„Er verströmte Barrikadenduft“
22. November 2021 von Thomas Hartung
Keiner kann so ausrasten wie er: 1972 brüllt er den Regisseur Werner Herzog an, der mit ihm „Aguirre, der Zorn Gottes“ in Peru dreht. „Sie sind kein Regisseur, Sie müssen bei mir lernen!“, schreit er. „Sie sind ein Anfänger, ein Zwergen-Regisseur sind Sie, aber kein Regisseur für mich!“ Die Ureinwohner, mit denen Herzog drehte, boten ihm damals an, den Schauspieler zu töten, wenn er nicht aufhörte, am Set herumzuschreien. „Dieses Angebot war sehr ernst gemeint. Ich hätte bloß nicken müssen“, sagte Herzog 2018 dem Tagesspiegel. „Das Interessante daran war, dass die Leute im Dschungel, unglaublich stille Menschen, eher dazu bereit waren, einen Mord zu begehen, als ständiges Geschrei zu ertragen.“
Dabei erweckte zumindest der junge Darsteller mit seinem unschuldigen Schmollmund, dem entrückten Himmelfahrtsblick und der hohen Stimme so gar nicht den Eindruck des unberechenbaren Egomanen. Mit markantem Gesicht und stechendem Blick ist er später der ideale Darsteller für Besessene aller Art. Rund 140 Filme dreht er – darunter viel Schrott, wie er selbst findet. „Ich habe in meinem Leben auch Klosetts gescheuert. Und plötzlich hab‘ ich, anstatt Toiletten zu scheuern, eben Scheißfilme gedreht, weil ich es auch konnte“, sagt er einmal. Obwohl er von vielen seiner Filme nichts hält, hat er von sich selbst doch immer die höchste Meinung gehabt und konnte nie genug bekommen, nicht genug Geld, nicht genug Sex, nicht genug Verehrung: Klaus Kinski, der am 23. November 1991 in seiner Wahlheimat San Francisco unerwartet an einem Herzinfarkt stirbt.
Als Klaus Günter Karl Nakszynski kommt er 18. Oktober 1926 im Danziger Stadtteil Zoppot als letztes von vier Kindern eines Apothekers zu Welt. 1930 zog die Familie nach Berlin. Nach eigenen Aussagen musste sich Kinski während der Schulzeit Geld zum Unterhalt selbst verdienen: Als Schuhputzer, Laufjunge und Leichenwäscher. Das ist nicht weiter belegt. Im Zweiten Weltkrieg wurde er 1944 zu einer Fallschirmjägereinheit der Wehrmacht eingezogen, geriet an der Westfront in den Niederlanden, offensichtlich verwundet, in britische Kriegsgefangenschaft und wurde Im Frühjahr 1945 aus einem Lager in Deutschland in das Kriegsgefangenenlager „Camp 186“ in Berechurch Hall bei Colchester in Essex gebracht. Hier spielte er am 11. Oktober in der Groteske „Pech und Schwefel“ seine erste Theaterrolle auf der provisorischen Lagerbühne, die vom Schauspieler und Regisseur Hans Buehl geleitet wurde. In den folgenden Aufführungen spielte er regelmäßig Frauenrollen.
Im Frühjahr 1946 gehörte er zu den letzten Gefangenen, die aus dem Lager zurück nach Deutschland geschickt wurden. Nach eigener Darstellung habe er zunächst mit einer sechzehnjährigen Prostituierten, die er im Zug kennengelernt habe, sechs „wilde“ Wochen in Heidelberg verbracht, diese aber verlassen und danach an Theatern in Tübingen und Baden-Baden gearbeitet, wo er auch vom Tod seiner Mutter durch einen Luftangriff in Berlin erfahren habe. Im Herbst habe er sich illegal nach Berlin begeben, wohin ihn Boleslav Barlog zum Schlosspark-Theater holte.
Doch schon bald brach Kinski mit seinem Förderer, warf ihm die Fensterscheiben der Wohnung ein und begann seine Laufbahn „als Exzentriker der Bühne und des Lebens“, wie die FAZ meinte. Seinen ersten triumphalen Erfolg feierte Kinski mit Jean Cocteaus Einakter „La voix humaine“, wieder verkleidet als Frau – für das prüde Berlin ein Skandal. Er besuchte kurz die Schauspielschule von Marlise Ludwig, wo er unter anderem mit Harald Juhnke Szenen aus William Shakespeares Romeo und Julia einstudierte: „Ich wirkte wortlos und leise neben ihm. Er verströmte Barrikadenduft“, erinnert sich Juhnke.
