Der „Künstler-Wissenschaftler“
4. Dezember 2021 von Thomas Hartung
„Diese Materienwellengleichung ist zunächst natürlich nur ein Rahmen, in den das Bild erst hineingezeichnet werden muss“, beendete er seinen Vortrag auf der 9. Nobelpreisträgertagung in Lindau 1959. „Und von diesem Bild existiert bisher auch nur ein Teil (…). Trotzdem kann man schon jetzt sagen, dass das Verhalten der Elementarteilchen zumindest qualitativ in vieler Hinsicht durch die Gleichung richtig beschrieben wird. (…) Die paar Ergebnisse, die jetzt schon im Detail vorliegen, scheinen mir doch so ermutigend, dass man noch eine Zeitlang diese Möglichkeit verfolgen sollte.“ Doch selbst anderen Koryphäen war es nach ihrer Veröffentlichung nicht möglich, seine Gleichung, seine „Weltformel“ zu verstehen: Werner Heisenberg, der am 5. Dezember 1901 in Würzburg geboren wurde.
Sein ehrgeiziger Vater hatte es als Handwerkersohn zum Professor für Griechisch gebracht. Während seiner Münchner Schulzeit entdeckte er die Freude am „Spielen zwischen Mathematik und unmittelbarer Anschauung“. Die Mathematik zur Beschreibung physikalischer Gesetze brachte er sich selbst bei und zeigte früh zwei Eigenschaften, die seine glänzende Karriere bestimmen sollten: Ehrgeiz wie sein Vater – und Begabung. Bereits auf dem Gymnasium war von der „spielenden Leichtigkeit“ die Rede, mit der Heisenberg „treffliche Leistungen“ erzielte. Auch sei er „ordentlich selbstbewusst“ und wolle immer glänzen. Später als Professor trainierte Heisenberg Tischtennis, um auch hier der Beste zu sein – so wie in der Wissenschaft und im Schachspiel.
In seiner griechischen Schullektüre stößt Heisenberg auf die Ideen des griechischen Philosophen Platon, nach dem Dreiecke die Basis unserer Welt bildeten. Diese Dreiecke sind selbst keine Materie, aber sie gestalten das uns bekannte Universum, indem sie sich zu verschiedenen Formen zusammenfügen: den bekannten platonischen Körpern. Er ist irritiert. Doch die Lektüre ist auch Schlüsselerlebnis für seinen weiteren Werdegang – Heisenberg will das Unbegreifliche der Ideenwelt Platons verstehen und für sich selbst die Frage nach der „Weltformel“ klären; ja klären, „was die Welt im Innersten zusammenhält“ (Goethes Faust): Die Dreiecke werden bei ihm zu Quanten werden. Die Suche nach der tiefsten Quelle allen Verstehens war für ihn der gemeinsame Ursprung von Religion und Wissenschaft. 1918 zum Hilfsdienst eingezogen, überlebt er die Spanische Grippe.
Obwohl lange Zeit unentschlossen, ob er Musik oder Naturwissenschaften und Mathematik wählen soll, studierte Heisenberg von 1920 bis 1923 an der Münchner Universität Physik und promovierte über Stabilität und Turbulenz von Flüssigkeitsströmen. Zwischendurch hörte er 1922/23 in Göttingen auch Vorlesungen bei Max Born, wurde 1924 dessen Assistent und habilitierte sich. Im Rigorosum scheiterte Heisenberg beinahe am Mitprüfer, dem Experimentalphysiker Wilhelm Wien, der ihm bodenlose Ignoranz in der Experimentalphysik vorwarf. Nur das energische Eingreifen Sommerfelds ließ Heisenberg die Prüfung gerade noch bestehen. Bis 1926 war er an der Universität von Kopenhagen bei dem bekannten dänischen Physiker Niels Bohr beschäftigt und stellte bis 1927 zusammen mit Born und Pascual Jordan die Theorie der Quantenmechanik auf.
