O Fortuna
28. März 2022 von Thomas Hartung
Allein die Orchester seiner Vertonungen antiker Tragödien sprengen mit ihren vier bis sechs Klavieren und bis zu 18 Schlagzeugern mit einer Vielzahl von Trommeln, Xylophonen, Marimbaphonen und Metallophonen alles, was normale Opernorchester an Musikern und normale Opernhäuser an Platz im Orchestergraben aufbieten können. Und woher soll man Instrumente nehmen wie javanische Gongs, Hyoshigis, Bin Sasaras, Angklungs? Wagner-Enkel Wieland, der große szenische Visionär der Nachkriegszeit, erkannte prompt Parallelen zu seines Großvaters „Ring des Nibelungen“ und wollte ihm gar das Bayreuther Festspielhaus öffnen: Carl Orff, der am 29. März vor 40 Jahren starb.
Der Sohn eines Offiziers und einer Pianistin kommt am 10. Juli 1895 in München zur Welt und erhält bereits ab 1900 Jahren Klavier-, Cello- und Orgelunterricht. Im selben Jahr erschien auch seine erste Komposition. Auf dem Oktoberfest 1905 hat er ein Aha-Erlebnis vor einem Puppentheater, er bastelt Puppen, bekommt zu Weihnachten ein großes Puppentheater mit Vorhang geschenkt – prompt fehlt für die erste Theater-Vorstellung von Carl Orff nur noch die Musik, die er dann anfängt zu schreiben. Vor der Schule graust es ihn, mit Rechnen oder gar Latein will er sich nicht abplagen. Mit 14 Jahren dann das zweite Aha-Erlebnis: ein Besuch des „Fliegenden Holländers“ von Richard Wagner. Kolportiert wird, dass ihm die Aufführung buchstäblich die Sprache verschlagen habe: Tagelang schweigt er und isst fast nichts und musste die Oper bald darauf, mit einem Klavierauszug ausgestattet, erneut besuchen, um wieder ansprechbar zu werden.
Er beendet mit 16 Jahren seine Schulzeit, ohne Abitur und mit einem fürchterlich schimpfenden Vater im Nacken, und will unbedingt Musik studieren. 1911 schreibt er rund 50 Lieder zu Texten von Heinrich Heine, Friedrich Hölderlin und anderen Klassikern, 1912 komponierte er sein erster größeres Chorwerk nach Friedrich Nietzsches „Also sprach Zarathustra“, und schuf 1913 nach einer japanischen Sage die Oper „Gisei“. Im selben Jahr beginnt er ein Studium an der Akademie der Tonkunst in München, das er 1914 bereits beenden muss, da er eingezogen wird. Er kommt an die Ostfront, wird bei einem Angriff verschüttet und vertiefte sich, traumatisiert und zeitweise halbseitig gelähmt, im Lazarett in Friedrich Nietzsches „Der Wille zur Macht“.
Spätestens hier begann seine Entfremdung vom Glauben – immerhin war er als „Karl Heinrich Maria“ katholisch getauft worden. Noch während der Schulzeit erregte er sich im Religionsunterricht darüber, dass Abraham seinen Sohn Isaak opfern soll. Wie kann ein liebender Vater und letztlich Gott das zulassen? Als sich später ein Mitschüler das Leben nahm, weil er mit den katholischen Dogmen nicht zurechtgekommen war, wuchs die Distanz weiter. Die Todesangst aus dem Krieg ließ ihn nie mehr los; Dunkel- und Verlassenheit hielt er nicht aus. Seitdem wimmelt es in seinen Kompositionen nur so von Hexen und Teufeln, die das Böse verkörpern.
eine Art „schwarze Messe“
Nacheinander Kapellmeister in München, Mannheim und Darmstadt, heiratete er 1920 erstmals und bekam im Jahr darauf eine Tochter, sein einziges Kind. Die Ehe sollte sieben Jahre halten. Bis 1922 studierte er erneut in München, interessierte sich für die Musik Claude Debussys und dessen Verwendung von Musikinstrumenten fremder Kulturen. Schnell entdeckte er den Gong für sich und baut ihn in viele seiner Kompositionen ein. Auch Richard Strauss zählte zu seinen musikalischen Vorbildern. 1924 gründete er aus seinem ganzheitlichen Klangbewusstsein heraus gemeinsam mit Dorothee Günther die „Günther-Schule München – Ausbildungsstätte vom Bund für freie und angewandte Bewegung e. V.“, die in den Bereichen Gymnastik, Rhythmik, Musik und Tanz ausbildete. Carl Orff selbst übernahm dort die Leitung der Musikabteilung. Grundlage seiner Arbeit bildete die Idee, das musikalisch-rhythmische Gefühl aus der Bewegung heraus zu entwickeln: Tanz, Musik und Sprache gehören für ihn untrennbar zusammen.