Zertrümmerte Luxusrestaurants und verprügelte Polizisten
Seine erste Filmrolle erhielt er in Eugen Yorks „Morituri“, gedreht zwischen September 1947 und Januar 1948. Darin ging es um geflohene KZ-Insassen, die sich vor den Deutschen verstecken. Der Film war umstritten; es gab Drohbriefe, und ein Hamburger Kino wurde zerstört. Kinski befand sich im Jahr 1950 drei Tage lang in psychiatrischer Behandlung in der Berliner Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik, nachdem er eine ihm bekannte Ärztin belästigt und tätlich angegriffen und einen Suizidversuch mit Medikamenten unternommen hatte. Kinski zog dann nach München und bewohnte eine Pension mit dem damals noch Jugendlichen Werner Herzog, der ihn als bereits zu dieser Zeit mit exzentrischen Allüren auffallend beschrieb.
1951 lernte er Gislinde Kühbeck auf dem Schwabinger Fasching in München kennen, heirate sie nach der Geburt der gemeinsamen Tochter Pola und ließ sich 1955 scheiden. Neben seiner Theaterarbeit machte er sich in dieser Zeit mit seiner „Ein-Mann-Wanderbühne“ einen Namen. Mit seinen leidenschaftlichen Rezitationen der Werke Baudelaires und Nietzsches, Villons und Dostojewskis füllte er Säle. 1955 verursachte Kinski einen Autounfall, zudem ereignete sich ein Bootsunfall auf dem Starnberger See. Gerichtsverfahren und Strafen schlossen sich an, die finanziellen Folgen belasteten den Schauspieler jahrelang.
Im Sommer 1955 dreht er in Wien mit „Um Thron und Liebe“ einen Film über das Attentat von Sarajevo auf den Österreich-Ungarischen Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand – er wurde als Attentäter Nedeljko Čabrinović besetzt. In „Ludwig II – Glanz und Elend eines Königs“ mit O. W. Fischer in der Titelrolle mimte er dessen Bruder, den geisteskranken Prinz Otto, und empfahl sich so schon früh für weitere Rollen dieses Typus. Anlässlich der Verleihung des „Deutschen Filmpreises“ brachte Kinski die Gestaltung dieser Figur eine Nominierung für das „Filmband in Gold“ ein. Fischer war von seinem jungen Kollegen dermaßen beeindruckt, dass er ihn für sein Biopic „Hanussen“ über den böhmischen „Hellseher“ engagierte.
Die internationale Filmszene war ebenfalls auf den Deutschen aufmerksam geworden, vor allem durch die unsäglichen, dennoch heute zum Kult gewordenen Edgar-Wallace-Verfilmungen in den 1960er Jahren, in denen Kinski mit irrem Blick und zuckenden Mundwinkeln durch Grünanlagen und Herrenhäuser hastete und als wahnsinniger Psychopath Kinogeschichte schrieb. Erstmals zeigte er sich 1960 in „Der Rächer“, 14 weitere Produktionen sollten bis 1969 folgen, darunter „Die Toten Augen von London“, „Der schwarze Abt“ und „Das indische Tuch“. Nach Berlin übergesiedelt, traf er die 20-jährige Sängerin Brigitte Ruth Tocki und heiratete sie 1960. Aus dieser Ehe, die 1969 geschieden wurde, ging die Tochter Nastassja Kinski hervor, die ebenfalls Schauspielerin wurde. Nach dem Tatort „Reifezeugnis“ von Wolfgang Petersen, in dem sie mit 15 Jahren eine lehrerverführende Lolita geben muss, sagten 55 Prozent der befragten deutschen Männer, sie hätten von Sex mit ihr geträumt.
1965 übersiedelte Kinski nach Rom und erhielt durch seine Nebenrolle des Anarchisten Kostoyed Amourski in dem Kassenschlager „Doktor Schiwago“ (1965) nach dem gleichnamigen Roman von Boris Pasternak vermehrt internationale Angebote. Hauptsächlich fand er Beschäftigung im neuen Genre des Italo-Western, wo er als perfider Schurke endlich Hauptrollen spielen durfte. Zum Kultfilm des Western-Genres geriet Sergio Corbuccis „Leichen pflastern seinen Weg“ (1968), in der Kinski als skrupelloser Kopfgeldjäger Loco triumphierte. Er lernte 1969 die 19-jährige vietnamesische Sprachstudentin Minhoï Geneviève Loanic kennen, die er 1971 heiratete. 1976 kam der Sohn Nanhoï Nikolai zur Welt, im Februar 1979 ließen sich Klaus und Minhoï scheiden. Zertrümmerte Luxusrestaurants, verprügelte Polizisten und unzählige Affären erzählen von dem Weg eines kompromisslosen Egomanen, der bürgerliche Konventionen weder beachtete noch respektierte. Um sein Luxusleben zu finanzieren – er fuhr allein sieben Ferraris –, dreht er manchmal bis zu 10 Filme pro Jahr. Das Enfant terrible des internationalen Films war zunehmend exzentrisch, wirkte krank, ausgemergelt, dem Wahnsinn nahe und gab sich gerne lasziv und ungepflegt mit seinen strähnigen Haaren. Talkshow-Auftritte mit ihm endeten fast regelmäßig als Skandal.
