„Er verdient seinen Platz in der Weltliteratur“
4. Februar 2022 von Thomas Hartung
„Er ist Ehemann, Vater und Vorstand eines Kleinbetriebs mit der Verantwortung für Familie und Angestellte. Daneben kämpft er auf Tausenden von Seiten mit den Gestalten seiner Phantasie, erfindet deren Lebenswege und spielt für sie Schicksal. Eine weitere Sphäre und ebenso abgeschlossen vom ‚wirklichen Leben‘ ist die Welt der Sanatorien, Kuranstalten und Nervenkliniken, die er in immer kürzeren Abständen aufsuchen muss.“ So beschreibt der Germanist Peter Walther die an Gegensätzen reichen Lebenssphären jenes Autors der „Neuen Sachlichkeit“, der am 5. Februar vor 75 Jahren starb: Rudolf Ditzen, der sich später Hans Fallada nannte.
Geboren wird er am 21. Juli 1893 als Sohn eines Reichsgerichtsrats in Greifswald. 1899 zog die Familie mit vier Kindern nach Berlin, zehn Jahre später nach Leipzig. Doch trotz harmonisch und gesichert anmutender Familienverhältnisse entwickelte sich der kleine Rudolf zu einem Knaben, der sich von Konflikten, Krankheiten und Katastrophen verfolgt sah. Neben der unsteten Kindheit litt er unter dem Verhältnis zum Vater, der für seinen Sohn eine Juristenlaufbahn vorgesehen hatte. Für seine frühen Jahre zeichnet sich ein Muster ab, in dem sich Rudolf und die Familie einzurichten versuchen: „Ich bin ein tüchtiger Pechvogel gewesen, der jede Treppe hinunterfiel, sich Mühlsteine auf die Finger warf, unter galoppierende Pferde sich legte, immer auf der Schule erwischt wurde, wenn er mal mogelte.“
Er galt an allen Schulen als Außenseiter und zog sich immer mehr in sich selbst zurück – trotz des Versuchs, sein Pechvogel-Muster herumzudrehen und daraus das Signum einer besonderen, gegen alle Welt kritischen Außenseiterhaltung zu machen. 1911 wird er mehrfach in Sanatorien eingewiesen – er schrieb „Satanorien“. Mit seinem Freund Hanns Dietrich von Necker beschloss er am 17. Oktober, einen als Duell getarnten Doppelsuizid zu vollziehen. Bei dem Schusswechsel starb von Necker, während Ditzen schwer verletzt überlebte. Er wurde wegen Totschlags angeklagt und landete in der der psychiatrischen Klinik Tannenfeld. Wegen Schuldunfähigkeit wurde die Anklage fallengelassen. Ditzen verließ das Gymnasium ohne Abschluss.
Nach der Entlassung arbeitet er ab 1913 in der Landwirtschaft, meldet sich 1914 als Kriegsfreiwilliger, wird aber wegen seiner Alkohol- und Morphiumsucht für untauglich befunden. Bis 1919 kommt er immer wieder in Entzugskliniken, vor allem nach Posterstein/Thüringen, eine dauerhafte Heilung erreicht er aber nicht. Er beginnt zu schreiben, 1920 veröffentlicht er den expressionistisch beeinflussten Debütroman „Der junge Goedeschal“, drei Jahre später „Anton und Gerda“ – beide im Rowohlt-Verlag, dem er bis 1945 verbunden bleibt. Seit dem Goedeschal nannte er sich Hans Fallada in Anlehnung an zwei Märchen der Brüder Grimm: Der Vorname bezieht sich auf den Protagonisten von „Hans im Glück“ und der Nachname auf das sprechende Pferd Falada aus „Die Gänsemagd“ – der abgeschlagene Kopf des Pferdes verkündet so lange die Wahrheit, bis die betrogene Prinzessin zu ihrem Recht kommt.
im Einklang mit den eigenen Defekten
Da Fallada in Posterstein eine landwirtschaftliche Lehre absolviert hatte, konnte er sich in Berlin mit Gelegenheitstätigkeiten über Wasser halten: Vor allem als Gutsverwalter, aber auch als wissenschaftlicher Hilfsarbeiter der Landwirtschaftskammer Stettin und später als Angestellter einer Kartoffelanbaugesellschaft. Zur Finanzierung seines Morphin- und Alkoholkonsums beging er Unterschlagungen, die 1923 zu einer dreimonatigen Haftstrafe führten. Es folgte 1926 eine zweieinhalbjährige Haftstrafe wegen Betrugs. Nach seiner zweiten Haftentlassung 1928 lernte er in Hamburg Anna kennen, von ihm Suse genannt – das Vorbild für seine Romanfigur Lämmchen. Nach der Heirat 1929 bekommen sie zwei Söhne und zwei Töchter – eine davon starb als Baby, mit 17 die andere. Fallada arbeitete zunächst als Anzeigenwerber und Reporter für den General-Anzeiger und war vorübergehend Mitglied der Guttempler und der SPD.
