabeth folgte dem Rat, und so traf die 14jährige im Februar 1744 in Moskau ein. Mit Ehrgeiz und Zielstrebigkeit lernte sie Russisch und versuchte, sich am Hof zu integrieren. Der Verlobung im selben Jahr folgte im Spätherbst 1745 die Hochzeit, die zehn Tage dauerte. Trotz großer Vorbehalte ihres Vaters konvertierte sie vom evangelisch-lutherischen zum orthodoxen Glauben und bekam zu Ehren der Kaiserinmutter den Namen Jekaterina Alexejewna. Ein Porträt von Louis Caravaque zeigt sie 1745 als bildhübsche junge Frau. Doch die Ehe war weder harmonisch geschweige glücklich. Schon in der Hochzeitsnacht wurde deutlich, dass der Großfürst nur wenig Interesse für Katharina empfand: Während sie auf ihn im Schlafgemach wartete, kam er spät nachts betrunken von seiner Feier wieder. Er selbst unterhielt ein Verhältnis mit Gräfin Woronzowa.
Katharina wird jetzt als lebensfroh beschrieben, reitbegeistert, intelligent, musikalisch und belesen, wobei sie neben historischen auch politische Bücher von Montesquieu oder Voltaire las. Während sie jeden Gottesdienst besuchte und am religiösen, aber auch höfischen Leben teilnahm, schuf sich Großfürst Peter seine eigene Welt in Oranienbaum (heute Lomonossow). Peter liebt Preußen, Katharina Russland; Peter begeistert sich für Zinnsoldaten, Katharina für Voltaire; Peter mag Uniformen, Katharina gründet Wohlfahrtsverbände. Anfangs band er Katharina noch in seine Spiele mit den kleinen Soldatenfiguren ein und ließ sie die preußische Uniform tragen. Doch schon bald verloren beide jeglichen Bezug zueinander, sie nimmt ihn als kindisch und unwissend wahr.
Als nach sieben Jahren das Großfürstenpaar immer noch kinderlos ist, verliert Kaiserin Elisabeth die Geduld und verlangt nach einem Thronfolger, den der Ehemann nicht zeugen kann oder will. Der Kammerherr Sergej Saltykow wird mit Hilfe Elisabeths der Liebhaber Katharinas und kann als Vater des Erben, Paul I., gelten, der am 1. Oktober 1754 zur Welt kommt – und von Peter als sein eigener Sohn anerkannt wird. Doch schnell wird Sergej ihr untreu, verrät sie, berichtet sogar über die Affäre mit ihr. Das trifft Katharina sehr und prägt ihr Verhältnis zu Männern im weiteren Leben. Saltykow wird von der Zarin als Diplomat nach Schweden, später nach Hamburg geschickt.
Der polnische Politiker Stanisław Poniatowski wird ihr zweiter Liebhaber. Er hat gute Manieren, ist der gebildetste Mann, den sie jemals haben wird. Und für ihn ist Katharina die Liebe seines Lebens. Am 9. Dezember 1757 bringt sie die kleine Anna zur Welt, die mit Sicherheit als Tochter Poniatowskis gilt. Die Erziehung beider Kinder, die jeweils sofort nach der Geburt von ihrer Mutter getrennt wurden, übernahm Elisabeth selbst. Anna starb bereits nach zwei Jahren. Katharina schickt den Vater nach Polen zurück und macht ihn dort 1764 zum polnischen König Stanislaus II. August. Mit dem dritten Liebhaber, dem adligen Eskorteoffizier Grigori Orlow, hat sie 1762 wiederum einen Sohn, Alexei. Orlow kämpfte im Siebenjährigen Krieg, war wohl ein Kerl wie ein Baum – und sollte das Schicksal seiner Dienstherrin und seines Landes entscheidend beeinflussen.
Staatsstreich und Machtübernahme
Denn 1761 starb Elisabeth, und Peter wird neuer Zar. Sein angeblich ungebührliches Auftreten während der Trauertage verärgerte Katharina und auch große Teile des Hofes und des Volkes. Zudem schließt er außenpolitisch einen Separatfrieden mit Preußen, der zwar das Ende des Siebenjährigen Krieges bedeutete, für Russland allerdings Nachteile brachte, und führte innenpolitisch ein umfangreiches Reformprogramm ein, wodurch er sich die Feindschaft der konservativen Kräfte des Landes zuzog, zumal der Kleinadligen. Zudem besagten Gerüchte, dass Peter plante, nach seiner Thronbesteigung Katharina aus dem Weg zu räumen, um dann seine Mätresse zur neuen Zarin zu machen. Orlow nun will Peters schwache Regierung und Preußenliebe sowie ihn als Konkurrenten nicht hinnehmen, Katharina nicht ihre Kaltstellung, und so schmieden beide den Plan für einen Staatsstreich.