„Selbstinszenierung als Wahrheitsverkünder“
Kinski zeigte sich seit Rom als der Furcht einflößende Bösewicht in vielen weiteren Wildwest-, Action- und Agentenfilmen. Ein Angebot von Fellini, das mit einer Gage aufwartet, die eine „Unverfrorenheit“ ist, schmettert er mit den Worten „Lass‘ Dich in den Arsch ficken“ ab. Wenn er akzeptiert wird, ist er am Set zumeist diszipliniert und sorgt für einen reibungslosen und schnellen Arbeitsgang wie bei Jess Francos „Jack the Ripper“, den er in acht Tagen abdreht. Am 20. November 1971 versuchte sich Kinski als Jesus-Rezitator mit einem skandalträchtigen Auftritt in der Berliner Deutschlandhalle mit dem Titel „Jesus Christus Erlöser“. Nach Zwischenrufen von Zuschauern und einem harten Wortgefecht kam es zu einem frühen Abbruch der Veranstaltung und der geplanten Tournee. Der entstandene Dokumentarfilm erhielt das Prädikat „Besonders wertvoll“: „Der Sog von Kinskis besonderer Diktion, seine rebellische, antikapitalistische Interpretation der Bibel in der Melange mit seiner Selbstinszenierung als Wahrheitsverkünder und Ankläger machen diesen Auftritt zu einer Provokation, die das Publikum im Saal aufheizt und sich schnell in einer rasenden Beschimpfungsorgie entlädt“, ist auf der Webseite der Filmbewertungsstelle zu lesen.
Kinski hat einen sicheren Instinkt, der ihm die Kraft gibt, das zu sein, was er will. Er spielt seine Rollen aus dem Stehgreif. Drehbüchern oder Anweisungen von Regisseuren schenkt er keine Beachtung. Auf Proben pfeift er. „Hin- und Herlatschen, damit die Regisseure auch mal sehen, warum sie keine Fantasie haben, das mache ich nicht.“ Publizität erhält seine Arbeitsweise besonders im Zusammenhang mit Werner Herzog, mit dem er ab den 1970er Jahren „Aguirre“, „Nosferatu“, „Woyzeck“, „Fitzcarraldo“ und „Cobra Verde“ drehte. „Fitzcarraldo“ wurde für den „Golden Globe“ nominiert: Der Abenteurer und Fantast dieses Namens ist als Caruso-Fan von der Idee besessen, in der peruanischen Amazonas-Stadt Iquitos ein Opernhaus zu errichten, und zieht zu diesem Zweck gar einen alten Dampfer in einer tollkühnen Aktion über eine Urwaldhöhe. Obgleich Kinski einmal öffentlich zugibt, gut damit beraten zu sein, nur noch mit Herzog zu drehen, empfindet er nichts weiter als Spott und Verachtung für den selbsterklärten Autodidakten: „Herzog ist ein miserabler, gehässiger, missgünstiger, vor Geiz und Geldgier stinkender, bösartiger, sadistischer, verräterischer, erpresserischer, feiger und durch und durch verlogener Mensch.“
Das Drehbuch zu „Aguirre“ tut er als „analphabetisch primitiv“ ab. Es ist die Geschichte des spanischen Conquistadors Don Lope de Aguirre, der sich mit einer Expedition im 16. Jahrhundert auf den Weg durch die peruanischen Anden macht, um „El Dorado“, das sagenhafte Goldland, zu finden. Mit der Zeit wird durch Erschöpfung, Krankheit und auch Meuterei die Gruppe um Aguirre immer kleiner, so dass zum Schluss nur noch der Don übrigbleibt und als einsamer Irrer auf einem Floß den Amazonas hinunterfährt. Ganz anders „Woyzeck“, der ihn ob der frappierenden charakterlichen Ähnlichkeit zu dieser Person erschauern lässt. Es ist so, als würde Kinski das alles schon einmal erlebt haben: „Das Schlimmste, das ich je beim Film durchmachen musste. Ich habe bereits gesagt, dass die Geschichte von Woyzeck Selbstmord ist. Selbstzerfleischung. Jeder Drehtag, jede Szene, jede Einstellung, jedes Photogramm ist Selbstmord.“ Nach nur 16 Drehtagen ist der Büchner-Streifen abgedreht. Es ist der mit Abstand beeindruckendste Kinski-Film, dessen Intensität nie mehr erreicht wurde.