Ab 1930 – inzwischen ist er Lektor im Rowohlt-Verlag – hat er mit seinen Texten zunehmend Erfolg. Sein erster großer Roman „Bauern, Bonzen und Bomben“ (1931) zeigt eine Kleinstadt während der Bauernunruhen Ende der zwanziger Jahre. Er beruht auf Falladas Erfahrungen als Gerichtsreporter beim „Landvolk-Prozess“ 1929. In ihm zeichnet er ein realistisches Bild der Zustände und der Unzufriedenheit der Bevölkerung. Fallada wendet sich vermehrt sozialkritischen Themen zu, bemüht sich um die Darstellung der Realität, beinahe im Stile einer dokumentarischen Literatur. Das bevorzugte Milieu seiner Romane wird das Kleinbürgertum, das unter den Auswirkungen der Wirtschaftskrise zu leiden hat. Durch die einfache, leicht verständliche Sprache seiner Werke wird Fallada nicht nur zum Autor über, sondern besonders für diese Gesellschaftsschicht.
Der Roman „Kleiner Mann, was nun“ bringt Fallada 1932 Weltruhm ein; er kommt auf 45 Auflagen und 20 Auslandsausgaben. Er schildert das Leben eines kleinen Angestellten, der unter der Weltwirtschaftskrise leidet und statt des erhofften sozialen Aufstiegs den Abstieg in Arbeitslosigkeit und Armut erlebt. Ab 1933 bewirtschaftet er sein eigenes Gut in Carwitz (Mecklenburg), das er nach dem Erfolg seines letzten Buchs erworben hat – Biographen meinen, es seien die schönsten Jahre seines Lebens gewesen. Fallada galt als fanatischer Schreiber, erfüllte pedantisch sein Tagespensum, bevor er Zeit für Frau Anna und die drei Kinder erübrigte. Dann aber erwies er sich als rühriger Vater, der seine Bücher auch für den eigenen Nachwuchs schrieb. „Wir schenken ihnen eine Kindheit, deren Glück man aus ihren Augen abliest“, sagte er. „Hoppelpoppel wo bist du“ oder die „Geschichten aus der Murkelei“ wurden bis ins 21. Jahrhundert verlegt.
1934 schildert er in dem Roman „Wer einmal aus dem Blechnapf frisst“ das Schicksal eines ehemaligen Strafgefangenen, der vergeblich versucht, in ein „normales“ Leben zurückzufinden. Das Werk wird von der nationalsozialistischen Kritik abgelehnt. Nahezu die gesamte Spanne von Falladas Schriftstellerleben fiel mit dem Dritten Reich zusammen. Das hatte Konsequenzen für seinen Ruf, seine Arbeit, seine Entwicklung. Von den nationalsozialistischen Machthabern wurden seine Bücher unterschiedlich beurteilt. Joseph Goebbels und seine Reichsschrifttumskammer waren von Fallada sehr angetan. Sein Buch „Wolf unter Wölfen“, als Kritik an der Weimarer Republik interpretiert, wurde positiv beurteilt und von Goebbels ausdrücklich gelobt. Alfred Rosenberg dagegen und das ihm unterstellte Amt Rosenberg sahen Fallada sehr kritisch; er ließ das Buch verbieten.
Zu den überraschendsten Folgen gehörte, dass Falladas Autorenfleiß, der zwischen 1933 und 1944 zwanzig Romane hervorbrachte, darunter ebenso wenig litt wie sein finanzieller Erfolg: Seine jährlichen Einnahmen aus Buch- und Zeitungsveröffentlichungen, Film- und Aufführungsrechten haben sich von 1941 bis 1943 auf hohem Niveau zwischen 61.000 und knapp 75.000 RM eingepegelt. Dabei wurde ihm die permanente Grenzüberschreitung zwischen bürgerlicher Sphäre und den Anstalten für psychisch Kranke oder Gesetzesbrecher scheinbar zur Selbstverständlichkeit. Später ging Fallada, wann immer es geboten erschien, in Nervenheilanstalten oder Entzugskliniken wie andere ins Hotel. Das war seine Art, sich im Einklang mit den eigenen Defekten durchs Leben zu bewegen.
