Der Allzweck-Intellektuelle
5. Januar 2022 von Thomas Hartung
„Ich hatte den Drang, einen Mönch zu vergiften“, beschrieb er in seiner typisch subtilen Ironie die „vage Idee“, die ihn 1978 antrieb, seinen Bestseller Der Name der Rose zu beginnen. Darin setzt er nicht nur seinem Vorbild Arthur Conan Doyle – der Held heißt William von Baskerville nach einer Sherlock-Holmes-Geschichte – ein Denkmal, sondern vor allen Jorge Luis Borges: Dessen magisch-realistische „Bibliothek zu Babel“ inspirierte ihn zu dem Roman; den Bösewicht ließ er Jorge von Burgos heißen. Das erste Jahr der Arbeit „verging mit dem Aufbau der Welt … ausgedehnte architektonische Studien…, um den Plan der Abtei festzulegen, die Entfernungen, ja selbst die Anzahl der Stufen einer Wendeltreppe.“ Der Roman verknüpfte Krimi, Historie, Schauerroman, philosophische und literarische Anspielungen sowie unzählige Zeichen und Rätsel – eine Vielschichtigkeit, die zusammen mit der Ich-Erzählung mittelalterlicher Gedanken- und Gefühlswelten Hunderte von Deutungsversuchen nach sich zog und zieht.
Den „klügsten Mittelalterroman der Welt“ erkennt Constanze Reuscher in der Welt. Der Vatikan verurteilte das Buch als ein „erzählerisches Ärgernis, das die Bedeutung des Glaubens entstellt, entweiht und beleidigt“ – „überambitioniert“ gestand der Autor später selbst. In 40 Sprachen übersetzt und mehr als 14 Millionen Mal verkauft, wurde die vor allem im Kloster Eberbach im Rheingau realisierte Verfilmung von Jean-Jacques Annaud ebenso erfolgreich: innerhalb der ersten 3 Wochen zog der Streifen allein in Deutschland 4 Millionen Zuschauer ins Kino. Die Besetzungsliste liest sich wie ein Who is Who der namhaftesten Schauspieler der 80er Jahre: Von Sean Connery über Christian Slater, Helmut Qualtinger oder F. Murray Abraham bis zu „Hellboy“ Ron Perlman. Wissenschaftliche Arbeiten befassen sich sogar mit dem Einsatz des Films im Geschichtsunterricht.
Als „Meister der Kolportage“ bleibt er in den vielen Zeit- und Handlungsebenen seiner Romane stets eng an unterschiedlichsten „Quellen, die er mit fiktionalen Mitteln zu spekulativen Erzählungen ausbaut“, so Arno Frank im Spiegel – egal ob es um Verschwörungstheorien geht, jüdische Zahlenmystik, Kaiser Barbarossa oder barocke Expeditionen in die Südsee. Befragt, was er vom damals extrem erfolgreichen Roman Sakrileg von Dan Brown halte, sagte er mit wegwerfender Geste, er kenne das Buch nicht; aber jede der darin beschriebenen Theorien. „Geben Sie mir fünfzig Euro, und ich schreibe Ihnen dieses Buch. Und zwar besser als Dan Brown.“ Dieses Selbstbewusstsein gehörte Umberto Eco, der am 5. Januar seinen 90. Geburtstag feierte.
