„Havel auf die Burg!“
17. Dezember 2021 von Thomas Hartung
Er wurde mehrmals vergeblich, zuletzt 2004, für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen. Die Liste seiner weiteren Würdigungen und Ehrendoktorate übertrifft die meisten seiner weltweiten Autorenkollegen, berührt sie doch Literatur und Politik gleichermaßen. Mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels, dem Karlspreis zu Aachen und dem Nationalpreis erhielt der kettenrauchende Dramatiker, Essayist, Menschenrechtler und Politiker allein drei der höchsten deutschen Auszeichnungen. Er gilt als einer der wichtigsten Verfechter der deutsch-tschechischen Versöhnung, der 1997 zusammen mit Helmut Kohl die Deutsch-Tschechische Erklärung unterzeichnete. Sie brachte ihm erbitterte Kritik sowohl von den tschechoslowakischen NS-Opfern als auch vom Heimatvertriebenenverband der Sudetendeutschen ein: Václav Havel, der am 18. Dezember 2011 starb.
Havel wurde am 5. Oktober 1936 in Prag als Kind bekannter und einflussreicher Unternehmer geboren: Sein Großvater ließ unter anderem den berühmten Lucerna-Vergnügungskomplex am Wenzelsplatz erbauen, sein Onkel die Prager Barrandov-Filmstudios, das tschechische Hollywood. Mit Beginn der kommunistischen Regierung 1948 ging der Familienbesitz in Staatsbesitz über. Der junge Václav durfte nach Beendigung der Schulpflicht 1951 keine weiterführende Schule besuchen, begann eine Ausbildung zum Zimmermann, dann eine als Chemielaborant und schloss 1954 das Abendgymnasium ab. Nebenbei arbeitete er als Taxifahrer und schreibt erste, kafkaeske Texte. Aus politischen Gründen an keiner geisteswissenschaftlichen Fakultät zugelassen, begann er 1954 ein Ökonomiestudium an der Technischen Hochschule Prag, das er nach zwei Jahren abbrach. 1957 im Grundwehrdienst einem Pionierregiment zugeteilt, war er Mitbegründer einer Theatergruppe.
Nach dem Ende des Armeedienstes arbeitete Havel als Techniker in Prager Theatern, ab 1960 im „Theater am Geländer“, ab 1963 Regieassistent. Er begann, eigene Theaterstücke zu schreiben, deren Premieren im „Theater am Geländer“ stattfanden: Anfang 1963 Das Gartenfest und im Juli 1965 Das Memorandum. Seit seinem 20. Lebensjahr schrieb Havel auch Artikel für Literatur- und Theaterzeitschriften. Seine in der Tradition des absurden Theaters stehenden Stücke und seine Artikel prägten und zeigen die Atmosphäre, die 1968 zum Prager Frühling führte. 1964 heiratete er Olga Šplíchalová.
Im folgenden Jahr wurde er Redaktionsmitglied der Monatszeitschrift des Tschechoslowakischen Schriftstellerverbands Tvář („Gesicht“) und hielt im Verband kritische Reden über dessen Arbeit und die Diskriminierung einzelner Schriftsteller. 1966 beendet er sein Fernstudium der Dramaturgie an der Theaterfakultät der Akademie der musischen Künste in Prag und schreibt als Abschlussarbeit einen Kommentar zu seinem Stück Eduard, der später die Grundlage des Dramas Erschwerte Möglichkeit der Konzentration wurde. Die Kommunistische Partei (KPČ) strich ihn zusammen mit Ivan Klíma und Pavel Kohout von der Kandidatenliste für den Vorstand des Schriftstellerverbands.
Suche eines Intellektuellen nach Wahrheit
Im beginnenden politischen Tauwetter war er im März 1968 Mitunterzeichner eines offenen Briefs von 150 Schriftstellern und Kulturschaffenden an das ZK der KPČ mit Forderungen nach Demokratisierung. Im April wurde er zum Vorsitzenden des Klubs unabhängiger Schriftsteller gewählt, Mitglied des Klubs engagierter Parteiloser und begann, als freischaffender Autor zu arbeiten. Während des Einmarschs der Truppen des Warschauer Paktes beteiligte sich Havel an den Protesten gegen die Besetzung des Landes. Im Herbst 1968 übernahm er die Funktion des Redaktionsleiters der reaktivierten Tvář, die zuvor auf Druck der KPČ-Führung eingestellt worden war.
