„den aufrechten Gang zu erlernen“
15. Dezember 2021 von Thomas Hartung
Als Jude mit US-Staatsbürgerschaft, der in der DDR lebte, aber in der BRD drucken ließ, saß er zeitlebens zwischen allen Stühlen. Seine großen macht- und menschenkundigen, intelligenten Unterhaltungsromane nordamerikanischer Prägung, mit denen er ab 1972 im Westen zeitweise zum meistgelesenen DDR-Autor avancierte, konterkarierten jegliche Ideologie. Beim deutsch-deutschen Schriftstellertreffen im niederländischen Scheveningen hält er schon 1981 die deutsche Wiedervereinigung für „möglich und naturgegeben“. Nach der Maueröffnung gehört er allerdings zu den Initiatoren des Aufrufs Für unser Land, der am 18.10.1989 in der Zeitung der LDPD Der Morgen erschien, und tritt später, angewidert vom „Kaufrausch der Massen aus der DDR“, in dem er eine „würdelose Jagd nach dem glitzernden Tinnef“ sieht, für eine sozialistische Alternative zur Bundesrepublik ein.
Für die Bundestagswahl lässt er sich 1994 nach monatelangem Zögern von der SED-Nachfolgepartei PDS als Kandidat des Wahlkreises Berlin Mitte/Prenzlauer Berg gewinnen. Er begründet diesen Schritt damit, dass in der PDS ein „Prozess innerer Wandlung“ erkennbar sei, die „westdeutsche Politikerkaste“ ihn dagegen „politikverdrossen“ mache. Einen Eintritt in die Partei lehnt er allerdings ab. Er gewinnt das Direktmandat gegen den SPD-Politiker Wolfgang Thierse, zieht mit zwei weiteren parteilosen Schriftstellern für die PDS in den Bundestag ein und hält als Alterspräsident im November die Eröffnungsrede im Parlament. „Welch nobler Text, fernab parteilicher Enge für alle Deutschen gesprochen“, befand Christoph Dieckmann noch 2014 in der Zeit. Doch außer Rita Süssmuth versagt ihm auf Geheiß des süffisant grienenden Helmut Kohl die CDU/CSU-Fraktion ebenso demonstrativ den Applaus wie Wahlverlierer Thierse: Stefan Heym, der am 16. Dezember 2001 starb.
Geboren wird er am 10. April 1913 als Helmut Flieg in Chemnitz als ältester Sohn einer jüdischen Kaufmannsfamilie. Wegen des antimilitaristischen Gedichts „Exportgeschäft“ wird er 1931 von dem Chemnitzer Gymnasium relegiert, an dem später Stephan Hermlin und Alexander Gauland ihr Abitur ablegen werden. Er zieht nach Berlin, macht dort sein Abitur, beginnt ein Studium der Philosophie, Germanistik und Zeitungswissenschaften und schreibt erste Beiträge für Ossietzkys Weltbühne. Schon 1933 emigriert er nach Prag und schreibt – zum Schutz seiner Familie unter den Pseudonymen Stefan Heym, Elias Kemp und Gregor Holm – Artikel in deutschsprachigen und tschechoslowakischen Zeitungen. 1935 begeht sein Vater Selbstmord. Andere Familienmitglieder kommen später in den Vernichtungslagern der Nationalsozialisten ums Leben.
Heym siedelt mithilfe des Stipendiums einer jüdischen Hilfsorganisation in die USA über und schließt 1936 an der Universität von Chicago sein Studium mit dem Master of Arts über Atta Troll von Heinrich Heine ab. Zwei Jahre lang arbeitet er dann als Chefredakteur der antifaschistischen New Yorker Wochenzeitung Deutsches Volksecho. Er wird Mitglied der German-American-Writers-Association und verschreibt sich dem Dasein eines freien Schriftstellers, dessen erster Roman Hostages (1942) zu einem großen Erfolg wurde – als „Der Fall Glasenapp“ erschien das Buch erst 1958 auf Deutsch. 1943 tritt er in die Ritchie Boys der US-amerikanischen Armee ein.
