Eine Notpraline
5. Dezember 2021 von Thomas Hartung
Wer 100 Gramm von ihnen verspeist, hat 407 Kilokalorien aufgenommen. Dieselbe Menge Zimtsterne liegt mit 358 Kilokalorien leicht drunter, dieselbe Menge Christstollen mit 412 Kilokalorien kaum drüber. Wenn ein gesundheitsbewusster Genießer zu den Feiertagen Fisch bevorzugt, könnte das auch an dessen Energiebilanz liegen: 100 Gramm Karpfen schlagen gerade mit etwa 111 Kilokalorien zu Buche. Aber wer wiegt schon Karpfen gegen Dominosteine auf? ALDI Süd hat es 2019 verkündet: sie wurden in seinen Filialen als beliebtestes Weihnachtsnaschwerk am häufigsten verkauft – vor dem Nugat-Baumstamm und Gewürz-Spekulatius. Nach einer Erhebung des Bundesverbands der Deutschen Süßwarenindustrie führten allerdings Lebkuchen vor Spekulatius und Stollen in der Beliebtheitsskala; die Dominosteine landeten auf Platz Vier.
Doch Platzierung hin oder her: auf den Inhalt kommt es an. Die Marketingreferentin des Dresdner Traditionsbäckers Dr. Quendt, Claudia Heller, hatte für die Rheinische Post ein wenig Warenkunde parat: „Es gibt den feinen und den feinsten Dominostein. Beim Feinen können die mindestens zwei Lagen Füllung Frucht, Marzipan oder Persipan enthalten.“ Im Feinsten dagegen seien immer ausschließlich Marzipan und Frucht. Sei es im Original mit Sauerkirschgelee, Marzipan und zartbitterummantelten Lebkuchenplatten, oder in der heute gängigen Abwandlung mit Apfelgelee, Persipan und Zartbitter, variiert mit Vollmilch- oder weißer Schokolade, ohne Marzipan für Allergiker, mit Aprikose als Frühlingsvariation – die Konfektquader sind wie Odol Mundwasser oder Melitta Kaffeefilter eine der vielen Dresdner Erfolgsgeschichten. Und die wird nun 85 Jahre alt.
Die raffinierte Köstlichkeit geht auf den Dresdner Chocolatier und Pralinenmacher Herbert Wendler zurück. 21-jährig hatte er 1933 nach seiner Ausbildung eine Pralinenmanufaktur gegründet, die 1945 zerstört, wiederaufgebaut und 1953 ihren endgültigen Firmensitz in einem früheren Ballsaal fand. Seine Kollektion feinster Pralinen, kunstvoller Marzipanfrüchte und zarter Baumkuchenspitzen wollte er durch eine eigene Schöpfung bereichern und experimentierte an Pralinen mit alternativen Zutaten: das Luxus-Naschwerk sollte für breitere Schichten erschwinglich werden. Nach vielen Degustationstests erschien ihm in der Adventszeit 1936 als die gelungenste Kreation eine Schichtpraline, für die er sich den Überlieferungen zufolge vom Bauhausstil der 1930er Jahre inspirieren ließ. Dazu verknüpfte er gekonnt jahrhundertealte Produktionsgeheimnisse Pulsnitzer Pfefferküchler mit dem Erfahrungsschatz deutscher Zuckerbäcker und seinem Wissen als Chocolatier.
„nicht im Mund, sondern im Gehirn“
Als im Zweiten Weltkrieg die Branche unter knapper werdenden Zutaten litt, setzte endgültig der Siegeszug für Wendlers Dominostein als „Notpraline“ ein. Seine Firma wurde 1972 verstaatlicht und 1990 wieder privatisiert. Ein einziges Feinkostgeschäft am Blasewitzer Schillerplatz führte zu DDR-Zeiten als einzige Dresdner Verkaufsstelle ganzjährig Dominosteine und Backoblaten. Als „Feine Dauerbackwaren GmbH & Co.KG“ ging Wendlers Firma 1996 in Insolvenz, Wendler starb zwei Jahre später. Produktionsmittel und Belegschaft wurden 1999 von Dr. Quendt übernommen, der die Produktion zwischen Frühjahr 2010 und Oktober 2011 kurzzeitig einstellte, sie aber rasch wieder anlaufen ließ. Als seine Eigenentwicklung ist das „Dresdner Herrenkonfekt“ mit 30 % Rum-Punsch-Füllung anzusehen.
Steigende Rohstoffpreise brachten Quendt bei der Vorfinanzierung der Stollenproduktion in Schwierigkeiten. Unterstützung kam aus Aachen: 2014 wurde der damalige Inhaber der Lambertz-Gruppe Mehrheitseigentümer. Laut Produktionsleiter Bernhard Puschner produziert allein Lambertz als Marktführer 8000 Tonnen Dominosteine jährlich, das sind umgerechnet 640 Millionen. 13 Frauen sitzen an einem spitz zulaufenden Tisch, erzählt er in der Welt, die über 16.000 von den 23 mm großen Würfeln pro Stunde in die Verkaufsschachtel einordnen: über 120.000 Stück pro Tag, sieben Monate im Jahr.
Bleibt die Frage, wie man die Leckerei am intensivsten genießt: quer, die Schichten einzeln abbeißend, oder längs. Die Ernährungswissenschaftlerin Gesa Schönberger plädiert im Focus für den Längsgenuss: „Das Ohr registriert, wie die Schokolade bricht, die Zunge verkündet, süß und zugleich leicht sauer – aber auch weich, sämig und kühl. Spätestens dann kommt auch die Nase ins Spiel, die das Aroma ergänzt: Es schmeckt nach Schokolade, Früchten, Marzipan und Weihnachtsgewürz. Und dann passiert das eigentlich Spannende: Unser Gehirn verknüpft diese blitzschnell erfassten Eindrücke miteinander und gleicht sie mit unseren Erwartungen und Erfahrungen ab. Bewertet wird der Dominostein also nicht im Mund, sondern im Gehirn.“ Na dann, füttern wir unser Gehirn, und füttern wir es gut!