„als Theoretiker ziemlich schwach“
3. Februar 2022 von Thomas Hartung
„Ja, er hat viele politische Fehler gemacht. Seine Ideen, seine wirtschaftlichen Ideen waren richtig, aber er konnte diese Ideen den Menschen in Deutschland nicht beibringen oder, sollen wir mal sagen, nicht verkaufen. Die Unterstützung für die soziale Marktwirtschaft war eher schwach und fußte nur auf dem Wohlstand, den sie den Menschen gebracht hatte, nicht auf einem tieferen Verständnis ihrer Grundsätze.“ Diese Einschätzung seines Biographen Alfred C. Mierzejewski im DLF wurde von Ex-Linken-Vize Sara Wagenknecht 2013 instrumentalisiert: Er wäre bei uns mit seinen Ansprüchen am besten aufgehoben, schrieb sie in „Freiheit statt Kapitalismus“, und Leute wie er hätten „vor genau jener Fehlentwicklung gewarnt, deren Konsequenzen wir heute erleben“: Ludwig Erhard, dessen 125. Geburtstag sich am 4. Februar jährt.
Der Sohn eines Einzelhandelskaufmanns wuchs mit drei Geschwistern auf, durchlitt mit zwei Jahren eine Kinderlähmung, die ihm einen deformierten Fuß bescherte, und begann nach dem Besuch der Realschule in Fürth 1913 eine kaufmännische Lehre. Im Ersten Weltkrieg Artillerist, wurde er 1918 bei Ypern durch eine Handgranate schwer verwundet und genas erst nach sieben Operationen. Dies habe er laut Biographen körperlich, aber nicht seelisch verarbeitet. Nach dem Krieg nahm er ein Studium an der Handelshochschule in Nürnberg auf, das er 1923 mit dem Diplom beendete. Im selben Jahr heiratete er die verwitwete Volkswirtin Luise Schuster, die aus erster Ehe eine Tochter hatte. Beide bekamen eine weitere Tochter. Er schrieb er sich an der Universität Frankfurt für Betriebswirtschaftslehre, Nationalökonomie und Soziologie ein und promovierte im Jahr darauf mit einem währungspolitischen Thema.
Von 1925 bis 1928 arbeitete Erhard als Geschäftsführer im elterlichen Betrieb – der allerdings in Konkurs ging. Danach wurde er Assistent beim Institut für Wirtschaftsbeobachtung der deutschen Fertigware an der Handelshochschule in Nürnberg und wirkte als ökonomisch-politischer Publizist. Er schrieb gelegentlich in der linksliberalen Wochenschrift Das Tage-Buch gegen die wirtschaftspolitischen Vorstellungen des späteren Reichsbankpräsidenten Hjalmar Schacht an und forderte in einem Aufsatz die Regierung auf, den Missbrauch durch Kartelle und Monopole, insbesondere der Investitionsgüterindustrie, zu unterbinden; statt dessen sollte die Verbrauchsgüterproduktion gefördert werden. Im Gegensatz zum damals vorherrschenden Protektionismus trat er für eine Wettbewerbswirtschaft und freie Marktpreisbildung ein. Seit 1930 war das Zigarrenrauchen Erhards Markenzeichen – er soll immer Zigarren vom Witzenhäuser Hersteller Leopold Engelhardt geraucht haben, weshalb ihm die Stadt ein Denkmal spendierte.
Kriegsniederlage vorausgesehen
Die Arbeit am Institut, aus dem sowohl die Nürnberger Akademie für Absatzwirtschaft (NAA) und die Gesellschaft für Konsumforschung (GfK e. V.) entstanden, verlieh Erhard den Ruf eines Wirtschaftsspezialisten. Dazu trug auch bei, dass er bis 1940 die „Wirtschaftspolitischen Blätter der deutschen Fertigindustrie“ redigierte. Im Auftrag der deutschen Zivilverwaltung betreut Erhard von 1940 bis 1945 die lothringische Glasindustrie. Nach einem Konflikt mit der Institutsleitung verließ er 1942 die Einrichtung, um sein eigenes Forschungsinstitut zu gründen. Hier tat er sich 1944 mit einer wirtschaftspolitischen Denkschrift zur Neuordnung Deutschlands nach der Kriegsniederlage hervor, die Erhard voraussah und die damals als Hochverrat gewertet werden konnte.