„jüdische Physik“
Grundlage ist seine These, dass die Wirklichkeit keine berechenbare, objektiv existierende Realität und nicht unabhängig von uns sein kann. Wir sind nicht nur ihr Beobachter, sondern ihr Mitschöpfer: Die Bahn der Elektronen im Atom entsteht erst dadurch, dass wir sie beobachten. Albert Einstein kann die weltanschaulichen Konsequenzen der Quantenmechanik nie akzeptieren. „Existiert der Mond auch dann, wenn keiner hinsieht?“ fragt er polemisch. Und weiter: „Wie ist das Phänomen der so genannten Nebelkammer zu erklären?“. In der Nebelkammer werden die Bahnen von Elementarteilchen sichtbar, ähnlich wie Kondensstreifen von Flugzeugen am Himmel. Auf diese Frage konzentriert Heisenberg seine Anstrengungen. Was man in der Nebelkammer wirklich beobachtet, sind nicht die Elektronen, sondern einzelne Wassertröpfchen, milliardenfach größer als ein Elektron.
Die richtige Frage musste also lauten: Kann man in der Quantenmechanik eine Situation darstellen, in der sich ein Elektron ungefähr – das heißt mit einer gewissen Ungenauigkeit an einem gegebenen Ort befindet und dabei wieder ungefähr eine bestimmte Geschwindigkeit besitzt? Von 1927 bis 1941 lehrte Werner Heisenberg als Professor für Physik an der Universität Leipzig – und macht gleich im Berufungsjahr Furore, in dem er diese Frage vereint: Es ist physikalisch nicht möglich, den Ort und den Impuls eines Elektrons mit absoluter Genauigkeit für den gleichen Zeitpunkt zu bestimmen. Je präziser demnach die Messung der Ortskoordinaten, desto unschärfer die Bestimmung der Impulskomponenten und umgekehrt. Die „heisenbergische Unschärferelation“ ist geboren und bedeutet letztendlich: Die Berechenbarkeit der Welt hat prinzipiell unüberwindbare Grenzen.
1928 wurde sein Buch „Die physikalischen Prinzipien der Quantentheorie“ publiziert; Reisen in die USA, nach Japan und nach Indien schlossen sich an. 1932 wurde er mit dem Nobelpreis für Physik geehrt. Durch Heisenberg gelang der sächsischen Universität der Anschluss an die Zentren der modernen Atomphysik: Kopenhagen, Cambridge und Göttingen. Zudem zog der inspirierende Lehrer hochbegabte Studenten an, darunter Carl Friedrich von Weizsäcker und den (späteren) „Vater der Wasserstoffbombe“ Edward Teller. Das NS-Regime verwehrte Heisenberg 1936 ein Engagement an der Münchner Universität aufgrund seines Eintretens für Albert Einstein und Lise Meitner.
1937 verliebt er sich in die Buchhändlerin Elisabeth Schumacher und heiratet sie. Aus der Ehe gingen insgesamt sieben Kinder hervor. In dieser Zeit wird seine Physik als „jüdische Physik“ angefeindet, er fühlt sich politisch und wissenschaftlich isoliert. Dennoch schlägt er lukrative Angebote aus den USA aus und bleibt mit seiner jungen Familie in Deutschland. 1941 baut Heisenberg mit seinen Mitarbeitern an der Universität Leipzig die Vorform eines Atomreaktors – der Weg zum Bau von Atombomben ist vorgezeichnet, die „jüdische Physik“ also doch erfolgreich. Prompt wurde er Leiter des Berliner Kaiser-Wilhelm-Instituts, das später in Max-Planck-Institut umbenannt wurde, und lehrte zudem als Professor an der Berliner Universität, wo er am Uranprojekt des Heereswaffenamtes beteiligt war.
Aber Heisenberg baut keine Bombe, weil die „Arbeiten an der Atombewaffnung … viel zu lange gedauert hätten. Ich konnte ganz ehrlich berichten: Im Prinzip kann man schon Atombomben machen, aber alle Verfahren, die wir bisher kennen, sind so ungeheuer kostspielig, dass es Jahre dauern würde und einen ganz enormen technischen Aufwand von Milliarden brauchen würde“. Geforscht wurde in einem Felsenkeller bei Haigerloch in Württemberg. Eilig haben es die Physiker nicht: Wie Bewohner berichten, übt Heisenberg lieber an der Kirchenorgel über dem Felsenkeller und gibt Konzerte für die Einheimischen.