Am 9. Juli 1762 proklamieren die Garderegimenter in einer Kirche Katharina II. als neue Kaiserin Russlands. Zugleich legt Grigori Orlow dem Herrscher des größten Reichs Europas die Abdankungsurkunde vor. Peter III. unterschreibt. „Der Zar ließ sich entthronen wie ein Kind, das man zu Bett schickt“, höhnt Friedrich der Große in Potsdam. Damit nicht genug: Elf Tage später starb er unter ungeklärten Umständen. In einigen Quellen wird Alexei Orlow, der Bruder von Katharinas Liebhaber, des Mordes beschuldigt. Dabei diente die Kopie eines Briefs von Orlow an Katharina II. lange Zeit als Indiz; sie wird nach neueren linguistischen Untersuchungen als Fälschung angesehen. Andere sprechen von einem natürlichen Tod. Inwieweit Katharina II. etwas mit einer möglichen Ermordung zu tun hat, lässt sich nicht mehr eindeutig klären. Während einige Historiker annehmen, dass die Gebrüder Orlow auf eigene Faust gehandelt hatten, bezichtigen andere Katharina der Mitwisserschaft oder sehen sie sogar als mögliche Auftraggeberin des Mordes. Orlow wird für die nächsten zwölf Jahre der neue Mann an ihrer Seite, sie ernennt ihn zum General und Befehlshaber der Artillerie, nimmt ihn jedoch nicht zum Ehemann.
Stattdessen stürzt sich die 33jährige in die Politik und beginnt, inspiriert von den Ideen der Aufklärung, das zersplitterte, verknöcherte Russland zu einen und in die Gegenwart zu führen. Sie setzt zahllose Reformen durch, spannt ein Wirtschafts- und Verwaltungsnetz über das Riesenreich und baut Schulen in jedem Winkel. So wurde Russland in 40 Gouvernements eingeteilt und bekam eine neue Lokalverwaltung. In allen russischen Bezirksstädten gab es gegen Ende ihrer Regierungszeit eine Volksschule und in jeder Provinz bis auf den Kaukasus ein Gymnasium. Der Schulbesuch war freiwillig und kostenfrei. Ab 1764 erweiterte Katharina den Winterpalast in Sankt Petersburg um einen Anbau für Ihre Gemäldesammlung: Es entstand die Eremitage.
Eine ihrer ersten Amtshandlungen war am 22. Juli 1763 das „Einladungsmanifest“, das alle Ausländer aufforderte, „in Unser Reich zu kommen, um sich in allen Gouvernements, wo es einem jeden gefällig, häuslich niederzulassen“. Darin versprach Katharina zahlreiche Anreize für die Einwanderer aus dem Westen: Befreiung vom Militärdienst, Selbstverwaltung, Steuervergünstigungen, finanzielle Starthilfe, 30 Hektar Land pro Kolonistenfamilie. Zudem wurde die Sprachfreiheit zugesichert, speziell für die deutschen Einwanderer. Vor allem aber: „freie Religions-Übung nach ihren Kirchen-Satzungen und Gebräuchen“. Damit beginnt die lange Migrationsgeschichte der Russlanddeutschen auf der Suche nach Heimat zwischen Deutschland und Russland. Bereits in den ersten fünf Jahren nach dem Manifest kamen über 30.000 Menschen nach Russland, die meisten davon aus Deutschland. Sie siedelten sich vor allem in der Umgebung von Sankt Petersburg, in Südrussland, am Schwarzen Meer und an der Wolga an: Allein im Wolgagebiet entstanden über 100 neue Dörfer.
Sie bildet ihr Politikverständnis im intensiven Briefwechsel mit Aufklärern wie Voltaire, der sie wiederum in den höchsten Tönen preist wie in diesem Brief vom 22.12.1766: „Diderot, d’Alembert und ich errichten Ihnen Altäre. Sie machten mich wieder zum Heiden: ich werfe mich mit Anbetung zu den Füßen Ihrer Majestät und bin mit der tiefsten Hochachtung der Priester Ihres Tempels – Voltaire.“ Französisch erhob sie später zur Hofsprache. Katharina hasst Despotismus, verteidigt aber unnachsichtig die absolute Macht, um ihren Ideen in allen Winkeln Russlands Geltung zu verschaffen. Aufstände von Volksgruppen wie den Kosaken werden niedergeschlagen. Selbst eine Bauernrevolte, den Pugatschow-Aufstand 1773 – 75, lässt sie blutig unterdrücken: Obwohl sie kritisch zur Leibeigenschaft stand, verschlechterte sich die Lage der Bauern während ihrer Regentschaft dramatisch, gleichzeitig wurden die Privilegien des Adels gestärkt. In der alten Heimat half sie während der großen Hungersnot des Jahres 1772, indem sie eine große Menge Roggen zollfrei nach Zerbst schickte.