Er zählte zu den zehn Verfassern des 1969 herausgegebenen Aufrufs „Zehn Punkte“, der sich gegen die Politik der sogenannten „Normalisierung“ sprich den Prager Kotau vor Moskau richtete. Havel wurde zusammen mit anderen Unterzeichnern verhört und anschließend wegen angeblich krimineller staatsfeindlicher Tätigkeiten angeklagt. Das Verfahren wurde jedoch auf unbestimmte Zeit vertagt. Anfang der 70er Jahre erhielt er wie auch viele andere Publikationsverbot, seine Bücher wurden aus allen Bibliotheken der ČSSR entfernt. Der teilweise als elitärer Bohémien beschriebene Havel zieht sich in ein Bauernhaus zurück, verdingt sich als Hilfsarbeiter bei einer Brauerei und gründet 1975 den unabhängigen Verlag „Expedition“.
Viele deutschsprachige Bühnen bringen seine satirischen Komödien wie Die Retter (1974), Audienz (1976), Vernissage (1976) und Protest (1979). Zur neuen künstlerischen Heimat Havels entwickelt sich das Wiener Burgtheater, das 1985 auch das Schauspiel Largo desolato zur Uraufführung bringt. Immer wiederkehrendes Thema seiner Stücke ist die Suche eines Intellektuellen nach Wahrheit, die ihn in Opposition zum totalitären Regime bringt, sowie die Macht der Sprache und ihr Missbrauch. In einem Offenen Brief an den Staatspräsidenten Husák rechnet er 1975 schonungslos mit dem System der absoluten „Tiefendemoralisierung“ ab, das die Menschen in Heuchelei, Depression und Passivität führe.
Im August 1976 richtete Havel zusammen mit anderen Intellektuellen einen Brief an den Nobelpreisträger Heinrich Böll mit der Bitte um Solidarität für verurteilte Mitglieder zweier Musikbands. Dieser Brief sowie die Schlussakte von Helsinki, die in der Tschechoslowakei im Herbst desselben Jahres in Kraft trat, waren wichtige Impulse für die Zusammenarbeit zwischen bisher voneinander isolierten Gruppen von Schriftstellern, Häftlingen aus der Zeit der Niederschlagung des Prager Frühlings, christlichen Gruppen, alternativen Künstlern und anderen. Als ein Resultat dieser Zusammenarbeit entstand die Charta 77, deren erste Erklärung von Václav Havel, Pavel Kohout und weiteren formuliert, am 1. Januar 1977 veröffentlicht wurde und eine „Bürgergesellschaft“ als Ideal postulierte.
Havel wurde wiederholt verhört, in Untersuchungshaft genommen und 1977 auf Bewährung für den angeblichen Versuch verurteilt, Staatsinteressen im Ausland zu beschädigen. 1978 verfasste er seinen bekanntesten Essay Versuch, in der Wahrheit zu leben, in dem Havel das Bild vom Niedergang des Menschen im „posttotalitären System“ von Korruption, Heuchelei und Unterdrückung zeichnet. Die Wahrheit ist eine Bedrohung für das Leben in der Lüge, das im posttotalitären System „einen Machtfaktor darstellt bzw. selbst eine politische Macht ist“. Bei einigen tschechischen Exilschriftstellern – etwa bei Josef Skvorecký – taucht er selbst als schillernde Romanfigur auf.
1979 wegen „staatsfeindlicher Tätigkeit“ erneut angeklagt, wurde er zu über vier Jahren Haft verurteilt, in der er 1983 den Essay Identitätskrise schrieb. Im selben Jahr erscheinen Auszüge aus 144 Gefängnisbriefen Havels an seine Frau Olga. Da er an einer schweren Lungenentzündung erkrankte, wurde seine Strafe ausgesetzt und er ins Krankenhaus überwiesen. „Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat – egal wie es ausgeht“, heißt in seinem Gesprächsband Fernverhör von 1987. Zwei Jahre später wurde Havel erneut inhaftiert und zu acht Monaten Gefängnis verurteilt. „Ich hoffe immer noch, dass die Staatsmacht endlich aufhört, sich wie ein hässliches Mädchen zu gebärden, das den Spiegel zerschlägt in der Annahme, er sei schuld an seinem Aussehen“, sagte er in seinem Schlusswort vor Gericht.