Weltformel weitgehend gescheitert
Von einem amerikanischen Spezialkommando verhaftet, wird er mit neun weiteren deutschen Wissenschaftlern, darunter Carl Friedrich von Weizsäcker und Otto Hahn, auf dem Landsitz Farm Hall in England interniert und erfährt aus dem Radio vom Abwurf einer Atombombe über Japan: „Ich wollte diese Nachricht zunächst nicht glauben. … Erst am Abend, als der Berichterstatter im Rundfunk den riesigen technischen Aufwand schilderte, der geleistet worden sei, musste ich mich mit der Tatsache abfinden, dass die Fortschritte der Atomphysik, die ich 25 Jahre lang miterlebt hatte, nun den Tod von weit über hunderttausend Menschen verursacht hatten.“ 1946 wurde er Direktor und Professor des Max-Planck-Instituts für Physik in Göttingen und blieb dort bis zu seiner Emeritierung 1970. Zu seinem Forschungsgebiet zählte unter anderem die Atomspaltung kosmischer Strahlungen im Raum.
Nach einer Gastprofessur in Cambridge fungierte er von 1949 bis 1951 als Präsident des Deutschen Forschungsrats und der traditionellen Göttinger Akademie der Wissenschaften, hält weitere Gastvorträge in den USA und wurde 1952 Vizepräsident des „Europäischen Rats für kernphysikalische Forschung“, aus dem das Forschungszentrum CERN hervorgeht, sowie ein Jahr später erster Präsident der Alexander-von-Humboldt-Stiftung in Bonn-Bad Godesberg. Diese Funktion übte er bis 1975 aus. Er stand Konrad Adenauer nahe, setzte sich für eine verstärkte Kernforschung und für den Bau von Reaktoren ein, lehnte jedoch gleichzeitig eine militärische Nutzung der Kernenergie ab. 1957 bekannte er sich in der Göttinger „Erklärung der 18 Atomwissenschaftler“ öffentlich gegen die Ausstattung der Bundeswehr mit Atomwaffen.
Im Jahr darauf lehrte er als Professor für Physik an der Münchner Universität und leitete zugleich, ebenfalls bis 1970, das dortige Max-Planck-Institut. Heisenberg engagierte sich auch im Tübinger Memorandum, in dem sich 1961 die Unterzeichner gegen eine atomare Bewaffnung und für die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze aussprachen. Als Ende der 1960er Jahre die Studentenbewegung auch sein Institut okkupierte, reagierte Heisenberg empfindlich und zog Vergleiche zu nationalsozialistischen Studentenbewegungen in den 1930er Jahren. Für Hans-Peter Dürr, Heisenbergs Schüler und Nachfolger als Direktor des Münchner Max-Planck Instituts, war er ein „Künstler-Wissenschaftler“: Es spielte Klavier und sicher vom Blatt; es gibt eine Aufnahme von Mozarts d-Moll-Klavierkonzert mit Heisenberg als Pianist in seinem Hause in München von 1966.
Er starb am 1. Februar 1976 in München, wo er auch begraben ist. Heisenberg war Mitglied in vielen Akademien der Wissenschaften und Ehrendoktor zahlreicher Universitäten und Hochschulen. Nach ihm wurde das Heisenberg-Programm der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) benannt, das seit 1977 das Heisenberg-Stipendium und seit November 2005 auch die Heisenberg-Professur umfasst. Zahlreichen Schulen und geographische Orte tragen seinen Namen. Damals eine Sensation, gilt seine „Weltformel“, die den Aufbau der Materie im Sinne eines „gemeinsames Urfelds“ als Grundlage allen Seins beschreiben wollte, heute als weitgehend gescheitert, diente aber als Inspiration für Terry Pratchetts Antwort „42“ in Per Anhalter durch die Galaxis auf die Frage „nach dem Leben, dem Universum und dem ganzen Rest“. Experimentell bewiesen ist bis heute nur, dass Materie direkt aus Energie entsteht.
Bis heute nicht vollständig aufgearbeitet ist seine Reise mit Carl Friedrich von Weizsäcker 1941 nach Kopenhagen, um mit seinem väterlichen Freund Niels Bohr über die Implikationen einer deutschen Atombombe zu sprechen. Das Gespräch wurde von Michael Frayn unter dem Titel Kopenhagen (1998) in einem bekannten Theaterstück dramatisiert. Bohr verstand Heisenberg offenbar völlig falsch, floh über Schweden in die USA und rekonstruierte den Los-Alamos-Physikern das Gespräch mit der Skizze einer Bombe, die in Wirklichkeit ein Reaktor war. Heisenbergs früherer Mitarbeiter Edward Teller nahm seinen Doktorvater später vehement in Schutz und äußerte die Ansicht, dass Heisenberg das Atomwaffenprojekt niemals ernsthaft verfolgt habe.