„Ich schreibe Bestseller“
10. Januar 2022 von Thomas Hartung
Mit 175 Büchern, darunter allein 124 Krimis, gehörte er zu den produktivsten und erfolgreichsten Autoren seiner Zeit. In 45 Sprachen übersetzt, gilt er als Erfinder des modernen Thrillers und Anfang des 20. Jahrhunderts auch als dessen Hauptvertreter. Ein Gast durfte beobachten, wie er 1931 an einem Wochenende einen kompletten Roman diktierte, damit 4000 Pfund auf einen Schlag verdiente – und sich hinterher für zwei Tage Schlaf zurückzog. Die dauerhafte Anstrengung hatte allerdings ihren Preis: Der Autor konsumierte täglich rund 80 Zigaretten – mit Mundstück, das wurde sein Markenzeichen – und 40 Tassen mit stark gesüßtem Tee. Prompt erlitt er eine Diabetes, die nicht behandelt wurde und an der er am 10. Februar 1932 starb: Richard Horatio Edgar Wallace.
Am 1. April 1875 als unehelicher Sohn der mittellosen Schauspielerin Polly Richards geboren, adoptierte ihn eine Fischträgerfamilie zusätzlich zu ihren zehn Kindern, weil seine Mutter nicht für ihn sorgen konnte. Zum Leidwesen seiner Adoptiveltern brachte der Junge nur wenig Begeisterung für die Schule auf und ging mit zwölf Jahren ab. Dafür liebte er Bücher – und das Theater. Um sich den Eintritt leisten zu können, arbeitete er zuerst als Zeitungsjunge und schloss sich einer Jungenbande an, mit der er kleinere Diebstähle beging. Später versuchte er sich dann in allerhand Berufen: Er arbeitete als Druckergehilfe, Botenjunge, in einem Schuhgeschäft, in einer Tuchfabrik, als Koch auf einem Schleppnetzfischerboot in Grimsby, als Milchkutscher und als Straßenbauer und Bauarbeiter. „Arbeit knochenbrechend“, schrieb er frustriert an seine Familie.
1894 schrieb er sich als 18-Jähriger zur Armee ein und nahm den Namen Edgar Wallace an; angelehnt an den Schriftsteller Lew Wallace, der 1880 „Ben Hur“ veröffentlicht hatte. Zwei Jahre später wurde er in Südafrika stationiert. Seine publizistische Laufbahn begann hier: Er besserte sein Gehalt auf, indem er kurze Texte zu lokalen Ereignissen und Personen für die Presse in Kapstadt schrieb. Zudem schrieb er Gedichte, die vor allem durch die Arbeiten von Rudyard Kipling beeinflusst waren, den er 1898 in Kapstadt traf. Im gleichen Jahr veröffentlichte er ein Sammelwerk seiner Balladen unter dem Titel „The Mission that Failed“.
Seine Karriere als Journalist begann Edgar Wallace während des Zweiten Burenkriegs ab 1899 für die Daily Mail. Aufgrund eines Tricks konnte er als erster Korrespondent die Nachricht vom bevorstehenden Friedenschluss nach London senden: Obwohl der Ort der Verhandlungen strikt abgeschirmt war, signalisierte ihm ein ehemaliger Kamerad durch das Zeigen unterschiedlich-farbiger Taschentücher den Stand der Verhandlungen. Noch in Kapstadt heiratete er die Tochter eines methodistischen Missionars und bekamt eine Tochter, die 1903 mit 10 Monaten an einer Hirnhautentzündung starb. Aufgrund dieses Schocks sowie von Schwierigkeiten mit Wallace‘ Vorgesetzten kehrte das Paar hoch verschuldet nach London zurück.
Plakate mit der Größe einer Wohnzimmerwand
Das sich die Familie mit drei weiteren Kindern vergrößerte und Wallace einem durchaus gehobenen Lebensstil frönte, reichte das Honorar als Journalist und Sonderberichterstatter nicht aus. Wallace beschloss, sich mit einem Krimi wortwörtlich aus den Schulden rauszuschreiben. „Heutzutage sind Religion und Unmoral die einzigen Dinge, durch die man ein Buch verkaufen kann“, schrieb er seiner Frau. Er wusste genau, was er seinen zukünftigen Lesern liefern wollte: „Blut und Verbrechen“. „Die vier Gerechten“ lautete der Titel seines ersten Werks von 1905. Mit einem Trick wollte er Käufer anlocken: Er setzte Preisgelder von insgesamt 500 Pfund für diejenigen Leser aus, die den kniffligen Fall zu lösen vermochten. Wie konnten die Mörder den britischen Außenminister töten, der sich in einem schwer bewachten Raum aufhielt und den niemand betreten hatte?