absurd und doch unverzichtbar
Als im November 1989 nach einer niedergeknüppelten Studentendemo das kommunistische Regime innerhalb weniger Tage zusammenbrach, forderten die Menschen nicht nur Demokratie und Freiheit, zunehmend erklang auch der Ruf „Havel auf die Burg!“ – gemeint war der Sitz der Staatsführung auf dem Prager Hradschin. Am 29. Dezember 1989 wählte das Parlament, die Föderalversammlung, den noch Anfang des Jahres inhaftierten, immer noch medienscheuen Regimegegner und Dissidenten zum Präsidenten der Tschechoslowakei. In seiner Antrittsrede kündigte er freie Wahlen an, die im Juni 1990 stattfanden. Die nunmehr frei gewählte Föderalversammlung bestätigte Havel im Amt.
Zwei Jahre später trat er aus Protest gegen die Teilung der tschechoslowakischen Föderation von diesem Amt zurück. Doch am 26. Januar 1993 wurde Havel durch das tschechische Parlament zum ersten Präsidenten der nunmehr eigenständigen Tschechischen Republik gewählt, was er bis zum Ende seiner zweiten Amtszeit im Februar 2003 blieb. In den Augen der Tschechen schloss sich ein Kreis: auf den „Philosophen-Präsidenten“ Masarýk am Anfang des Jahrhunderts folgte der „Schriftsteller-Präsident“ Havel an seinem Ende.
Sein Pressesprecher, Michael Žantovský, schreibt in seiner Biographie: „Nur ein Václav Havel konnte ein abendfüllendes Schauspiel mit völlig verschiedenen Menschen gegensätzlichster Ideologien und unterschiedlichster Werdegänge möglich machen, ein Schauspiel, das absurd, und doch unverzichtbar war.“ Zitiert wird der Vergleich Havels mit dem chemischen Element Kohlenstoff, „das in der Lage ist, sich mit vielen anderen zusammenzutun, so dass eine Verbindung von unwiderstehlicher Stärke entsteht“. Als sein Hauptverdienst gilt, dass der EU-Gipfel von Kopenhagen 2002 den Grundstein zur Eingliederung Tschechiens in die EU legte. Er beharrte bis zuletzt auf seiner Idee der „unpolitischen Politik“ als „Moral in Aktion“. Sein Nachfolger Vaclav Klaus, mit dem er sich einen langen Machtkampf lieferte, strebte die marktwirtschaftliche Normalität an, die Havel stets ein Gräuel war.
Nach Olgas Tod 1996 war er seit 1997 in zweiter Ehe mit der Schauspielerin Dagmar Veškrnová verheiratet. Von 1995 bis 2000 gehörte er der Jury des Internationalen Nürnberger Menschenrechtspreises an. Anlässlich des tschechischen Nationalfeiertags beklagt er 2001, dass das kommunistische Erbe „an der Oberfläche kapitalistisch getüncht“ in Politik und Gesellschaft weiterlebe. Zuletzt war er in seiner Heimat wegen seiner Unterschrift unter den Aufruf von acht europäischen Staats- und Regierungschefs zu einer Unterstützung der US-Politik im Irak und wegen Eheklatsch umstritten. Er starb auf seinem Landsitz im nordböhmischen Hrádeček an den Folgen einer Atemwegserkrankung, die er durch seine zahlreichen Gefängnisaufenthalte erlitten hatte. Zudem war ihm wegen eines diagnostizierten Lungenkrebses 1996 ein Tumor und ein Teil der Lunge entfernt worden.
Bestimmendes Grundthema in Havels literarischem Werk war die Entfremdung des Menschen von der von ihm genannten „Lebenswelt“, einer irdischen Idealvorstellung. Diese Entfremdung sah Havel als Ursache aller Probleme, die durch eine von der Wissenschaft ermöglichte Technisierung der Ökonomie hervorgerufen wurde; aber auch durch die ehemaligen Diktaturen des Kommunismus und deren Vorstellung einer wissenschaftlich zu organisierenden, gleichberechtigten Lebenserwerbs-Gesellschaft. Das führe zu einer auf Lügen aufgebauten Gesellschaft, in denen Worte ihren Sinn verlieren, so etwa das im Ostblock inflationär gebrauchte Wort Frieden, das in diesem Regierungssystem eigentlich nur die Bewahrung des Status quo und somit die Aufrechterhaltung der Macht bedeutete. Ersetzt man Frieden durch Gesundheit, offenbaren sich heute erschreckende Parallelen.