„zu viel Brutalität und Pornographie“
1979 erhielt er das Filmband in Gold für das Murnau-Remake „Nosferatu“ als bester deutscher Schauspieler, erschien jedoch nicht zur Preisverleihung. Kinski wirkte auch in mehreren Hollywood-Spielfilmen mit, unter anderem spielte er mit Jack Lemmon und Walter Matthau im letzten Billy-Wilder-Film „Buddy Buddy“. In „Little Drummer Girl“ spielte er neben Diane Keaton die Hauptrolle. In dem US-Fernsehfilm „The Beauty and the Beast“ (1983) war er Hauptfigur neben Susan Sarandon und Anjelica Huston. Mitte der 1980er Jahre drehte er die Action-Filme „Codename: Wildgänse“ und „Kommando Leopard“ mit Lewis Collins in der Hauptrolle. Die beiden Schauspieler kamen jedoch nicht miteinander aus, sodass im zweiten Film keine einzige Szene mit beiden zusammen gedreht wurde. 1987 ging Kinski eine Beziehung mit der damals 19-jährigen italienischen Schauspielerin Debora Caprioglio ein, die sich aber 1989 wieder von ihm trennte. Im selben Jahr stellte er mit „Kinski Paganini“ sein letztes Filmwerk fertig: Nachdem er den Stoff über Jahre hinweg vergeblich Produzenten und Regisseuren angetragen hatte, übernahm er schließlich Regie, Drehbuch, Schnitt und Hauptrolle selbst. Die Rohschnittversion von knapp zwei Stunden Länge wurde jedoch von der Jury der Filmfestspiele von Cannes wegen „zu viel Brutalität und Pornographie“ vom Wettbewerb ausgeschlossen, was Kinski zu einer wutentbrannten Pressekonferenz vor Ort veranlasste.
Sein Privatleben dokumentierte er als einen einzigen Exzess, nachzulesen in seinen Autobiografien „Ich bin so wild nach Deinem Erdbeermund“ (1975) sowie „Ich brauche Liebe“ (1991) – Bücher, die von vielen als Skandal empfunden wurden. Seine Todesursache Herzversagen ist selbst für die Boulevard-Presse zu unspektakulär, um daraus einen großen Aufreißer zu machen. Die Obduktion ergab, dass das Herz vernarbt war – wahrscheinlich eine Folge mehrerer unbehandelter Herzinfarkte. Der Leichnam wurde seinem Wunsch gemäß verbrannt, die Asche mit einem Boot zur „Golden Gate Bridge“ gefahren und in den Pazifik gestreut. Sein Tod ist schnell abgetan, die üblichen Nachrufe sind schon nach wenigen Tagen durchgestanden. „Kinski spielte Unholde, Visionäre, Besessene, Erotomanen, Narzisse, Magiere, Berserker, Verbrecher, Exhibitionisten“, würdigt ihn das Lexikon des Internationalen Films. „An diesem nervösen Seher von Innenwelten wirkte deshalb alles übersteigert. Rasender und Meditierender zugleich, war er gestisch und mimisch das perfekte Medium seiner inneren Stimmen und Alpträume, denen er wortgewaltig Ausdruck verlieh. Er war ein Avantgardist der Artikulation, das Sprechen entwickelte er zur eigenständigen Kunstform.“
1999 brachte Herzog mit „Mein liebster Feind“ ein Porträt Kinskis in die Kinos, in dem das besondere Verhältnis der beiden noch einmal reflektiert wird. „Er war einfach die ultimative Pest. Leute wie Marlon Brando waren Musterschüler im Vergleich zu ihm“, sagte er, erinnerte sich an „monströse Kämpfe“ in einer „tiefen, tiefen Freundschaft“. 2001 erschien aus dem Nachlass der Band „Fieber – Tagebuch eines Aussätzigen“, eine Sammlung mit insgesamt 52 zum Teil wütenden Gedichten. 2011 erhielt er auf dem Berliner Boulevard der Stars einen Stern. Zwei Jahre später wurde der Avantgardist von seinen Töchtern vom Sockel gestürzt: In ihrem Buch „Kindermund“ beschreibt Pola, wie ihr Vater sie seit ihrem 9. Lebensjahr missbraucht hat. Nastassja wurde nach den Enthüllungen ihrer Schwester gefragt: „Hat Ihr Vater auch Sie missbraucht?“ Kinski antwortete: „No, not in the way that you mean, but in other ways, yes.“ „Eine Heldin, die ihr Herz, ihre Seele und damit auch ihre Zukunft von der Last des Geheimnisses befreit hat“, sagte sie über ihre Schwester. In einem posthumen Brief an seinen Sohn hatte Kinski einst geschrieben: „Wenn Dir jemand sagt, ich sei tot, glaube es nicht. Ich bin der Regen und das Feuer, das Meer und der Wirbelsturm. Sei nicht traurig. Ich sterbe niemals.“