„auf wundersame Weise vom Glauben geheilt“
Geboren als Sohn eines Buchhalters in Alessandria im Piemont, wird er sich über die Stadt und die Landschaft, den Charakter und die Grundstimmung der dort lebenden Menschen sowie den Alltag in den dreißiger und frühen vierziger Jahren unter Mussolini an mehreren Stellen seiner Werke direkt oder indirekt auslassen. Sein streng katholischer Vater legt ihm ein Studium der Rechtswissenschaften nahe. Da hat sich der Knirps aber längst mit Literatur angesteckt. Im Bücherkeller seines Großvaters verschlang er Jules Vernes, Charles Darwin, Marco Polo und Comic-Hefte. Ab 1948 studierte er in Turin Philosophie und Literatur und promovierte 1955 über Thomas von Aquin. Mit der Kirche hat er gebrochen: „Sie hält uns in Angst vor der natürlichsten Sache der Welt, dem Tod, und lehrt uns Hass auf die schönste Sache, die das Schicksal für uns bereithält, das Leben… Man kann sagen, dass er, Thomas von Aquin, mich auf wundersame Weise vom Glauben geheilt hat.“
Anschließend arbeitete er als Kulturredakteur für den Rundfunksender RAI und später als Sachbuchlektor für den Mailänder Verlag Bompiani, für den er bis 1975 tätig blieb und in dem seither fast alle seine Bücher erschienen sind. Von 1962 bis zu seinem Tod war Eco mit der gebürtigen Deutschen Renate Ramge verheiratet, einer in Frankfurt am Main geborenen Expertin für Museums- und Kunstdidaktik. Sie bekamen einen Sohn und eine Tochter. Mit dem 1962 erschienenen „Opera aperta“ (deutsch „Das offene Kunstwerk“, 1973) wurde er schlagartig als brillanter Kulturtheoretiker bekannt, der 1963 seine akademische Karriere als Dozent für Ästhetik und visuelle Kommunikation am Polytechnikum in Mailand begann, um sie über eine Zwischenstation an der Universität in Florenz schließlich 1975 an der Universität Bologna, der ältesten Universität Europas, zu beenden – auf dem ersten italienischen Lehrstuhl für Semiotik.
Sein schon 1968 (deutsch 1973) erschienenes Buch „Einführung in die Semiotik“ gilt bis heute auch international als Standardwerk. Zugleich war er im Umfeld des Gruppo 63 aktiv, einer der literarischen Bewegung der Neoavanguardia zugerechneten Gruppierung. Über seine wissenschaftliche Arbeit hinaus war Eco Mitarbeiter der UNESCO, der Triennale von Mailand, der EXPO 1967 in Montreal, der „Fondation Européenne de la Culture“ und zahlreicher weiterer Organisationen und Akademien. Eco hat in unterschiedlichen Disziplinen Forschung betrieben. Dazu zählten Fächer wie etwa die Geschichte der Ästhetik, der Poetik der Avantgarde, der Massenkommunikation oder die Kultur des Konsums. Seine Essays umfassten Gebiete von der Ästhetik des Mittelalters über die klassische Semiotik als Zeichenlehre bis hin zu Kodizes künstlerischer Kommunikation.
Nach seinem ersten Roman schrieb er seit 1985 regelmäßig – erst wöchentlich, ab 1998 vierzehntäglich – eine Kolumne in der Wochenzeitschrift L’Espresso unter dem Titel „La Bustina di Minerva“ (deutsch: „Streichholzbriefe“). Von diesen hunderten sprachgewitzten Kleinoden Eco’scher Weltbeobachtung sind mehrere Ausgaben auf Deutsch erschienen, am köstlichsten liest sich wohl „Wie man mit einem Lachs verreist“. 1988 erschien dann der Roman Das Foucaultsche Pendel, an dem er nach eigener Aussage acht Jahre schrieb und es fertig brachte, „die Leser der Leichtigkeit vor den Kopf zu stoßen und sie in dem Gewirr der Rätsel einfach alleinzulassen“, so Volker Weidermann im Spiegel. Der Titel bezieht sich auf den bekannten Pendel-Versuch, mit dem der französische Physiker Léon Foucault 1851 die Erdrotation laientauglich zur Schau stellte.
„Mischung aus Geheimlehre und Partywissen“
In postmoderner Manier verbindet Eco Motive des Abenteuer-, Historien- und Kriminalromans mit derart zahlreichen gelehrten Bezügen zu Geschichte, Verschwörungstheorien, Esoterik, Philosophie und Physik, dass Anthony Burgess vorschlug, das Buch solle als Enzyklopädie mit einem Register versehen werden. Der Roman wurde – wie auch die folgenden – in alle Weltsprachen übersetzt: Die Insel des vorigen Tages (1995), Baudolino (2001), Die geheimnisvolle Flamme der Königin Loana (2004), Der Friedhof in Prag (2011) und Nullnummer (2015).