Die Denkschrift, die er kurz vor dem 20. Juli auch an Carl Goerdeler gesandt hatte, bescherte ihm nach Kriegsende die Ernennung zum Wirtschaftsberater der amerikanischen Militärbehörden in Nürnberg. Erhard war nun für den wirtschaftlichen Wiederaufbau in Franken verantwortlich und wurde noch im Herbst 1945 als Staatsminister für Handel und Gewerbe in die bayerische Landesregierung aufgenommen. 1947 schien ihm eine Honorarprofessur an der Universität München endlich die wissenschaftliche Karriere zu eröffnen, doch folgte er dem Ruf der amerikanischen Besatzungsmacht in die Zweizonenverwaltung für Wirtschaft in Frankfurt. Hier leitete er die Vorbereitung der westdeutschen Währungsreform und stieg im März 1948 zum Leiter der Zweizonenverwaltung für Wirtschaft auf. Die Währungsreform mit der Einführung der D-Mark löste einen überraschenden Wirtschaftsaufstieg aus.
1949 zog er für die die CDU erstmals ins neue westdeutsche Parlament ein und stand bis 1963 als wiederholter Bundeswirtschaftsminister unter Kanzler Adenauer für die wirtschaftspolitische Kontinuität und den wirtschaftlichen Aufstieg der Bundesrepublik zur führenden Industrienation. Erhard glaubte fest an den freien Markt und unterstützte staatliches Handeln im Einklang mit dem Markt, um sozialwünschenswerte Ziele zu erreichen: „Die Schwierigkeit lag, wie er wohl wusste, in der Definition dessen, was sozial wünschenswert ist“, erkennt Mierzejewski. „Ludwig Erhard könnte man als Lehrer ansehen. Er wollte die deutsche Bevölkerung über diese Ideen von Freiheit und eine freie Marktwirtschaft informieren und hoffentlich überzeugen. Aber als Theoretiker war er eigentlich ziemlich schwach.“
In seinem populären Buch „Wohlstand für Alle“ (1957) legte Erhard seine Vorstellungen allgemeinverständlich dar. Er trat für die Liberalisierung des Außenhandels und für die Konvertierbarkeit internationaler Währungen ein, was ihm auch in den eigenen Reihen den Ruf eines Dogmatikers einbrachte. Obwohl 1957 noch unter der dritten Regierung Adenauers zum Vizekanzler nominiert, gestaltete sich das Verhältnis zu ihm politisch schwierig und menschlich spannungsreich. „Er mochte Erhards lässige Kleidung nicht und missbilligte den Zigarrenrauch, mit dem sich Erhard gern einnebelte, ebenso wie die Zigarrenasche, die sich auf seinem Revers ansammelte“, so Mierzejewski. „Erhards Alkoholkonsum betrachtete er als moralischen Affront. Und schließlich war ihm Erhards Hang zum Selbstmitleid unerträglich.“
Adenauers Hauptvorwürfe waren häufige Abwesenheit, mangelnde Kontrolle des Ministeriums und unbedachte Reden. Seine Anhänger wurden scherzhaft „Brigade Erhard“ genannt – nach einer Marineeinheit aus dem Kapp-Putsch von 1920. Einer der Höhepunkte der Differenzen zeigte sich bei der Rentenreform 1957, die Adenauer mit seiner Richtlinienkompetenz als Kanzler durchsetzte. Das seitdem bestehende Umlageverfahren („Generationenvertrag“) lehnte Erhard als nicht zukunftsfähig ab. Adenauer setzte sich jedoch mit dem bekannten Ausspruch „Kinder kriegen die Leute sowieso“ über diese Bedenken hinweg. Weitreichende Entscheidungen aus seiner Zeit als Wirtschaftsminister waren die Neuordnung des Kartellrechts mit dem Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen von 1957, das Bundesbankgesetz aus dem gleichen Jahr sowie die Privatisierung von Unternehmen, die sich bis dahin noch im Staatsbesitz befanden wie die Preussag AG 1959 oder die Volkswagen AG 1960, wobei die Anteile jedes Mal als Volksaktien erworben werden konnten.
