„Gesten, Gebärden und Gelächter“
18. Februar 2022 von Thomas Hartung
Sein erster Roman, den er in gewisser Weise nicht mehr überboten hat, handelt von der Erfahrung des Hungers – eine Erfahrung, die er am eigenen Leib gemacht hatte, in der Stadt, die damals noch nicht Oslo, sondern Kristiania hieß. „Es war zu jener Zeit, als ich in Kristiania umherging und hungerte, in dieser seltsamen Stadt, die keiner verlässt, ehe er von ihr gezeichnet worden ist …“ – Es gibt Bücher, die schon mit ihrem ersten Satz faszinieren und eine unverwechselbare Melodie anstimmen, und ihm gelang eine dieser Melodien. Viele andere sollten folgen.
Freilich ist das Autobiographische stark stilisiert und literarisch transponiert. Das Buch wird aus der Perspektive eines jungen Mannes erzählt, der in Norwegens Hauptstadt in den achtziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts auf der sozial tiefsten Stufe dahinvegetiert. Vergeblich versucht er, die von ihm verfassten Zeitungsartikel in verschiedenen Redaktionen unterzubringen, seine finanziellen Reserven sind längst erschöpft, aber in verbissener Selbstachtung lehnt er fremde Hilfe ab, so dass er immer mehr in eine körperliche und seelische Notlage gerät.
Die Beschreibung des Hungers und des nackten Existenzkampfes, die ungemein einprägsame Wirklichkeitsschilderung lässt einen Schriftsteller des Naturalismus vermuten. Doch nicht die soziale Komponente des Hungers steht im Vordergrund, sondern es sind seine psychischen Auswirkungen, die Ekstase, die Gewalt der Fieberphantasie, die Spannung zwischen dem verfallenden Körper und der sich leidenschaftlich zur Wehr setzenden Seele, die er zu erfassen sucht: Knut Hamsun, der vor 70 Jahren, am 19. Februar 1952, starb.
Geboren wurde Hamsun am 4. August 1859 als Knud Pedersen in der südnorwegischen Provinz. Der spätere Eigentümer eines Gutshofs im klassizistischen Stil kam aus kleinsten Verhältnissen. Hamsun verbringt seine Kindheit auf dem Hof mit den Eltern, als viertes von sieben Geschwistern. Die Mutter ist nervenkrank. Immer öfter rennt sie aus dem Haus über die Felder, schreit wirres Zeug. Die Leute im Dorf tuscheln. Sie wird zum siebten Mal schwanger, das schwächt sie weiter. Für liebevolle Zuneigung fehlt die Kraft. Der Vater kann nicht mit Geld umgehen, im zugigen Holzhaus ist kaum genug Platz für alle. Also wird Knut 1868 in den Nachbarort zum Onkel geschickt, einem Junggesellen.
Der leidet, obwohl erst Anfang vierzig, bereits an Parkinson, prügelt ihn, lässt ihn schuften. Hamsun will fliehen, wieder und wieder, versucht es mit einem Ruderboot. Einmal, als es ganz schlimm wird, hackt er sich mit einer Axt in den Fuß, in der Hoffnung, verletzt zurück zu den Eltern zu dürfen. Erfolglos. Der Junge wurde aber nicht nur für harte körperliche Arbeit, sondern dank seiner schönen Schrift auch für Schreibdienste eingesetzt. Und weil der Onkel nebenbei die Gemeindebücherei verwaltete, kam er an Bücher und Traktate – der Anfang autodidaktischer Lehrjahre.
Nach seiner Konfirmation war er bei einem Kaufmann als Ladengehilfe beschäftigt und kritzelte dort erste Verse auf die Türrahmen des Ladens. Die Hamsun-Biografin Ingar Sletten Kolloen schreibt darüber: „Zum ersten Mal erlebte Knut einen Menschen, den er vorbehaltlos bewunderte: einen souveränen Patriarchen, einen Mann mit mysteriösem Wissen und großen Geheimnissen, unnachgiebig, wenn nötig, milde, wo Milde verdient war.“ Das Problem dieser biographischen Episode hieß Laura, war 16 und die Tochter des Kaufmanns. Knut verliebt sich, doch dem Chef gefällt nicht, dass ein junger Handlanger sich für seine Tochter interessiert. Nach nur einem Jahr muss Hamsun wieder gehen.
nicht gut genug zu sein
Einige Biographen vertreten die Theorie, dass Hamsun wegen Laura den Job verlor, und sind überzeugt, dass sie die Vorlage für viele Frauen in Hamsuns Romanen ist. Ein Indiz dafür, wie eng Leben und Werk miteinander verbunden sind. Und ein Hinweis darauf, wie sehr diese frühen Jahre, die Erfahrung, nicht gut genug zu sein, nicht dazuzugehören, ihn geprägt haben. Diese Rolle hat Hamsun in seinem späteren Leben nicht nur immer wieder erlebt, „er hat sie nahezu gesucht und gelernt, sich darin zu gefallen. Und was wäre die größtmögliche Außenseiterrolle in einem Land, das gegen die Nazis kämpft, als sich für die Nazis einzusetzen“, fragt Christian Vooren im Tagesspiegel.