„kritischer Marxist“
Mit dieser Einheit für Psychologische Kriegsführung folgte er 1944 der alliierten Invasion in der Normandie. Seine Aufgabe bestand vorwiegend im Verfassen propagandistischer Texte, die meist per Flugblatt, aber auch per Heeresgruppenzeitung, Lautsprecherübertragung und Rundfunksendung die Soldaten der Wehrmacht beeinflussen sollten. Nach Kriegsende leitete Heym die Ruhr Zeitung in Essen und war anschließend in München Redakteur der Neuen Zeitung, einer der wichtigsten Zeitungen der amerikanischen Besatzungsmacht. Wegen seiner prosowjetischen Einstellung wurde Heym Ende 1945 in die USA zurückversetzt und heiratet die Amerikanerin Gertrude Gelbin, die ihn bis zu ihrem Tod 1969 auf seinem Lebensweg begleitete. Ende 1948 veröffentlichte er in Boston seinen Roman The Crusaders (dt. „Kreuzfahrer von heute“, 1950), der ein Weltbestseller wird.
Aus Protest gegen den Koreakrieg gibt Heym alle militärischen Auszeichnungen zurück, verlässt zeitgleich mit Charlie Chaplin, Bertolt Brecht und Thomas Mann die USA, geht zunächst über Warschau nach Prag und siedelt 1952 nach Ost-Berlin über. In den ersten Jahren führte Heym dort ein privilegiertes Leben, konnte öffentlich wirksam werden und schriftstellerisch und journalistisch arbeiten, da er bereit war, über Unzulänglichkeiten hinwegzusehen. Er wird Kolumnist für die BZ, Mitglied des PEN-Zentrums Ost und West und Vorstandsmitglied des Deutschen Schriftstellerverbands.
Nach den Ereignissen des 17. Juni schreibt er den Roman Der Tag X, der nicht veröffentlicht wird. Nach Stalins Tod beginnt er als „kritischer Marxist“ die Auseinandersetzung mit dem DDR-Regime zu suchen, das nach seiner Auffassung „den Sozialismus zu einem Zerrbild der Idee entstellt“. Heym, der sich nie als Gegner, sondern als Kritiker des Regimes verstand, tritt nie einer Partei bei. So ficht er nach seiner Auszeichnung mit dem Heinrich-Mann-Preis 1956 eine Kontroverse mit Walter Ulbricht auf dem IV. Schriftsteller-Kongress aus. 1959 erhält er den Nationalpreis der DDR.
Die Spannungen verschärften sich ab 1965, als Erich Honecker während des 11. Plenums der SED, des sogenannten „Kahlschlag-Plenums“, Heym heftig angriff. Im gleichen Jahr mit einem Veröffentlichungsverbot belegt, wurde er 1969 wegen der unerlaubt in der Bundesrepublik Deutschland erfolgten Veröffentlichung von Lassalle zu einer Geldstrafe verurteilt. 1971 heiratet er die Szenaristin, Drehbuchautorin und Herausgeberin Inge Wüste. Hintergrund der kulturpolitischen Entspannung, die Heym ab dem Heiratsjahr wieder mit DDR-Verlagen zusammenarbeiten ließ, war offensichtlich eine Rede Honeckers vor hohen SED-Funktionären unter dem Schlagwort „Keine Tabus“. Jedoch erschienen Erstveröffentlichungen Heyms von 1974 bis in die Endphase der DDR nur noch in Westverlagen.
1972 veröffentlichte er Der König David Bericht und thematisiert darin die Stellung der Intellektuellen zwischen Macht und Wahrheit. 1974 folgten dann 5 Tage im Juni, seine zweite Aufarbeitung des 17. Juni. 1976 gehörte Heym zu den Unterzeichnern der Petition gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns. 1978 reiste er für einige Vorträge in die USA und wurde im Jahr darauf ein zweites Mal wegen unerlaubter Veröffentlichung in der BRD verurteilt – diesmal wegen Collin – und aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen. Der Roman rechnet mit der stalinistischen DDR-Vergangenheit und ihrer Verdrängung ab. In der DDR wird Heym fortan lediglich geduldet und verschafft sich zunehmend Gehör in westlichen Medien. 1981 erscheint der Roman Ahasver. Die Titelfigur bezeichnet den ewigen Juden, eine mittelalterliche Sagengestalt, die Heym vor dem Hintergrund der atomaren Rüstungsspirale als rebellischen, unermüdlich antidogmatischen Intellektuellen auftreten lässt.