Wallace bewarb das Buch mit einer gewaltigen Kampagne: „Zusätzlich zu der Anzeigenwerbung“ habe er, so gab er an, „tausend riesige Plakate bestellt, die etwa die Größe einer Wohnzimmerwand haben“. Der Krimi verkaufte sich tatsächlich hervorragend. Zu Wallaces Leidwesen hatte er bei seinem Preisausschreiben allerdings vergessen zu erwähnen, dass jeder Geldgewinn nur einmal zu vergeben war. So stapelten sich bald die richtigen Lösungen. Zu guter Letzt musste ihm seine Zeitung, die Daily Mail, finanziell aushelfen. Weil Wallace das Blatt zudem durch Fehler in seinen Artikeln viele Tausend Pfund an Schadenersatz kostete, endete die Zusammenarbeit bald.
Im Hause Wallace ging der Gerichtsvollzieher ein und aus. Schmuck und andere Wertgegenstände waren bald zu Geld gemacht, trotzdem legte sich der Schriftsteller keinerlei Beschränkung auf. „Selbstverständlich können wir es uns nicht leisten“, klärte er seine Frau auf, „aber wenn ich darauf warten will, dass ich mir etwas leisten kann, werde ich nie etwas bekommen.“ Er spielte leidenschaftlich gerne, verzockte hohe Summen auf der Pferderennbahn und gönnte sich jeglichen Genuss. Beispielsweise einen cremefarbenen Rolls-Royce und später einen eigenen Rennstall. Am Ende verschaffte ihm sein Talent Ruhm – und Geld. Mit dem 1911 erschienenen Afrikaroman „Sanders vom Strom“ wurde er noch bekannter, er war der erste Roman einer 11-teiligen Serie. Der Bestseller half ihm zugleich, seine Reputation als Journalist wieder zu erlangen.
Daneben brachte er mit zwei eigene Rennsport-Blätter heraus und gründete, um die Arbeit zu bewältigen, ein Schreibbüro. Zum Personal gehörte auch seine spätere zweite Frau, Ethel Violet King, die er zwei Jahre nach seiner Scheidung 1919 heiratete. Das Büro war nötig geworden, da er die einträgliche Krimi-Produktion im Akkord aufgenommen hatte. Der körperlich immer träger und korpulenter werdende Wallace schrieb seine Geschichten nicht mehr selbst auf, sondern diktierte sie seinem Sekretär, der auch die zahlreichen Fehler zu korrigieren hatte. 1921 unterschrieb er einen Vertrag bei Hodder and Stoughton und ließ in Folge alle neuen Romane von diesem verlegen. Wallace wurde zum „King of Thrillers“ aufgebaut und mit dem Slogan „Es ist unmöglich, nicht von Edgar Wallace gefesselt zu sein“ vermarktet. Er arbeitete häufig an mehreren Geschichten gleichzeitig.
„Ich bin völlig blank“
Durch seine Phantasie revolutionierte er den modernen Thriller, indem er den erzählenden und sensationsheischenden Stil der Daily Mail auf seine Werke anwandte, weiterentwickelte und sich immer spektakulärere Mordmethoden ausdachte. Etwa im Fall von Charles Creager, der 1923 durch einen Pfeil starb – abgefeuert vom „Grünen Bogenschützen“. Oder in dem des ehrenwerten Inspektors Genter, den 1925 ein als „Frosch mit der Maske“ verkleideter Schurke mittels Blausäure ins Jenseits beförderte. Frauen und Männer, Reiche und Arme, Ehrliche und Ganoven – er ließ sie alle sterben, ermordet in freier Natur, in verrufenen Schlössern, in heruntergekommen Hafenspelunken oder den besten Vierteln Londons. Seine Bücher beinhalteten Elemente der Komödie und des Science-Fiction-Romans, des Liebesromans und der Kriegsgeschichte.