Die Härte und Strenge hat er sich zu Eigen gemacht, die in vielerlei Hinsicht rückständige, fast feudale Gesellschaft mit ihren patriarchalischen Beziehungen zwischen Herren und Untergebenen seine konservative Grundeinstellung mit bedingt. In seinen Romanen erklärte er das Leben auf dem Land, die feudalen Strukturen, die Entbehrungen und die Einfachheit zum Ideal. Zugleich wurde ihm der Hass auf England eingepflanzt: Er hörte immer wieder, wie die Engländer Norwegen ausbeuteten. England beherrschte den Welthandel. Hunger, Notjahre, Krieg und Engländer, das alles hänge zusammen, erfuhr er – auch ein entscheidender Punkt für sein Verhalten nach 1933.
1875, mit sechzehn Jahren, begab sich Hamsun auf Wanderschaft durch Norwegen, um das Land kennenzulernen, arbeitete als Hafenarbeiter, fahrender Händler und Gemeindeschreiber. Seine ersten literarischen Versuche unternahm er 1877 mit „Der Rätselhafte“ und der Bauernnovelle „Der Bürger“ von 1878, die in Kleinstädten des Nordens gedruckt und vertrieben, andernorts aber nicht wahrgenommen wurden. Im selben Jahr fügte er den Hofnamen als Autornamen hinzu: Knut Pedersen Hamsund. In einem Essay von 1885 tauchte erstmals, angeblich durch einen Druckfehler, der Name Hamsun auf, den er fortan beibehielt – Pflicht wurde ein Familienname in Norwegen erst 1923.
Zwischen 1882 und 1888 wanderte er zweimal in die USA aus und arbeitete unter anderem als Straßenbahnschaffner, Farmarbeiter, Handlungsgehilfe und Sekretär, später als Redakteur. Hamsun vermochte in den USA nie richtig Fuß zu fassen; der American Way of Life stieß ihn von vornherein ab. Der 1890 erschienene Roman „Hunger“ brachte ihm erste literarische Anerkennung. Heute gilt er als Pionierwerk der literarischen Moderne, der ein neues Interesse an psychischen Grenzzuständen zeigt, die bereits in einer Art Bewusstseinsstrom protokolliert werden. Seine ersten Bücher flankierte Hamsun mit provokativen Vorträgen, in denen er die Größen der skandinavischen Literatur vom Sockel zu stoßen suchte. Vor allem schoss er sich auf Ibsen ein, diesen „Typendichter“. Anschließend lebte er für mehrere Jahre in Paris, wo er mit seinen Defiziten konfrontiert wurde: Das hohe Aufkommen von gebildeten, wohlstudierten Menschen weckte seine alten Minderwertigkeitsgefühle.
Danach unternahm er ausgedehnte Reisen in verschiedene Länder, darunter Finnland, Russland, Türkei und Persien. Mit seinem nächsten Roman „Mysterien“ schrieb sich Hamsun an die Spitze der europäischen Avantgarde. Inzwischen war das Publikum der naturalistischen Elends-Inszenierungen überdrüssig geworden und suchte psychische Raffinessen. „Mysterien“ bot sie im Übermaß. Das Delirierende, Fieberhafte, Halluzinierende, wie man es von den Bildern Edvard Munchs kennt, bestimmt diesen Roman, mit dem Unterschied, dass Hamsun viel Komik hinzu gibt. Die Hauptfigur Johan Nilsen Nagel ist die Verkörperung der „Nervosität“, ein raffinierter Hysteriker, der sich selbst unermüdlich inszeniert. Das Faszinierende besteht darin, dass nicht nur über Nagel erzählt wird, sondern dass die Sprache selbst in den „Nagel-Zustand“ gerät: „eine geschmeidige, geistreich flirrende Verunsicherungs-Prosa, voller Gesten, Gebärden und Gelächter“, so Wolfgang Schneider im Deutschlandfunk.
