Der Himmelsmechaniker
25. Dezember 2021 von Thomas Hartung
Als er 1613 seine zweite Frau heiratete, die 18 Jahre jüngere Susanna Reutinger, geschah dies nach einem Auswahlverfahren, bei dem er nicht weniger als elf Kandidatinnen über viele Monate begutachtet hatte. Weil er eine falsche Abrechnung der Weinmenge für seine Hochzeitsfeier vermutete, beschäftigte er sich prompt mit Formeln zur Flächen- und Volumenbestimmung, was 1615 zu seinem Buch „Nova Stereometria Doliorum Vinariorum“ („Neue Raumgeometrie für Weinfässer“) und seiner „Fassregel“ führte, mit der er Flächen und Volumen mit Hilfe von Indivisibilien berechnete. Sie trug maßgeblich zur späteren Infinitesimalrechnung bei. Überhaupt werden ihn Abrechnungen noch über den Tod hinaus beschäftigen: So nahm sein Sohn Ludwig eine kaiserliche Obligation über die dem Vater geschuldeten 12.694 Gulden entgegen – den letzten, ergebnislosen Versuch, diese Honorare einzutreiben, unternahm fast ein Jahrhundert später der Ehemann einer Enkelin von Ludwig.
1619 veröffentlichte er in der fünfbändigen „Harmonia mundi“ („Weltharmonik“) sein drittes und letztes Gesetz der Planetenbewegung: Die zweite Potenz der Umlaufzeit von Planeten verhält sich wie die dritte Potenz ihrer mittleren Entfernung von der Sonne. Oder anders: Die dritten Potenzen der großen Halbachsen der Planetenbahnen verhalten sich wie die Quadrate der Umlaufzeiten. Damit waren die Gesetzmäßigkeiten der Planetenbewegung als Grundlage der modernen Astronomie vervollständigt, die heute als sein größtes Verdienst neben vielen weiteren gelten: Johannes Kepler, der am 27. Dezember 1571 im württembergischen Weil der Stadt geboren wurde.
Als Frühgeburt wurde er immer als schwaches und krankes, dennoch hochbegabtes Kind bezeichnet. Obschon sein Großvater noch Bürgermeister war, befand sich seine Familie im wirtschaftlichen Niedergang. Sein Vater verdiente einen unsicheren Lebensunterhalt als Händler, verdingte sich mehrfach als Söldner und kehrte, als Johannes fünf Jahre alt war, nicht aus dem Krieg zurück. 1575 überstand er eine Pockenerkrankung, die jedoch bleibend sein Sehvermögen beeinträchtigte. Seine Mutter Katharina, eine Leonberger Gastwirtstochter, war Kräuterfrau und vererbte ihm ihre zarte Konstitution. Zwei Erlebnisse blieben ihm besonders im Gedächtnis: der Anblick des Kometen 1577 und die Beobachtung einer Mondfinsternis 1580. Seine Eltern beschrieb er als jähzornig und streitsüchtig; als 25jähriger suchte er in den Geburtskonstellationen seiner Vorfahren nach einer gleichsam entschuldigenden Begründung für deren weniger gute Charaktereigenschaften.
Nach dem Besuch der Lateinschule in Leonberg erhielt er ein Begabten-Stipendium für ein evangelisches Theologiestudium, für das er 1584 die niedere Klosterschule in Adelberg, 1586 die höhere in Maulbronn besuchte und sich 1589 schließlich an der Artistenfakultät der Universität Tübingen einschrieb. Nach der Magisterpromotion 1591 begann er das 3jährige Studium der Theologie und überwand häufig wiederkehrende Erkrankungen. Als prägendes Element stellte sich damals seine Auseinandersetzung mit dem kopernikanischen Weltbild heraus: Er hörte zum ersten Mal von Kopernikus‘ umwälzender These, dass nicht die Erde, sondern die Sonne im Mittelpunkt des Planetensystems stehe. Weil sein kritischer Geist nicht mit den Dogmen der lutherischen Orthodoxie übereinstimmte – so hatte er neben der Frage des geozentrischen Weltbildes auch Differenzen in der Lehre über das Abendmahl – bekam er nicht die gewünschte Anstellung als Pfarrer in Württemberg.