„unsere Sprachlosigkeit überwunden“
Drei Jahre später veröffentlicht er Schwarzenberg – der Roman handelt von einem sozialistischen Experiment in einem unbesetzten Landkreis im Erzgebirge in der unmittelbaren Nachkriegszeit. 1988 folgt dann der autobiografische Nachruf. Bei der Kundgebung auf dem Ost-Berliner Alexanderplatz am 4. November 1989 wird er von den Demonstranten euphorisch begrüßt, als er eine Rede über „den neuen, den besseren Sozialismus in der DDR“ hält: „Es ist, als habe einer die Fenster aufgestoßen! Nach all’ den Jahren der Stagnation – der geistigen, wirtschaftlichen, politischen; – den Jahren von Dumpfheit und Mief, von Phrasengewäsch und bürokratischer Willkür, von amtlicher Blindheit und Taubheit. […] Wir haben in diesen letzten Wochen unsere Sprachlosigkeit überwunden und sind jetzt dabei, den aufrechten Gang zu erlernen!“
Zugleich wurde er wieder in den Schriftstellerverband aufgenommen und 1990 juristisch rehabilitiert. Er erhält die Ehrendoktorwürde er Universitäten Bern und Cambridge, veröffentlicht den Erzählband Auf Sand gebaut (1990) und das Buch Filz. Gedanken über das neueste Deutschland (1992), in denen er sich kritisch dem Thema der deutschen Wiedervereinigung widmet. Seiner Meinung nach würden die Ostdeutschen im Verlauf ihrer Integration in die Bundesrepublik benachteiligt, er bestand auf einer gerechten sozialistischen Alternative zum nunmehr gesamtdeutschen Kapitalismus.
1992 gründete er das Komitee für Gerechtigkeit in der Hoffnung mit, das daraus eine neue Partei entsteht, denn „wenn alle anderen Parteien politisch bankrott seien, dann muss eben eine neue geschaffen werden.“ In seiner Gründungsrede warnte er: „… wenn die Leute sich nicht artikulieren können, dann werden sie Häuser anzünden. Und wenn man ihnen nicht eine demokratische Lösung anbieten kann, eine linke Lösung, dann werden sie nach rechts gehen, werden wieder dem Faschismus folgen.“
1993 wird er für sein Engagement gegen Rassismus und Xenophobie als erster deutscher Schriftsteller mit dem Jerusalem-Preis für Literatur ausgezeichnet; parallel dazu schenkt er sein Privatarchiv der Universität Cambridge. Die Bundesregierung dokumentierte seine Rede als Alterspräsident entgegen langjährigen Gepflogenheiten erst nachträglich im März 1995. Ein halbes Jahr später legte Heym sein Mandat aus Protest gegen eine geplante Verfassungsänderung zur Diätenerhöhung nieder. Er ist der drittälteste Abgeordnete, der jemals in einem deutschen Bundestag ein Mandat hatte. Zeitgleich erscheint Radek, ein 500-Seiten-Opus über den unter Stalin verschwundenen galizischen Berufsrevolutionär Karl Radek. Freimut Duve erkannte im Spiegel einen „Bruderroman“.
1997 gehörte Heym zu den Unterzeichnern der Erfurter Erklärung, in der ein rot-grünes Bündnis unter Tolerierung durch die PDS nach der Bundestagswahl 1998 gefordert wurde. „Ich bin immer Regimekritiker gewesen, nur das Regime, das ich kritisiere, hat gewechselt“, konstatierte er. Heym starb in Israel nach einem Symposium an Herzversagen. Neben Bundeskanzler Gerhard Schröder nahm auch Thierse an der Beisetzung teil. Der befreundete Orientalist Walter Beltz, der Heym einen „faszinierenden homo politicus“ nannte, meinte in seiner Trauerrede: „Stefan Heym beteiligte uns an seinen Träumen und machte uns Mut. Und Träume können nicht begraben werden.“
Seine Romane zeigten, so Jens Jessen in der Zeit, „wie die beiden deutschen Nachkriegsstaaten spiegelbildlich aufeinander bezogen sind und man die Geschichte und Kunst des einen nicht ohne Bezug auf den anderen diskutieren kann.“ Dieckmann euphorisierte gar: „Ein linker Utopist, der seine Kunst an keine Ideologie verriet“; die „Besserung der unverbesserlichen Welt“ sei sein Lebensthema gewesen. Seit 2008 verleiht seine Heimatstadt, in der heute ein Stefan-Heym-Platz an ihn erinnert, aller drei Jahre einen mit 20.000 € dotierten Stefan-Heym-Preis an herausragende Autoren, so 2013 an Christoph Hein. 2009 wurde zur Pflege und Verbreitung seines literarischen Nachlasses in Chemnitz die Stefan-Heym-Gesellschaft eingerichtet; sie eröffnete 2020 im Beisein von Witwe Inge eine Stefan-Heym-Arbeitsbibliothek als Gedenk-, Kultur- und Forschungsstätte.