Eines seiner Hauptwerke wurde der 1894 erschienene „Pan“. Das Werk wurde anfänglich als Glorifizierung der Natur aufgefasst, jedoch wird diese Stimmung von Hamsun im zweiten Teil des Buches konterkariert. Zwischen 1895 und 1898 entstand eine Dramen-Trilogie, 1898 heiratete Hamsun Bergljot Bech, mit der er eine Tochter hatte und von der er sich 1906 wieder scheiden ließ. In den Jahren danach erschien seine „Wandertrilogie“, in deren Zentrum ein Wanderer steht, der sich nicht binden will, zuletzt „Die letzte Freude“ (1912). Dies waren die letzten in der Ich-Form geschriebenen Werke.
„wirklich der Allergrößte“
1909 heiratete Knut Hamsun eine 22 Jahre jüngere Schauspielerin, die als Kinderbuchautorin Marie Hamsun bekannt wurde. Das Paar bekam vier Kinder. 1911 erwarb er einen Bauernhof. Das Landleben sollte Marie dem Theaterbetrieb und den verderblichen Einflüssen der Stadt entziehen. Auch für ihn selbst war es ein ethisches Programm: „Ich war von all den Feinheiten, die ich mir in vielen Jahren angewöhnt hatte, verdorben worden, musste erst wieder zum Bauern zurückstudieren“, heißt es im Roman „Gedämpftes Saitenspiel“. Er wollte seine überreizten Nerven und seine Melancholie kurieren. Aber bald meldete sich der literarische Impuls zurück, und er ging monatelang auf Reisen, um zu schreiben, so zwei Romane über den Untergang alter Gutsbesitzerfamilien.
1917 erschien sein bekanntester Roman „Segen der Erde“, für den er 1920 den Literaturnobelpreis erhielt und in dem er die Geschichte des tugendhaften Ödlandbauern Isak beschreibt, der über Jahre hinweg sein Land urbar macht und von den Früchten seiner Arbeit lebt. Thomas Mann fand, die Wahl sei „nie auf einen Würdigeren“ gefallen, auch Hermann Hesse, Stefan Zweig und Kurt Tucholsky äußerten sich euphorisch. Die Ehrung gerade dieses einen Werks bedeutete in der noch jungen Geschichte des Preises ein Novum, denn alle bisher Geehrten waren für ihr Gesamtwerk oder große Teile davon ausgezeichnet worden. Zudem, folgenreich für die Hamsun-Rezeption, war es die Hervorhebung des einzigen seiner Romane, der eine „positive“ Botschaft vermittelt. „Hamsuns Gesang von der Landlust, vom einfachen, naturverbundenen Leben wirkte nach dem Horror der Materialschlachten wie ein Therapeutikum“, würdigt Schneider den Text.
„Wer sich der Stadt anheimgibt, verfehlt das richtige Leben. Mit diesem doppelten Signal beeinflusste ‚Segen der Erde‘ die rechtsgewirkte, industrie- und zivilisationskritische deutsche Heimatliteratur der 20er und 30er Jahre“, befindet dagegen Jochen Pohlandt in der Frankfurter Rundschau und schreibt von einer „fragwürdigen Ehrung“. Wer selektiv liest – die Charaktere sind sehr komplex, die raffinierte Handlungsführung verunsichert den Leser immer wieder – kann in „Segen der Erde“ eine heile Welt finden, die den Roman für die NS-Ideologie anschlussfähig machte. NS-Literaturkritiker sahen in ihm ein idealtypisches Werk der Blut-und- Boden-Literatur und verengten ihn zum Bauernroman. Goebbels sorgte für eine billige Frontbuchausgabe. Chefideologe Alfred Rosenberg machte Isak „mit dem rostigen Bart und dem zu untersetzten Körper, er war wie ein gräulicher Mühlgeist“ gar zum schönen nordischen Menschen schlechthin.