Die ersten zwei Kepler‘schen Gesetze
So trat er 1594 eine Stelle als Professor für Mathematik und Astronomie in der obersten Klasse der evangelischen Stiftsschule in Graz an, die mit dem Amt des „Landschaftsmathematikers“ verbunden war – Landesastrologe trifft es eher, denn von ihm wurde die Abfassung des jährlichen Kalenders erwartet, der neben dem Kalendarium vor allem ein angehängtes „Prognosticum“ beinhaltete: Voraussagen über das im kommenden Jahr zu erwartende Wetter, Krankheiten und politische Ereignisse auf der Grundlage der Planetenaspekte. Drei davon sind erhalten, darunter gleich das erste für das Jahr 1594, das ihm erstes Ansehen bescherte: Der vorausgesagte kalte Winter und der prognostizierte Türkenangriff trafen wirklich ein. Dabei kann er auch Einfluss nehmen auf die verderblichen Begierden der sterngläubigen Menge und ihr, als Heilmittel, geeignete Mahnungen einträufeln.
Da er nur wenig, dann gar keine Hörer mehr hatte, wurde er auch zum Unterricht in Arithmetik und Rhetorik, später in noch anderen Fächern herangezogen. Seine Gelehrsamkeit erlaubte ihm, jeglichen Unterricht aus dem Stegreif zu erteilen. Die Grazer Hochschule war das protestantische Gegenstück zur Universität, die von Jesuiten geleitet wurde, und Motor der Gegenreformation. Hier begann Kepler mit der Ausarbeitung einer kosmologischen Theorie, die sich auf das kopernikanische Weltbild stützte, Ende 1596 als „Mysterium Cosmographicum“ erschien und ihn als hoffnungsvollen Nachwuchswissenschaftler bekannt machte. Ein Jahr später heiratete er die 25-jährige Barbara Müller, eine zweifache Witwe mit Tochter: Aufgrund des von ihren Ehemännern ererbten Vermögens eine gute Partie. Das Paar bekam fünf Kinder, von denen zwei ihre Kindertage nicht überlebten.
Im Zuge der Gegenreformation musste Kepler 1600 Graz verlassen. Er ließ sich in Prag nieder, wo er zunächst als Assistent des dänischen Astronomen und kaiserlichen Hofmathematikers Tycho Brahe tätig war. Obwohl sich beider Begabungen ergänzten – Brahe war ein exzellenter Beobachter, aber kein Mathematiker, der hervorragende Mathematiker Kepler hingegen fast blind – erwies sich die Kooperation als schwierig. Nach Brahes überraschendem Tod 1601 folgte Kepler als kaiserlicher Mathematiker nach und ergänzte die Theorie von Kopernikus um die Annahme einer Ellipsenbahn, auf der sich die Planeten um die Sonne bewegen. Seinen Posten hatte er während der Herrschaft der drei habsburgischen Kaiser Rudolf II., Matthias I. und Ferdinand II. inne und übernahm damit auch die Zuständigkeit für die kaiserlichen Horoskope und den Auftrag, die „Rudolfinischen Tafeln“ zu erstellen: Eine Sammlung von Tabellen und Rechenvorschriften zur Vorhersage der Planetenstellungen als Grundlage von Himmelsberechnungen aller Art wie Finsternisse, Feste oder eben auch Horoskope.
1609 veröffentlichte er als Ergebnis seiner Ellipsentheorie in seinem Hauptwerk „Astronomia nova“ seine Gesetze der Planetenbewegung: Der Mars bewegt sich in einer Ellipse, in deren einem Brennpunkt die Sonne steht (1. Planetengesetz, auch „Ellipsensatz“) und zwar so, dass der Radius Vector (Verbindungslinie Sonne-Planet) in gleichen Zeiten gleiche Flächen bestreicht (2. Planetengesetz). Die Aufgabe, den Ort eines Planeten in seiner Bahn für einen gegebenen Zeitpunkt zu berechnen, konnte er nur indirekt lösen. Die Sonne ist der Sitz einer Kraft, das Planetensystem wird von inneren Gesetzen beherrscht, von physikalischen Kräften regiert – mit diesen neuartigen Gedanken setzte er als erster an Stelle des formalen Schemas früherer Astronomen ein dynamisches System, statt der mathematischen Regel das Naturgesetz, an Stelle der geometrischen Beschreibung der Planetenbewegung die kausale Erklärung. Er begründete damit eine neue Wissenschaft, die Himmelsmechanik.