Nachdem er sich schon im „Pendel“ ausführlich dem Thema Verschwörungstheorien gewidmet hat, schafft er im „Der Friedhof in Prag“ mit seinem fiktiven Ich-Erzähler Simon Simonini einen berufsmäßigen Fälscher, den er als Hauptautor der Protokolle der Weisen von Zion einführt. Er selbst ist unschwer in der Figur des Commendatore Vimercate in Nullnummer zu entdecken, einem satirischen Roman über die Wirkung von Korruption und Medien auf die moderne Gesellschaft. In einem Zeit-Interview sagte Eco: „Alle meine Bücher handeln von Büchern. Wäre ich Strauss-Kahn, meine Bücher handelten vom Sex. Wäre ich Berlusconi, sie handelten vom Geld.“
Einem breiteren Publikum ist der Name Umberto Eco daher vor allem durch diese literarischen Werke bekannt, in denen er bei aller Freude am farbigen Erzählen und an spannenden Plots ausgiebig von Zitaten und Montagetechniken Gebrauch macht, was zu ihrer Charakterisierung als den postmodernen Romanen schlechthin geführt hat. Er selbst stand dem Begriff der Postmoderne eher skeptisch gegenüber und zog es vor, von Intertextualität zu sprechen, d. h. von der inneren Verflechtung und Verwobenheit aller literarischen Texte miteinander. Zu seinem 80. Geburtstag stellte die Welt fest: „Mit ihrer Mischung aus Geheimlehre und Partywissen ebneten Ecos Romane eine Mystery-Straße, die mittlerweile von vielen Dan Browns erfolgreich, wenn auch weniger bildungsbeflissen befahren wird.“
Er war Mitgründer und -herausgeber der Internetzeitschrift Golem l’Indispensabile und verbrachte, obwohl er auch in Florenz und Rom arbeitet, doch den größten Teil seines Lebens mit seiner deutschen Frau in Mailand. „Aber seltsamerweise ist es mir nie gelungen, Mailand als „meine Stadt‘ zu empfinden“, sagte er 2015 in einem Interview mit der Süddeutschen. Erst nach Jahrzehnten habe er sich mit der Metropole ausgesöhnt und in ihr „eine späte Liebe“ gefunden. Ein wesentlicher Teil von Ecos literarischem Werk waren Schriften zur Theorie und Praxis der Zeichen, zur Massenkultur und zur Kunst („Die Geschichte der Schönheit“ und als Gegenstück „Die Geschichte der Hässlichkeit“). In einem 2008 im SZ-Magazin erschienenen Gespräch amüsierte sich Eco über den großen Erfolg der „Geschichte der Schönheit“: „Wir hätten auch ein Telefonbuch unter dem Titel verkaufen können, so sehr rissen sich selbst Verlage aus Osteuropa und Asien um die Rechte.“
Seit 1999 leitete er die Scuola Superiore di Studi Umanistici in Bologna. 2005 wurde Umberto Eco in dem englischen Magazin Prospect nach Noam Chomsky und vor Richard Dawkins zum zweitwichtigsten Intellektuellen weltweit gewählt. Fast drei Dutzend Universitäten rings um den Erdball machten ihn zum Ehrendoktor; außerdem bekam er Dutzende italienische und internationale Buchpreise, vom spanischen Prinz-von-Asturien-Preis über das Große Verdienstkreuz mit Stern der BRD bis zum American Academy Award of Arts and Letters. In Mainz wurde Eco 2014 mit dem Gutenberg-Preis geehrt. Das Kuratorium würdigte seine „brillanten kulturtheoretischen Überlegungen“ und bezeichnete den Norditaliener als „begnadeten Erzähler“, der Millionen von Lesern in Buchkultur und -geschichte eingeführt habe. Er blieb stets überzeugt davon, dass sich noch die dunkelsten Stunden leichter mit Humor durchstehen lassen, und sei es mit Galgenhumor.
„dass es in der Welt keine Ordnung gibt“
Eco avanciert zum „Rundum-Intellektuellen (Reuscher), ja „Allzweck-Intellektuellen, der sich auch für Phänomene des Alltags nicht zu fein ist“, meint Frank. Mit den Werkzeugen der Semiotik zerlegt er alles in unterhaltsame Einzelteile, von Pornodarstellern bis zu Plastikbesteck. Mickey Mouse könne perfekt sein „wie ein japanisches Haiku“, und die unterschiedlichen Betriebssysteme von Apple und Microsoft vergleicht er mit Katholizismus und Protestantismus. Fremd bleiben ihm nur Sport, Kochen, Mathematik, Botanik sowie „alles, was an Unterhaltungsmusik nach den Beatles kam“.