Es folgten weitere Romane wie „Das letzte Kapitel“ (1923) über ein Sanatorium, das den „Zauberberg“ (1924) des Hamsun-Verehrers Thomas Mann vorwegnahm. Eine weitere Trilogie erschien in den Jahren 1927 bis 1933 mit den drei „Landstreicher August“-Romanen, die die Themen Auswanderung, Heimat und Industrialisierung in Norwegen thematisierten. 1936 erschien sein letzter Roman „Der Ring schließt sich“, der am Beispiel eines jungen Totalverweigerers alle traditionellen Werte in Frage stellt. Die Hauptfigur wäre in Deutschland ein Fall fürs Arbeitslager gewesen, belustigt sich Schneider: „Abel, der Nichtstuer und Träumer, eine der antriebsärmsten Gestalten der Weltliteratur, die viel von Camus‘ ‚Fremdem‘ vorwegnimmt.“
In seinen Romanen zeigte Hamsun eine gewisse Sympathie für die Schwachen, gleichzeitig verherrlichte er den Hang Nazideutschlands zu vermeintlicher Stärke und zu Härte. Hamsun verachtete die Briten mit ihrer Aristokratie, ihrer High Society und ihrem Kolonialismus. Sie waren der Gegenentwurf zu Hamsuns Lebensideal des einfachen Mannes auf dem Land. Und: Während Hamsuns Erfolg als Schriftsteller sich zunächst nicht einstellen wollte, weder in Norwegen, England oder sonst in Europa, verkauften sich seine Geschichten in Deutschland schon früh sehr gut. Eine für ihn ungewohnte Erfahrung: gefragt und angesehen zu sein. Auch diese Erfahrung führte zu seiner fast irrationalen Haltung zu Hitler und dem NS-Deutschland.
„Geste der Ritterlichkeit“
Deutschland, dessen Sprache er nie beherrschte, symbolisierte für Hamsun das „junge Europa“. Er bezog in Zeitungsartikeln für die Politik Hitlers Stellung, während seine literarische Produktion zum Erliegen kam. 1935 unterstellte er dem „merkwürdigen Friedensfreund“ Carl von Ossietzky, der im KZ Esterwegen gefangen saß, dass er vorsätzlich in Deutschland geblieben sei, um als Märtyrer zu erscheinen. Als Ossietzky den Friedensnobelpreis erhielt, äußerte er öffentlich massive Kritik und rechtfertigte die Errichtung von Konzentrationslagern. 1936 rief Hamsun zur Wahl des Führers der norwegischen „Nasjonal Samling“, Vidkun Quisling, auf und appellierte während der deutschen Invasion 1940 an seine Landsleute: „Werft das Gewehr weg und geht wieder nach Hause! Die Deutschen kämpfen für uns alle und brechen jetzt Englands Tyrannei über uns und alle Neutralen.“
In Deutschland wirkte in vier Kriegswintern derweil Hamsuns Frau Marie, eingeladen von der Nordischen Gesellschaft, deren Schirmherr Alfred Rosenberg war. Bei mehr als hundert Auftritten von Tilsit bis Karlsruhe, von Kiel bis Wien überbrachte sie Grüße von Knut und las vor durchschnittlich 500 Menschen aus Hamsuns Werken. „Die Hauptnummer waren die ersten Kapitel in ,Segen der Erde‘“, berichtet Thorkild Hansen in seinem Buch „Der Hamsun-Prozeß“ und charakterisiert diese Auftritte als Feiern, bei denen Marie als „Priesterin“ und das Publikum sich dem großen Dichter Knut Hamsun andachtsvoll hingaben.
Übergriffe der Besatzungsmacht auf die norwegische Bevölkerung erfüllten Hamsun dagegen mit Sorge. Er setzte sich für einige Norweger ein, die von der Besatzungsmacht hingerichtet werden sollten, teilweise auch mit Erfolg, für andere aber auch nicht, obwohl er dazu aufgefordert worden war. Das brutale Auftreten des Reichskommissars Josef Terboven veranlasste Hamsun 1943 schließlich persönlich, auf dessen Ablösung hinzuwirken. Einem Besuch von Propagandaminister Joseph Goebbels, der Hamsuns Werke sehr schätzte, am 18. Mai 1943 in dessen Berliner Privatwohnung schloss sich im Juni die Schenkung seiner Nobelpreis-Medaille an Goebbels an. Tage später hielt Hamsun auf der ersten, von Goebbels organisierten Tagung der Union der nationalen Journalisten-Verbände in Wien vor ca. 500 Journalisten aus 40 Ländern eine englandfeindliche Rede, in der er sich offen für den Nationalsozialismus aussprach.