Optik und Tod
Im Umgang mit Brahes Erbe kam er zur Einsicht, dass dessen vervollkommnete Beobachtungstechnik neuartige und größere Anforderungen auch an die astronomische Optik stellte. So übernahm er die Darstellung der astronomischen „Optik“ in allen ihren Teilen 1604. Der Text fasst Einzelerscheinungen zu einem Ganzen zusammen, das „für die Physik die grundlegende Erklärung des optischen Bildes, die in ihren wesentlichen Zügen endgültige Theorie des Sehvorganges und das Grundgesetz der Photometrie als Vorstufe des Gravitationsgesetzes, für die Astronomie die rechnerische Auswertung der Finsternisse sowie eine rein theoretisch gewonnene verbesserte Refraktionstafel, für die Geometrie endlich eine neue Betrachtungsweise der Kegelschnitte gebracht hat“, so sein Biograph Franz Hammer. Die Auffindung des Brechungsgesetzes ist ihm, in physikalischen Vorstellungen seiner Zeit befangen, nicht gelungen; doch stellte er eine überraschend gute Näherungsformel auf.
1611 verfasste er innerhalb weniger Wochen eines seiner bedeutendsten Werke, in dem er eine neue optische Disziplin vorstellte und mit dem er neben dem Praktiker Galilei als Theoretiker den Siegeszug des Fernrohrs in der Astronomie einleitete: die „Dioptrik“ als Bezeichnung für die Optik der brechenden Medien. Er untersucht darin, geleitet auch von eigener Erfahrung im Schleifen von Linsen und im Bau von Fernrohren, die Wirkungsweise der einzelnen Linsen wie der Kombinationen von solchen und begründet damit die Theorie des nach ihm benannten astronomischen Fernrohrs. Außerdem entdeckte er durch geeignete Kombination einer Konvex- und einer Konkavlinse das Prinzip des Teleobjektivs. Im selben Jahr starb Keplers Frau und erschien auch sein Buch „Über die sechseckige Schneeflocke“ mit der Vermutung des atomaren Aufbaus der Materie, gewonnen durch die Beschäftigung mit Schneekristallen.
Nach dem Tod seines Gönners Kaiser Rudolf II. ging Kepler aus finanziellen Gründen 1612 als Professor nach Linz an die protestantische Landschaftsschule, wo er bis 1626 lehrte. Von den sechs Kindern, die er mit seiner zweiten Frau bekam, starben die drei zuerst geborenen früh. 1613 unterstützte er die Vorschläge von Papst Gregor XIII. zur Kalenderreform. Von 1615 an musste er sich um die Verteidigung seiner Mutter Katharina kümmern, die unter dem Verdacht der Hexerei angeklagt war, nach seinen Intervention 1621 freikam und an den Haftschikanen kurz danach starb. Nach der „Weltharmonik“ bereicherte er 1621 die kopernikanische Lehre durch die These, dass eine von der Sonne ausgehende Kraft die Planetenbewegung verursache – erst Newton wird 1687 die Gravitation entdecken. Kepler wertete die aus wissenschaftlicher Beobachtung und Erfahrung gewonnenen Erkenntnisse höher als ihnen widersprechende Aussagen der kirchlichen und weltlichen Autoritäten. Zwischen 1618 und 1621 verfasste er den „Abriss der kopernikanischen Astronomie“, der seine Entdeckungen in einem Band zusammenfasste: Das erste Lehrbuch des heliozentrischen Weltbildes.
1626 zwang ihn die Gegenreformation auch zum Verlassen von Linz. Er fand im kaiserlichen General Albrecht von Wallenstein einen neuen Förderer, der von Kepler zuverlässige Horoskope erwartete und ihm im Gegenzug in Sagan (Schlesien) eine Druckerei zur Verfügung stellte. Kepler publizierte 1627 die „Rudolfinischen Tafeln“, die bis ins 19. Jahrhundert hinein als Grundlage für astronomische und astrologische Berechnungen dienten. Ein Meilenstein der Wissenschaftsgeschichte war seine Vorhersage eines Venustransits 1631. Mit seiner Einführung in das Rechnen mit Logarithmen trug er zur Verbreitung dieser neuen Rechenart in Deutschland bei. Als Wallenstein jedoch 1630 auf dem Reichstag in Regensburg seine Funktion als Oberbefehlshaber verlor, reiste Kepler dorthin, um seine ausstehenden Gehaltsforderungen einzufordern, was ihm aber nicht gelang. Wallenstein stellte ihm als Herzog von Mecklenburg eine Professur an der Universität Rostock in Aussicht, doch vor deren Antritt starb er am 15. November 1630. Sein Grab und das Grabdenkmal auf dem Regensburger Petersfriedhof gingen im Dreißigjährigen Krieg verloren.
