„Und darf nur heimlich lösen mein Haar“
9. Januar 2022 von Thomas Hartung
„Dass sie lebendig und geistreich, etwas zu aufgeregt war, wie oft bezeugt ist, machte sie ein wenig zur Außenseiterin. Sie wirkte dem ganz entschlossen und mit aller Klugheit entgegen, wollte sich nicht vom ‚Leben’ ausgeschlossen wissen. Sie sang und komponierte, Lieder wie Singspiele, sie entwarf Szenen und Stücke, leitete Gesellschaftsspiele an, schien über einen Überschuss an Kraft und Begabung zu verfügen, was die standesgemäßen Freier nicht eben anzog.“ Alexander von Bormann hätte im DLF noch hinzufügen können, dass sie daneben die einzige Schriftstellerin ist, die in keiner deutschen Literaturgeschichte fehlt, und eine der wenigen Frauen, deren Porträt einen deutschen Geldschein zierte, nämlich bis 2001 die grüne 20 DM-Note: Annette von Droste-Hülshoff, die am 10. Januar vor 225 Jahren zur Welt kam.
Geboren als Anna Elisabeth Franzisca Adolphina Wilhelmina Ludovica Freiin von Droste zu Hülshoff auf der gleichnamigen Wasserburg als zweites von vier Kindern eines Gutsherrn, setzte sie die Tradition ihres urwestfälischen Adelsgeschlechts in der 20. Generation fort. Bedingt durch ihre frühe Geburt, galt sie als kränklich, war nur ca. 1,50 m groß und zierlich, extrem kurzsichtig, hatte auffällig wirkende Augen und litt oft unter Kopfschmerzen. Das hinderte das wissbegierige Kind nicht daran, eine Bildung zu erwerben, die für die damalige Mädchenerziehung außergewöhnlich war und neben Literatur in lateinischer, griechischer, französischer und englischer Sprache auch geschichtliche, geografische und naturkundliche Kenntnisse umfasste. Dabei wurde sie zusammen mit ihren Geschwistern zunächst von ihrer gebildeten Mutter, dann von einem Hauskaplan und späteren Gymnasialprofessor und von einer französischen Kinderfrau unterrichtet.
Dichtung war ihr als Talent in die Wiege gelegt worden, so sah sie früh ihre Berufung als Dichterin und ließ sich darin nicht beirren. Auf Initiative ihrer Eltern wurde 1812 bis 1819 von Anton Matthias Sprickmann unterrichtet und gefördert, der dem Göttinger Hain nahestand und dessen Lustspiel „Der Schmuck“ in Weimar von Goethe höchstselbst inszeniert wurde. Eine Beziehung zu dem bürgerlichen Göttinger Jurastudenten Heinrich Straube in den Jahren 1819 und 1820 ging auf familiäres Betreiben in die Brüche, was sie traumatisiert hinterließ. Damit waren wohl auch das Denken und die Vorstellungen der künftigen Dichterin in das Konservative gerichtet, das sie auch in ihren Werken äußerte. Sie schloss sich der Familie an, indem sie vor allem ihre Mutter auf Reisen ins Münsterland, ins Paderborner Land und ins Rheinland begleitete, aber auch zensorische Eingriffe in ihre Werke durch ihren Bruder duldete. Von den Reisen brachte sie vielfältige literarische Anregungen mit.
In dieser Zeit hatte sie begonnen, einen Zyklus von geistlichen Liedern auf die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres zu verfassen. Vor dem Hintergrund der Straube-Affäre gerieten ihre Texte zum persönlichen Bekenntnis, erst zwanzig Jahre später konnte sie das „Geistliche Jahr“ vollenden. Nach dem Tod des Vaters 1826 zog Annette mit Mutter und Schwester auf den Wohnsitz Haus Rüschhaus nahe Münster und verlegte sich für einige Zeit auf ihr zweites Talent, die Musik; sie sang und arbeitete an den Opernprojekten „Babilon“ und „Der blaue Cherub“ und korrespondierte mit dem Ehepaar Schumann. Erst 1877 kam ihr Wirken als Komponistin ans Licht, als Christoph Bernhard Schlüter einige Lieder aus dem Nachlass veröffentlichen ließ.