Ein Treffen mit Hitler Ende Juni geriet dagegen zum Desaster. Hamsun wagte es, den Führer mit den Worten zu unterbrechen: „Die Methoden des Reichskommissars eignen sich nicht für uns, seine ‚Preußerei‘ ist bei uns unannehmbar, und dann die Hinrichtungen – wir wollen nicht mehr!“ Als Hamsun nicht locker ließ, brach Hitler das Gespräch ab und sparte seinen Wutausbruch aus Respekt für Hamsun auf, bis er gegangen war. Dessen ungeachtet pries Hamsun Hitler in einem Nachruf als einen „Verkünder des Evangeliums vom Recht aller Nationen“, als eine „reformatorische Gestalt höchsten Ranges“. Von seinem Sohn Tore nach der Motivation für diesen Nachruf gefragt, antwortete Knut Hamsun: „Es war eine Geste der Ritterlichkeit einer gefallenen Größe gegenüber.“ Manche Literaturwissenschaftler betonen bis heute, Hamsuns Eintreten für Hitler und das Nazi-Regime habe sich nur in seinen politischen Artikeln niedergeschlagen, in denen er gegen Verstädterung, Industrialisierung und Demokratisierung polemisiert.
Der Charakter der ideologischen Nähe Hamsuns zum Nationalsozialismus ist umstritten: Teils werden gemeinsame Werte von Rasse, Mythos, Blut und Boden, Disziplin und Abenteuer betont, teils dagegen die Ablehnung des Bürgertums als Bindeglied zu Hitler. „Hamsun ist kein ergiebiger Fall für die Literaturgeschichte des Bösen“, befindet auch Schneider. „Das Faszinosum einer reaktionären Intellektualität, wie es bei Benn, Céline, Ernst Jünger oder Carl Schmitt eine Rolle spielt, sucht man bei ihm vergebens.“ Starrsinn und Verblendung kennzeichneten seinen Glauben an den Nationalsozialismus, Affinitäten gab es allerdings in Bezug auf Germanophilie sowie den Jugend- und Gesundheitskult. Doch „nichts in Hamsuns Romanen“ berechtige dazu, ihn „als Nazi abzustempeln“.
„nachhaltig seelisch geschwächt“
Nach Kriegsende versuchte Norwegen, Hamsun für seine Sympathie mit der Besatzungsmacht zur Rechenschaft zu ziehen. Wegen seines Alters (86) und seiner Verdienste wurde er nicht in Untersuchungshaft genommen, sondern zunächst in ein Altersheim in Landvik gebracht, dann zu einer längeren Untersuchung in die psychiatrische Klinik in Vinderen (Oslo) eingewiesen. Seine Begutachtung als „nachhaltig seelisch geschwächt“ sollte zu seiner Entlastung vor Gericht dienen. Hamsun kommentiert später sarkastisch, dass diese Diagnose erst durch den Aufenthalt eingetreten sei, und bestand auf Rechtfertigung seines Verhaltens während der Besatzungszeit in einem Gerichtsprozess. Die Anklage vor dem Obersten Gericht wegen einer Straftat wurde als nicht haltbar fallengelassen und der Fall nach der Landesverratsanordnung weiterbehandelt, die Kollaborateure zu Entschädigungszahlungen verpflichtete.
Das Amtsgericht Grimstad verurteilte ihn am 16. Dezember 1947 mit den Stimmen zweier Laienrichter gegen die Stimme des Gerichtsvorsitzenden zu einer „Entschädigung“ von 425.000 Kronen zuzüglich Zinsen und Verfahrenskosten wegen „Schadens gegenüber dem norwegischen Staat“. Im Anschluss an dieses Urteil durfte er auf sein Gut Nørholm bei Grimstad zurückkehren. Im Revisionsverfahren wurde 1948 die Summe zwar auf 325.000 Kronen reduziert, was aber den finanziellen Ruin der Familie nicht abwendete. Er verarbeitete diese Erlebnisse in seinem letzten Werk, dem Tagebuch „Auf überwachsenen Pfaden“ (1949). Nicht nur nach seinem Tod: Hamsun polarisiert in seiner Heimat bis heute. Vielen kommunalen Ehrungen durch Straßen oder Denkmäler steht etwa der Intendant des Trondheimer Theaters entgegen, der sein Haus zur hamsunfreien Zone erklärte.
Die Hamsun-Verehrung in Deutschland endete 1945 keineswegs. Eine 1955 von der Schriftstellerin Hilde Fürstenberg gegründete Knut-Hamsun-Gesellschaft verschrieb sich bis 1998 der Pflege seines Werks mehr huldigend als kritisch. Der Film „Hamsun“ (1996) behandelt die letzten 17 Jahre seines Lebens, verkörpert wird er von Max von Sydow. Außerdem wurden mehrere seiner Romane und Erzählungen als Theaterstücke bearbeitet oder verfilmt. Das Jubiläum bietet Anlass, einen der größten europäischen Schriftsteller wiederzuentdecken. Er ist, in Triumph und Verhängnis, auch ein Stück deutscher Literaturgeschichte.