„etwas Erfreuliches schreiben“
Fallada verzichtet auf eine klare politische Stellungnahme. Es erscheinen „neutral“ gehaltene Werke wie „Das Märchen vom Stadtschreiber, der einmal aufs Land flog“, „Wir hatten mal ein Kind“, „Kleiner Mann, großer Mann – alles vertauscht“, „Der ungeliebte Mann“ sowie seine Autobiographie „Damals bei uns daheim“. Neben „Wolf unter Wölfen“ veröffentlichte er mit „Der eiserne Gustav“ eine weitere zeitkritische Milieustudie, die er auf Geheiß des Propagandaministeriums 1938 sogar umschreibt. Für gewisse Kompromisse war er zu haben, zum platten Gesinnungsknecht eignete er sich dagegen nicht. Dem Verlangen von Goebbels nach einem antisemitischen Roman zur Kutisker-Affäre mochte er nicht nachkommen.
Ebenfalls 1938 lernte er die 18-jährige Marianne kennen, später unter dem Namen Wintersteiner Autorin mehrerer Frauenbiographien. Es entstand eine tiefe, aber platonische Liebesbeziehung, die fast bis zu seinem Tod anhielt. Zu ihrem 19. Geburtstag schenkte Fallada ihr das Manuskript „Pechvogel und Glückskind“. Seine Ehe dagegen scheitert: Nach seiner Rückkehr als „Sonderführer des Reichsarbeitsdiensts“ in Frankreich ließ sich das Paar 1944 scheiden. Bei einem Besuch, um einige Habseligkeiten abzuholen, brach ein Streit zwischen ihm und Anna aus, schließlich zog Fallada eine Taschenpistole, die Kugel traf einen Tisch. Das Gericht wies Fallada nach einem Verfahren wegen versuchten Totschlags zur Beobachtung in die Landesanstalt Neustrelitz ein.
Hier entstand das Manuskript zum „Trinker“ – erst 1950 wird der Roman veröffentlicht. Er konnte nicht ahnen, dass der Titel ein Menetekel war. Kurzzeitig Bürgermeister in Feldberg, übersiedelte er auf Wunsch des späteren DDR-Kulturministers Johannes R. Bechers nach Berlin, schreibt für die Tägliche Rundschau und heiratet die ebenfalls alkoholabhängige Ursula Boltzenthal. Seine letzten Lebensjahre verbringt Fallada häufig schwer krank in Berliner Krankenhäusern, darunter der Charite. 1946 schreibt er hier innerhalb von nur dreieinhalb Wochen „Jeder stirbt für sich allein“. Lange Zeit war es ruhig um die Geschichte eines Berliner Ehepaars, das den Nationalsozialisten Widerstand leistete, nachdem ihr Sohn im Frankreichfeldzug gefallen war.
Das Buch beruht auf einer wahren Begebenheit. Ab 1940 legten Otto und Elise Hampel in Berlin zwei Jahre lang rund 200 Karten in ungelenkem Deutsch mit Forderungen wie „Deutsche Männer und Frauen Wir müssen an uns selbst glauben! Nicht dem Schurken Hitler“ in Treppenhäusern, Telefonzellen und U-Bahnhöfen aus. Beide werden verhaftet, in Verhören gegeneinander ausgespielt und verurteilt – er wird hingerichtet, sie kommt kurz vor Kriegsende im Gefängnis bei einem Bombenangriff ums Leben. Becher gab Fallada die Gestapo-Akte des Falls. Seine Bitte, daraus einen Roman zu schreiben, lehnte der Schriftsteller zunächst ab, weil er lieber über „etwas Erfreuliches schreiben möchte“ und nicht „mit mahnendem Zeigefinger erinnern“. Doch Becher hat gute Argumente: Er sorgt für eine Wohnung, Lebensmittel und Morphium, ohne das Fallada zu jener Zeit nicht mehr leben konnte – der Autor hatte 30.000 Mark Steuerschulden, dazu kam eine ausstehende Geldstrafe von 10.000 Mark und mehrere tausend Mark Zechschulden.