„Reichtum der Charakteristiken und Stimmungen“
In den 1830er Jahren erweiterte sie allmählich ihren Gesichtskreis, insbesondere durch Reisen nach Köln und Bonn sowie in die Schweiz, aber auch den Besuch vieler Gesprächsrunden, auf denen sie die Bekanntschaft etwa von Adele Schopenhauer, Goethes Schwiegertochter Ottilie oder August Wilhelm Schlegel machte. In literarischer Hinsicht beschäftigte sie sich mit der Abfassung von Versepen, die einerseits formal wie inhaltlich dem Zeitgeschmack verpflichtet waren, andererseits ein eigenes, originelles Erzählen dokumentieren, das die üblichen Genregrenzen überschreitet. Mit dem Erscheinen der Gedichtausgabe von 1838, die weitgehend unbeachtet blieb, schließt sich die erste größere Schaffensphase.
Annette ist bereits 41 Jahre alt, eine einsame, unverstandene Frau. Selbst ihre Mutter legt das Buch einfach in den Schrank und verliert kein Sterbenswörtchen darüber. Damals verkauft sich der Gedichtband gerade 74-mal. Im Jahr zuvor hat sie den 15 Jahre jüngeren Levin Schücking kennengelernt, einen Juristen, den sie als „Seelenfreund“ bezeichnete und mütterlich liebte. Seit dieser Zeit verschiedentlich, ab 1841 dann nahezu ständig lebte sie bei ihrer Schwester auf Schloss Meersburg. Sie hatte dort eine abgetrennte Wohnung, zu der auch ein Turm gehörte – heute eine Gedenkstätte – von dem aus sie einen weiten Blick über den Bodensee genoss. Dort hielt ihr ihre Schwester den Rücken frei von gesellschaftlichen Verpflichtungen, andererseits war sie in deren Familie geborgen, zu der auch zwei Zwillingskinder gehörten. Sie und ihr Schwager Joseph von Laßberg schätzten sich zwar, er und die bei ihm verkehrenden Germanisten und Historiker lebten allerdings geistig „in einer anderen Welt“, wie sie meinte. In Meersburg fand die Droste die Balance zwischen Gesellschaft und Einsamkeit. Sie fühlte sich dort freier von Konventionen.
1842 erschien ihre Novelle „Die Judenbuche“, die Droste in der literarischen Öffentlichkeit ein wenig mehr Gehör verschaffte. Mit der Geschichte des Friedrich Mergel, der viele Jahre nach dem Mord an einem Juden am Ort der Tat in einer Buche erhängt aufgefunden wird, war ihr ein „Sittengemälde” gelungen, das mit fast naturalistischer Detailschärfe einen Ausschnitt westfälischer Lebenswelt spiegelt. Doch die Judenbuche ist mehr als eine Milieustudie; sie ist gleichzeitig Kriminalgeschichte und Psychogramm, eine Erzählung, die durch Ambivalenz und Mehrdeutigkeit letztlich die Wahrnehmung von Wirklichkeit grundsätzlich in Frage stellt. Der Text wurde in viele Weltsprachen übersetzt, verfilmt und dreimal vertont, darunter zweimal als Oper.
Die der „Judenbuche“ sekundierenden erzählerischen Versuche, die Fragmente „Ledwina“ (1819–24) und „Joseph“ (1844–45), lassen bei aller Unvollkommenheit die hohe Berufung ihrer Urheberin erkennen; noch mehr das Bruchstück eines Romans „Bei uns zu Lande auf dem Lande. Nach der Handschrift eines Edelmannes aus der Lausitz“ (1841–42). Viel Stoff aus dem unvollendeten Buch verwendete sie in den etwa gleichzeitig und wohl als Ersatz geschriebenen „Bildern aus Westfalen“ (1845). „Dieser Essay hat an Reichtum der Charakteristiken und Stimmungen sowie an Wissen um volkskundliche Einzelheiten kaum seinesgleichen in jener heimatentdeckungsfrohen Zeit“, befindet ihr Biograph Ernst Alker. Vor allem wegen dieser Texte wird sie bis heute als die Dichterin Westfalens wahrgenommen.
Schücking wurde schließlich zu ihrem „Gedichtbefreier“: Angespornt durch ihn gelang es ihr, fast täglich ein neues Gedicht zu verfassen. Es entstand damals der Grundstock ihrer zweiten Gedichtsammlung, die 1844 erschien und viele ihrer bekannten Texte enthält, so „Das Spiegelbild“, „Am Thurme“ oder die heimatbezogenen „Haidebilder“ mit ihrer Einsicht in die Doppelbödigkeit der Natur. Heute spricht man von „Natur- und Bekenntnislyrik“, in der die sinnliche Erfahrbarkeit und der unheimliche Aspekt der Natur miteinander wechselwirken, wie vor allem „Der Knabe im Moor“ zeigt.