In dieser Phase wurden seine Romane zu Zehn-, ja Hunderttausenden verkauft. 1928 wurde geschätzt, dass mit Ausnahme der Bibel eines von vier in England gedruckten und verkauften Büchern von Edgar Wallace geschrieben wurde. Einer von Wallace berühmtesten Krimis wurde „Der Hexer“ (Original: „The Gaunt Stranger“), der als Theaterstück unter dem Namen „The Ringer“ am 1. Mai 1926 mit dem britischen Schauspieler Gerald du Maurier uraufgeführt wurde und ein großer Erfolg war. In Deutschland fand die Erstaufführung 1927 am Deutschen Theater in Berlin unter der Regie von Max Reinhardt statt. Manchmal wurden zwei oder drei Theaterstücke von Wallace in London gleichzeitig aufgeführt; insgesamt 120 wird er zeitlebens geschrieben haben. Kritik an seinen in Windeseile produzierten Geschichten ließ Wallace kalt. „Ich schreibe keine guten Bücher“, erklärte er einmal einem amerikanischen Reporter. „Ich schreibe Bestseller.“ Bizarre Morde, spannende Plots und die Verheißung auf eine baldige Neuerscheinung ließen die Schwächen in Charakterentwicklung und Aufbau schnell vergessen.
Sein Stil hatte Einfachheit, Kraft und Tempo, aber es war die Vielfalt und Originalität seiner Handlungen, die zusammen mit seinem enorm produktiven Schaffen seinen Ruf begründeten. Kinder liebte der berühmte Schriftsteller über alles. Wallace war auch für seine Großzügigkeit bekannt. So unterstützte er eine Theaterkassiererin, deren Kind an Tuberkulose erkrankt war und nahm die beiden mit in den Familienurlaub. 1923 wurde er in den Vorstand des Londoner Presseclubs berufen, wo er nach einigen Jahren einen Fonds für mittellose Journalisten einrichtete. In Hollywood, wo er 1931 für das Drehbuch zu „King Kong“ engagiert wurde, sollte ein neuer Markt erschlossen werden. Eigentlich wäre der Schriftsteller lieber in Großbritannien geblieben. „Es hat keinen Zweck“, klagte er verzweifelt. „Ich bin völlig blank und muss einfach hinüber.“ Seine Heimat sah er ebenso nie wieder wie er den fertigen Streifen je vor Augen bekam. Er schlief in seinem Bett ein. In der Londoner Fleet Street, in der die meisten Zeitungen der Hauptstadt ansässig waren, wurden nach der Überführung seiner Leiche in die Heimat die Flaggen auf Halbmast gesetzt und die Kirchenglocken geläutet.
Nachdem der Wilhelm Goldmann Verlag 1952 „Der Frosch mit der Maske“ als Goldmanns Taschen-Krimi Band 1 herausgab, erwarb der dänische Filmproduzent und Rialto-Chef Preben Philipsen die Filmrechte. 1959 produzierte er den Film, der sich zu einem großen Überraschungserfolg entwickelte. Rialto erwarb daraufhin die Exklusivrechte fast aller Wallace-Romane und begründete in den 1960er- und 1970er-Jahren einen regelrechten Boom mit 38 Wallace-Verfilmungen. Viele wurden mit dem Spruch „Hallo, hier spricht Edgar Wallace!“ und den Geräuschen mehrerer Schüsse eingeleitet. Hauptregisseur mit 12 Filmen war Alfred Vohrer, dessen leicht übertriebene Schauspielführung und die pointierte Schnitt- und Zoomtechnik Maßstäbe setzten. Harald Reinl inszenierte fünf Streifen.
Der Erfolg der aufwendigen, handwerklich hochstehenden Produktionen wird zurückgeführt auf das immer auch komische, extravagante Spiel mit dem Grusel und die erstklassigen Besetzungen mit dem Who is Who des bundesdeutschen Nachkriegskinos, die für viele Jungschauspieler zugleich Karrieresprungbrett wurden. Oft stellte Klaus Kinski einen Kriminellen oder einen Verdächtigen dar. Zu weiteren Stammschauspielern gehörten Eddi Arent, Joachim Fuchsberger, Werner Peters, Heinz Drache oder Karin Dor; viele Stars wie Gert Froebe, Klausjürgen Wussow, Wolfgang Völz, Hans Clarin, Hubert von Meyerinck, Karin Baal, Lil Dagover oder Elisabeth Flickenschildt hatten Gastauftritte. Sowohl Otto als auch Bastian Pastewka versuchten sich seit den 90ern an komödiantischen Persiflagen (bspw. „Der WiXXer“ 2004). Das Archiv des deutschen Kriminalfilms stiftet seit 1999 den Edgar-Wallace-Preis für besondere Verdienste um den Kriminalfilm.