„kein Abschied von der Politik“
Seit dem Bundestagswahlkampf von 1961 zum voraussichtlichen Kanzler-Nachfolger gekürt, wurde Ludwig Erhard nach dem Rückzug Konrad Adenauers am 16. Oktober 1963 zum neuen Bundeskanzler gewählt. 1964 ließ er im Park des Palais Schaumburg den Kanzlerbungalow als Wohn- und Empfangsgebäude des Bundeskanzlers erbauen. Als Atlantiker, der den Beziehungen zu den USA gegenüber denen zu Frankreich Vorrang gab, warf man ihm aus den Reihen der CDU vor, er sei für eine Abkühlung der deutsch-französischen Beziehungen verantwortlich. Erhard veranlasste – ohne formelle Kabinettsentscheidung – die Aufnahme von Verhandlungen zur Herstellung diplomatischer Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Israel, die im Mai 1965 abgeschlossen wurden; es war die einzige Richtlinienentscheidung seiner Amtszeit. Nach dem Botschafteraustausch brachen zahlreiche Nahost-Staaten die Beziehungen zur Bundesrepublik ab.
Um seinem rasanten Autoritätsverlust entgegenzuwirken, lässt er sich 1966 zum CDU-Vorsitzenden wählen – umsonst. Das Devisenausgleichsabkommen, mit dem die Kosten für die Stationierung der US-Truppen auf deutschem Boden ausgeglichen werden sollten, brach ihm das politische Genick. Während in den ersten beiden Adenauer-Abkommen die Erfüllung der Forderungen unter deutschem Haushaltsvorbehalt standen, verpflichtete sich Erhard zur vorbehaltlosen Zahlung. Als Deutschland die nicht termingerecht abwickeln konnte, versuchte Erhard in Washington bei US-Präsident Lyndon B. Johnson Zugeständnisse zu erreichen; die Reise wurde ein völliger Fehlschlag. Daraufhin trat der Minister für Wirtschaftliche Zusammenarbeit Walter Scheel (FDP) zurück, die übrigen FDP-Minister schlossen sich an. Am 1. Dezember 1966 tritt Erhard als Bundeskanzler zurück.
„Der Kanzlerwechsel ist für mich kein Abschied von der Politik. Sie werden mir auch in Zukunft aktiv im politischen Leben dieses Staates begegnen“, sagte er zum Abschied. Sein Nachfolger wird Kurt Georg Kiesinger mit einer Regierung der Großen Koalition. Die CDU nahm ihm übel, dass er ein Kanzler ohne Fortüne geblieben war. Seine Glücklosigkeit hatte sich sowohl in der Außen- wie in der Wirtschaftspolitik gezeigt. Mit dieser fand der Wirtschaftsfachmann Erhard kein Rezept gegen die Rezession und den damit verbundenen Anstieg der Arbeitslosigkeit. Erhards politische Aktivität spielte sich noch elf Jahre hauptsächlich auf den Hinterbänken des Bundestages ab. Zweimal durfte er die Legislatur als Alterspräsident eröffnen.