Als Bürger und politischer Autor war Eco ein aktiver und vehementer Gegner von Silvio Berlusconi. In zahlreichen Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln hat er dessen Politik scharf kritisiert. Noch kurz vor der Wahl im April 2006, die Berlusconi dann knapp verlor, veröffentlichte Eco seine gesammelten politischen Schriften nochmals in Buchform unter dem Titel Im Krebsgang voran: Heiße Kriege und medialer Populismus. Er zog sich im Oktober 2007 aus der aktiven Lehrtätigkeit zurück und war ab 2008 Professor emeritus, blieb aber politisch „links“: Ohne Utopie, sagt Eco, kann die Menschheit nicht auskommen. Freilich ist die Utopie, da ist er sicher, nur so lange attraktiv, wie sie nicht verwirklicht wird. „Als Lenin die Marx’sche Utopie realisieren wollte, wurde es furchtbar.“ Die Utopie, sagt Eco, „ist kein fixes Ziel, sondern immer ein Horizont in Bewegung“.
Vor dem Aufflammen neuer Religionskriege in einer intoleranten Welt warnte Eco schon 2001 in weiser, aber machtloser Voraussicht. Das „leidenschaftliche Festhalten an vereinfachenden Gegensätzen, wie etwa wir und die anderen, Gut und Böse, Weiß und Schwarz“ seien immer deren Wurzeln gewesen. „Wir begreifen uns als pluralistische Gemeinschaft, weil wir es zulassen, dass bei uns Moscheen gebaut werden, und wir nicht darauf verzichten können, nur weil sie in Kabul die christlichen Propagandisten ins Gefängnis werfen. Wenn wir es doch täten, würden auch wir zu Taliban werden.“ Donnerwetter.
Unter den italienischen Schriftstellern galt Eco immer der beste Wissenschaftler, unter den Wissenschaftlern wiederum war er der beste Schriftsteller. Er war durchaus ein Genussmensch, liebte Zigarillos und Whisky und litt dementsprechend, wenn die Ärzte Verbote aussprachen. Auch dass er im Alter zu kurzatmig war, um seine Barockflöten zu spielen, von denen er eine prächtige Sammlung besaß, bekümmerte ihn. Selten hat ein Intellektueller „seine eigene Intellektualität so souverän als freundliche Einladung an alle, mitzudenken oder zu widersprechen, begriffen, als eine Haltung, die sich dem Publikum ganz grundsätzlich zuwandte, ohne den geistigen Anspruch aufzugeben“, feierte ihn Claudius Seidl in der FAZ.
Insgesamt besaß er 50.000 Bücher, organisierte regelmäßig Bücherverschenkungsaktionen für Studenten, die er „Take a book and run“ nannte. Nachdem er am 19. Februar 2016 in Mailand an den Folgen einer Krebserkrankung starb, wurde seine Bibliothek vom Kulturministerium aufgekauft. Sie soll mit der Rekonstruktion seines Arbeitszimmers an der Universität Bologna einen eigenen Neubau erhalten. Heute sind Universalgelehrte wie er eine aussterbende Spezies. „Ich hätte wissen müssen, dass es in der Welt keine Ordnung gibt“, lässt er Bruder William sagen, nachdem seine Suche nach der Aufklärung der Klostermorde in einer Feuerkatastrophe endet.
Für den Wissenschaftler bilanziert Michael Braun in der taz: „Er versteckte sein Wissen nie – doch er setzte es auch nie ein, um sich zu erheben über seine Leser; stattdessen ließ er sie, tatsächlich ohne jeden Anflug von Snobismus, einfach teilhaben an seiner unendlichen Neugier.“ Den Romancier dagegen kann man kaum knapper und treffender würdigen als Christopher Schmidt in der Süddeutschen, für den er „das Individuelle und das Allgemeine in ein anderes Verhältnis setzte und die Historie als Echoraum des Nachdenkens über die Gegenwart rehabilitiert“ hatte. „Der Mann, der alles wusste“, ruft Eco online La Repubblica emphatisch hinterher – und kaum jemand würde dieses Diktum zu einer Übertreibung erklären.