„ein Tropfen Wohlgeruch gepresst“
Schücking blieb auch später Anreger neuer literarischer Texte, doch gelang es Droste aufgrund beständiger Krankheiten immer seltener, ihren Pegasus zu satteln. Durch Schückings geschickte Verhandlung mit der Cotta’schen Verlagsbuchhandlung erhielt Droste erstmals ein ansehnliches Honorar für den Abdruck der Judenbuche im Morgenblatt für gebildete Stände. Hiervon erwarb sie 1843 das Fürstenhäusle oberhalb Meersburgs mit einem kleinen Weinberg – das sie aufgrund zunehmender Krankheit aber nicht mehr oft genießen konnte. Schückings weitere berufliche Entwicklung, seine Heirat einer Dichterin und die Veröffentlichung des adelsfeindlichen „Die Ritterbürtigen“ traf sie ebenso empfindlich wie die Indiskretionen über den Adel, die er darin nach ihren Gesprächen verarbeitete. So kam es – auch auf Druck ihrer Familie – zum Bruch mit ihm, was sie wiederum tief verstörte.
Ihr spätes Schaffen beschränkt sich auf das Führen ihrer umfangreichen Korrespondenz, die sie seit der Jugend pflegte, sowie die Fragmente „Joseph. Eine Kriminalgeschichte“ sowie „Bei uns zu Lande auf dem Lande“, die erst lange nach ihrem Tod veröffentlicht wurden. Am Nachmittag des 24. Mai 1848 verstarb sie vermutlich an einer Lungenentzündung auf Schloss Meersburg; in dem Städtchen ist sie auch begraben. In ihr vermischten sich weibliches und männliches Empfinden, was ihr „jedes Gefühl zwiespältig, fragwürdig und peinigend“ machte, vermutet Alker. „So blieben ihr unmittelbare Glücksmöglichkeiten des Daseins verschlossen.“ Droste dichtete selbst:
„Wär ich ein Jäger auf freier Flur / Ein Stück nur von einem Soldaten, // Wär ich ein Mann doch mindestens nur / So würde der Himmel mir raten; // Nun muss ich sitzen so fein und klar / Gleich einem artigen Kinde, // Und darf nur heimlich lösen mein Haar / Und lassen es flattern im Winde!“
Ihre Lyrik gehört noch der Romantik, die Judenbuche aber schon dem Realismus an. „Nie zuvor wurde in deutscher Poesie unter Vermeidung der herkömmlichen, abgegriffenen ‚poetischen‘ Mittel sowie der melodischen Reize der Wortmusik, durch Heranziehung des Sprachschatzes des Alltags, der Mundart und der Wissenschaft mit größerer lyrischer Vollkommenheit Natur mit jeder ihrer Formen und Erscheinungen in Worte gefasst“, bilanziert Alker fast enthusiastisch. Ricarda Huch würdigt sie so: „Die Dichtung der Annette ist in Wahrheit eine VerDichtung: Aus tausend Blumenblättern ist ein Tropfen Wohlgeruch gepresst.“ Mit Schiller’schem Pathos nahm Droste gar Nietzsche vorweg:
„Mein Haupt nicht wagt‘ ich aus dem Hohl zu strecken/Um nicht zu schauen der Verödung Schrecken // Wie Neues quoll und Altes sich zersetzte / War ich der erste Mensch oder der letzte?“
Mit den Zeilen „Ich mag und will jetzt nicht berühmt werden, aber nach hundert Jahren möcht ich gelesen werden“, antizipierte sie gar ihre Rezeption. Ihre „Entdeckung” hat die Autorin dem Umstand zu verdanken, dass man sie im Kulturkampf der 1870er Jahre zur Galionsfigur stilisierte und sie kurzerhand, versehen mit den Attributen „katholisch” und „westfälisch”, zur „größten deutschen Dichterin” erklärte. Bis in die heutige Zeit wird sie nicht nur im Schulunterricht gelesen, sondern inspirierte ihr Leben und Werk auch zeitgenössische Autoren und besonders Autorinnen, darunter Gertrud von le Fort, Werner Bergengruen, Sarah Kirsch oder Karen Duve. Ein Brief von ihr an Sprickmann aus dem Jahr 1819 wurde von Walter Benjamin in die Briefsammlung „Deutsche Menschen“ aufgenommen. Die Vielschichtigkeit ihrer Persönlichkeit und ihres Werkes bietet Ansatzpunkte für psychologische und parapsychologische Interpretationen, aber auch für Fehldeutungen im Lichte zeitgenössischer Ideologien. Die Droste bleibt letztlich ein nie ganz ausschöpfbares geniales Dichterphänomen.