Schöpfung als zusammenhängendes Ganzes
Der Naturphilosoph, Mathematiker, Astronom, Astrologe, Optiker und evangelische Theologe entwickelte vor allem das heliozentrische Weltbild weiter, indem er es statt eines hypothetischen Modells zur einfacheren Berechnung der Planetenpositionen als eine physikalische Tatsache sah. Als „pythagoreischer Mystiker“ glaubte er, dass die Grundlage der Natur mathematische Beziehungen seien und alle Schöpfung ein zusammenhängendes Ganzes. Das stieß nicht nur in der katholischen Kirche, sondern auch bei seinen protestantischen Vorgesetzten auf erbitterten Widerstand, da auf beiden Seiten die Lehren von Aristoteles und Ptolemäus als unantastbar galten. Zeitlebens suchte er nach einer Harmonie im Aufbau des Universums, und als tief religiöser Mensch war er davon überzeugt, dass es einen Schöpfungsplan geben müsse, der auf geometrischen Proportionen beruht. Zu einer Zeit, in der zwischen Astronomie und Astrologie noch nicht eindeutig unterschieden wurde, schrieb er: „Ich glaube, dass die Ursachen für die meisten Dinge in der Welt aus der Liebe Gottes zu den Menschen hergeleitet werden können.“
Kepler war auch davon überzeugt, dass Himmelskörper irdische Ereignisse beeinflussten. Ein Ergebnis seiner Überlegungen war die richtige Einschätzung der Rolle des Mondes auf die Entstehung der Gezeiten, Jahre vor Galileis gegenteiliger falscher Formulierung. Des Weiteren glaubte er, dass es eines Tages möglich sein werde, eine „wissenschaftliche“ Astrologie zu entwickeln, trotz seiner generellen Abneigung gegen die Astrologie seiner Zeit. Mehr als 800 von Kepler gezeichnete Horoskope und Geburtskarten sind erhalten. „Die Sterne zwingen nicht, sie machen nur geneigt“: Kepler räumte der menschlichen Willkür die Möglichkeit ein, himmlische Zwänge zu durchbrechen und von dem astrologisch vorgezeichneten Weg abzuweichen. Wallenstein soll er für 1634 erhebliche Schwierigkeiten vorausgesagt haben: In dem Jahr wurde der Generalissimus tatsächlich ermordet.
1608 schrieb Kepler die Erzählung „Somnium“ („Der Traum“), die so realistisch wie damals möglich eine Mondfahrt beschreibt. Man kann sie als eine der ersten Science-Fiction-Erzählungen bezeichnen. Sie wurde 1634 postum von seinem Sohn veröffentlicht und erst 2011 vollständig übersetzt auf Deutsch publiziert. Zu einer bedeutenden, aber wenig gewürdigten Erfindung führte eine andere Gelegenheitsarbeit, zu der Kepler durch Gespräche mit einem Bergwerksbesitzer angeregt wurde. Dabei ging es um die Entwicklung einer Pumpe, mit der Wasser aus Bergwerksstollen herausgehoben werden sollte. Nach fehlgeschlagenen Experimenten kam Kepler der Gedanke, zwei in einem Kasten angebrachte „Wellen mit je sechs Hohlkehlen“, also Zahnräder mit abgerundeten Ecken, mit einer Kurbel anzutreiben, so dass die Radhöhlungen das Wasser nach oben beförderten. Er hatte eine ventillose und daher fast wartungsfreie Zahnradpumpe erfunden, die heute in prinzipiell gleichartiger Form in Automotoren als Ölpumpe eingebaut wird.
Keplers Ehrungen sind kaum überschaubar. Die Linzer Universität wurde nach ihm benannt, viele Schulen, geographische Orte nicht nur auf der Erde, selbst eine Palmenart. Eine Büste Keplers wurde 1842 in die Walhalla aufgenommen. Paul Hindemith setzte ihm mit seiner Oper Die Harmonie der Welt ein musikalisches Denkmal. Die Kepler-Gesellschaft verleiht seit 2006 Kepler-Preise an Schüler aus den 22 Kepler-Gymnasien der EU. Die Oper Kepler von Philip Glass wurde als Auftragswerk für Linz als Kulturhauptstadt Europas 2009 uraufgeführt. Die Evangelische Kirche in Deutschland erinnert mit einem Gedenktag im Evangelischen Namenkalender am 15. November an ihn. Leonberg und Weil der Stadt, wo es neben Museen etwa einen „Planetenweg“ gibt, erklärten 2021 zum Kepler-Gedenkjahr.