hemmungsloses Sexmonster
Orlow muss schließlich Major Grigori Potemkin den Platz räumen. Der soll nicht schön gewesen sein, aber charismatisch und wohl auch eitel. Als Liebespaar halten sie es nur etwas mehr als zwei Jahre miteinander aus, doch als Regenten des Landes bis zum Lebensende. Potemkin half ihr als Mitglied des Reichsrates und Präsident des Kriegskollegiums am meisten, den Machtbereich Russlands in einem Maße auszubauen wie kein russischer Herrscher vor ihr; er baute die Schwarzmeerflotte auf, gründete Städte wie Sewastopol und Odessa und organisiert die Landwirtschaft. In zwei russisch-türkischen Kriegen 1768–1774 sowie 1787–1792 eroberte Russland den Zugang zum Schwarzen Meer und weite Küstengebiete und gewann im Ergebnis der drei Teilungen Polens eine Million km² Landgebiete und sechs Millionen Menschen dazu. Die Eroberung Konstantinopels und die Neugründung des Byzantinischen Reiches unter russischer Herrschaft scheiterten geradeso am einseitigen Kriegsaustritt Österreichs im letzten der beiden Türkenkriege. Die Krim wurde 1783 annektiert. Und nebenbei wurde durch Katharinas Vermittlerrolle im Frieden von Teschen der Bayerische Erbfolgekrieg beendet.
An ihrem Lebensende hat sie mit Alexander Mamonow, der sie wegen einer sechzehnjährigen Hofdame verließ, und Fürst Subow, der bei ihrem Tod gerade 29 Jahre alt war, noch weitere verbürgte Liebhaber. Zahlreiche Pamphlete und Karikaturen stellten sie als hemmungsloses Sexmonster dar, das sich kompanieweise von Männern, ja Pferden befriedigen ließ. Motiviert wurden die Bettgeschichten zum einen durch schwüle Träume von der Favoritenkultur am Hof der Zarin, zum anderen durch politische Publizisten im Zuge der Französischen Revolution. Die Autokratin sollte damit desavouiert werden. Die Französische Revolution versetzte sie übrigens in Schrecken und bewirkte eine Veränderung ihrer Innenpolitik: Erstmals in ihrer Regierungszeit kam es zur massiven Verfolgung regierungskritischer Intellektueller.
Im Jahr vor ihrem Tod hatte sie aus ihrer privaten Sammlung und den angekauften Beständen der Bibliotheken von Voltaire und Denis Diderot die Russische Nationalbibliothek gegründet, die erste öffentlich zugängliche Bibliothek des Reiches. Außerdem probierte sie sich als Dramatikerin, schrieb den Fünfakter „Aus Rjuriks Leben“ um den Gründer der Kiewer Rus sowie „Drey Lustspiele wider Schwärmerey und Aberglauben“ und verfasste ihre Memoiren. Die Rückständigkeit ihres Reiches und dessen ungeheure Ausdehnung setzen ihrem Gestaltungswillen Grenzen. Trotzdem errichtet Katharina bis zu ihrem Tod die Grundmauern der russischen Nation. Sie ist bis heute die einzige Frau unter den „Großen“ der Geschichte. Ihr wurde der Titel „die Große“ von ihrer Gesetzgebenden Kommission verliehen, die dabei wiederum Peter I. vor Augen hatte.
Das englische Gentleman´s Magazine bezeichnete Katharina als „große Fürstin“, der die „bedeutendste aller Revolutionen in der Geschichte der Menschheit gelungen war, nämlich die Zivilisierung eines so großen Teiles der Erdbevölkerung und die Kultivierung der wildesten und unerschlossensten Einöden.“ Für die Historikerin Jill Graw sticht sie „auch hinsichtlich ihrer religiösen Toleranz, ihrer Fürsorge für die Schwachen, ihrer Bescheidenheit und ihrer in allen Lebensbereichen gelebten Authentizität aus der Masse anderer Herrscherfiguren hervor.“ Zahlreiche Spiel- und Fernsehfilme wurden über Katharina produziert, in denen sie unter anderem von Marlene Dietrich, Julia Ormond und Catherine Zeta-Jones verkörpert wurde. Ihre Erinnerung wird in zahlreichen Denkmälern bewahrt. Sie regierte im „goldenen Jahrhundert für den russischen Adel“ 34 Jahre; von den Romanows hatte nur Peter I. der Große länger regiert.