In einem rauschhaften Zustand tippte er 36 Schreibmaschinenseiten pro Tag. Ergebnis: ein Meisterwerk, das 60 Jahre fast vergessen war. Seit 2009 ist das anders: Übersetzt in über 30 Sprachen, darunter Hebräisch und Norwegisch, hat es eine späte Karriere hingelegt. Der Roman gilt als das erste Buch eines deutschen nicht-emigrierten Schriftstellers über den Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Unter dem Titel „Alone In Berlin“ wurde es in Großbritannien zum Bestseller, 300.000 Exemplare sind verkauft. In den USA, dort heißt das Buch „Every Man Dies Alone“, sind es 200.000 Stück – bemerkenswert in einem Land, dessen Leser sich für europäische Literatur kaum interessieren. Insgesamt sind 18 Neuübersetzungen in Arbeit oder bereits veröffentlicht. Dennis Johnson, bei Melville House Falladas amerikanischer Verleger, kann nicht verstehen, dass die englischsprachige Welt den Autor 60 Jahre lang kaum wahrgenommen habe: „Er verdient seinen Platz in der Weltliteratur.“
„wenn ich hätte tanzen können“
Fallada sollte die Veröffentlichung seines letzten Romans nicht mehr erleben. Im Dezember 1946 wurde er in die Berliner Charité zwangseingewiesen. Ein Professor führte den Patienten im Rollstuhl seinen Medizinstudenten vor: „Das, meine Herren, wie Sie sehen, ist der Ihnen allen bekannte Schriftsteller Hans Fallada, oder vielmehr das, was die Sucht nach dem Rauschgift aus ihm gemacht hat: Ein Appendix.“ Fallada erlitt in der Folge dieser Demütigung einen Schwächeanfall. Es gelang seiner Frau noch, ihn in ein anderes Krankenhaus verlegen zu lassen, wo er dann an Herzversagen starb – als „hochbegabter Selbstzerstörer“, so Thomas Hüetlin im Spiegel.
Fallada schrieb mit leidenschaftlicher Hingabe und konnte in erstaunlich kurzer Zeit riesige Textmengen produzieren. Im Hinblick auf seine erzählerischen Impulse bezeichnete er sich einmal als „Menschensammler“, das heißt seine Figuren, ihre Beweggründe und Geschichten waren für ihn wichtiger als alle hehren Ziele. Das Schreiben sei bei ihm Teil seiner Triebstruktur, befindet Walther: „Die Gestalten seiner Phantasie drängen darauf, in die Welt entlassen zu werden; sich von ihnen zu entlasten ist ein notwendiges Ereignis, keines, das nach Sinn oder Unsinn, Zweckhaftigkeit oder Zwecklosigkeit fragt.“ Er erkannte Anzeichen dafür, dass das Schreiben bei Fallada ebenfalls Suchtcharakter hatte. Schreibräuschen konnte er sich sogar dort hingeben, wo andere verstummt wären, in Heilanstalten, Entzugskliniken oder Gefängnissen. Wenn er mit einem Text durch war, litt er wie unter Entzugserscheinungen.
Etliche seiner Werke sind verfilmt worden, so 1933 „Kleiner Mann was nun?“ mit Victor de Kowa, 1958 „Der eiserne Gustav“ mit Heinz Rühmann, 1964 „Wolf unter Wölfen“ mit Armin Mueller-Stahl, 1975 „Jeder stirbt für sich allein“ mit Hildegard Knef und, vielbeachtet und hochgelobt, 1995 „Der Trinker“ mit Harald Juhnke. Auch auf deutschen Bühnen kehrt Fallada zurück. In Erinnerung an den Schriftsteller vergibt die Stadt Neumünster seit 1981 den Hans-Fallada-Preis. Jedes Jahr um seinen Geburtstag herum erinnert die Hans-Fallada-Gesellschaft an seinem einstigen Wohnort Carwitz in der Feldberger Seenlandschaft – das Haus ist heute Museum – mit den Hans-Fallada-Tagen an den Schriftsteller. „Manchmal glaube ich, mein ganzes Leben wäre anders verlaufen, wenn ich hätte tanzen können“, heißt es in seiner Autobiographie. Er konnte es nicht. Aber schreiben, das konnte er.
Sehr interessant! Gut geschrieben, inspirierend und auch lehrreich. Werde mal ein Abstecher nach Carwitz machen…