Bei zahlreichen Gelegenheiten äußerte er sich weiter zu wirtschaftspolitischen Fragen und tat sich in der Öffentlichkeit als Gralshüter der sozialen Marktwirtschaft hervor. Erhard genoss die Ehrenbürgerschaft von Tokio, Lima, Houston, Bonn und Ulm und besaß zahlreiche in- und ausländische Ehrenpromotionen. 1967 gründete er die Ludwig-Erhard-Stiftung, die seine wirtschaftswissenschaftlichen und Wirtschaftsordnungs-Vorstellungen wissenschaftlich und publizistisch weiter pflegen sollte. Ludwig Erhard starb am 5. Mai 1977 in Bonn und wurde nach einem Staatsakt auf dem Bergfriedhof in Gmund am Tegernsee beigesetzt. In vielen deutschen Städten sind Straßen, Wege, Plätze oder Brücken nach ihm benannt.
Erfinder des Exportweltmeisters
In den Nachrufen wird als sein Verdienst gewürdigt, sich Deutschlands hoch entwickelter Ökonomie in den Fünfzigerjahren bedient und diese weltweit erfolgreich gemacht zu haben. Nach Albrecht Ritschl bestehe die große Leistung von Erhard „weniger darin, Reformen gestaltet zu haben – sondern darin, falsche Entscheidungen verhindert zu haben.“ Seine Zeit als Bundeskanzler wird jedoch oft als „glücklos“ gesehen, sein politisches Scheitern nicht zuletzt darauf zurückgeführt, dass ihm als „Quereinsteiger“ in die Politik Durchsetzungsfähigkeit fehlte und sein kollegialer Stil als Führungsschwäche ausgelegt wurde. „Erhard war ein Antipolitiker, der sich der Folgen, die sich aus seinen eigenen Anschauungen ergaben, nie ganz bewusst war. Er weigerte sich, dass politische Ränkespiel mitzuspielen, war aber nicht konsequent genug, ihm ein Ende zu setzen“, befindet Mierzejewski.
„Erhard hat schon in den frühen Fünfzigerjahren erkannt, dass die deutsche Wirtschaft mit ihrer führenden Stellung bei Investitionsgütern nicht nur den europäischen, sondern den Weltmarkt im Blick haben muss“, würdigt ihn der Wirtschaftshistoriker Werner Abelshauser im Spiegel. „Daraus hat er die Strategie entwickelt, mit gezielter Unterstützung der Wirtschaftsverbände auch weit entfernte Märkte in Asien oder Lateinamerika zu erobern. Mit dem Ergebnis, dass die deutsche Wirtschaft heute 50 Prozent ihrer Exporte außerhalb der EU absetzt.“ Daher sei er weniger der Vater des Wirtschaftswunders als vielmehr der Erfinder des Exportweltmeisters. Er wollte aus Europa eine Freihandelszone machen und stand der wirtschaftlichen Integration Europas lange skeptisch gegenüber.
Wie eine Bombe schlug 2007 ein Stern-Interview mit Horst Friedrich Wünsche ein, Geschäftsführer der Erhard-Stiftung: „Er war nie Mitglied der CDU.“ Günter Buchstab, der Leiter des wissenschaftlichen Dienstes der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung, die das Parteiarchiv verwaltet, bestätigte: „Die Mitgliedschaft lässt sich aktenmäßig nicht nachvollziehen“, seines Wissens habe Erhard an die CDU auch „keine Beiträge gezahlt“ – obwohl er 28 Jahre für die Christdemokraten im Bundestag saß und bis zu seinem Tod 1977 gar Ehrenvorsitzender war. In Personenarchiven und deutschen Medien fand hatte die Version Aufnahme, Erhard sei anlässlich seiner Wahl zum CDU-Vorsitzenden am 23. März 1966 in die CDU eingetreten, wobei der offizielle Beitritt um drei Jahre auf 1963 rückdatiert worden sei. Das wurde nun dementiert. Erhard wäre damit formaljuristisch nie CDU-Vorsitzender gewesen und hätte auf keinem Parteitag an Abstimmungen teilnehmen dürfen. Ein Parteivorsitzender ohne gültige Mitgliedschaft – ein Kuriosum in der deutschen Parteiengeschichte.