Aus dieser Idee entwickelte er gemeinsam mit seiner Mitarbeiterin Gunild Keetman ein neues Modell für Musik- und Bewegungserziehung: das Orff-Schulwerk, das er seit 1930 in fünf Bänden veröffentlicht und bis heute Grundlage des Musikunterrichts ist. Er komponierte in diesem Rahmen auch Musik für Kinder, die „Orff-Kompositionen“, und etablierte mit dem Instrumentenbauer Karl Maendler die „Orff-Instrumente“. Zu ihnen zählen etwa Glockenspiele, Schlagwerk, Schellen, Kastagnetten oder Klanghölzer. Sie förderten nicht nur das Gefühl und Verständnis von Musik, sondern weckten in den Kindern auch ein Interesse am Musikmachen. Parallel dazu befasste er sich mit Claudio Monteverdi (bspw. „Orpheus“ 1924) und komponierte drei Kantaten nach Franz Werfel (1929/30, darunter „Des Turmes Auferstehung“) sowie zwei Kantaten nach Bertolt Brecht (1930/31), die, so manche Kritiker, durch seine Musik zu einer Art „schwarze Messe“ mutierten.
1934 dann das dritte Aha-Erlebnis: „Fortuna hatte es mit mir gut gemeint, als sie mir einen Würzburger Antiquariatskatalog in die Hände spielte, in dem ich einen Titel fand, der mich mit magischer Gewalt anzog: Carmina Burana“, schrieb Carl Orff über die Entdeckung der Benediktbeurer Handschrift. Allein schon der Titel zieht Orff magisch an – was für ein toller Rhythmus in den zwei Worten steckt: „Carmina burana“. Am Gründonnerstag des Jahres bekommt er das Buch geschickt, das lateinische und deutsche Liedtexte und Gedichte aus dem 13. Jahrhundert beinhaltet. Orff studiert den Text, seine Lateinkenntnisse sind lausig, aber den Rhythmus versteht er sofort. Plötzlich entsteht in seinem Kopf zu den alten Worten aus dem Kloster, die von Liebe, Speis und Trank, von der Glücksgöttin Fortuna und dem Lauf der Welt erzählen, ein klingendes Spektakel.
Parallel dazu schreibt er 1935 „Das Paradiesgärtlein“, ein Ballett nach Lautensätzen des 15. Jahrhunderts. Im selben Jahre erhält er von Carl Diem, dem Vorsitzenden des Deutschen Olympischen Komitees, den Auftrag zur Komposition des „Kinderreigens“ für die Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele in Berlin. Eine Verbindung zur „Günther-Schule“ ergab sich durch Diems Frau, die dort Schülerin war. Allerdings stammen die Partituren von Gunild Keetman, einige Stücke steuerte Werner Egk bei, Dorothee Günther besorgte die Choreographie, Gret Palucca übernahm den Solotanz. Daher ist schon formal die Behauptung falsch, dass die Olympia-Musik Beleg für eine enge Beziehung Orffs zum NS-Regime war.
Unrühmlich für Orff ist die Tatsache, dass er in den offiziellen Programmen und Ankündigungen die Autorschaft der Musik für sich beansprucht hat. Doch für den kanadischen Historiker Michael H. Kater ergibt sich das Bild eines unpolitischen und auch nicht an Politik interessierten Komponisten, der es dennoch verstand, sich mit den Machthabern zu arrangieren, um ungehindert seinen künstlerischen Weg gehen zu können, und der es genoss, als bedeutender deutscher Komponist seiner Zeit hofiert zu werden. Orff war übrigens ein persönlicher Freund von Kurt Huber, einem der Gründer der Widerstandsgruppe „Weiße Rose“, der wegen seines Widerstands gegen das NS-Regime hingerichtet wurde. Im letzten Kriegsjahr wurde er von Hitler auf der „Gottbegnadeten-Liste“ genannt und nach dem Krieg als Mitläufer eingestuft.
„ein Prophet im Gewand des Gauklers“
Zuvor allerdings hatte er am 8. Juni 1937 für eine Sternstunde der deutschen Musikgeschichte gesorgt: die Premiere der „Carmina Burana“ in der Frankfurter Oper vor einem atemlos lauschenden Publikum. 24 der 254 mittelalterlichen Lieder von Hugo von Orléans, Heinrich von Morungen, Walther von der Vogelweide und vielen weiteren unbekannten Schöpfern hatte er zu einem Chorwerk aus drei Teilen verarbeitet: lateinische Frühlingslieder und mittelhochdeutsche Stücke, Fress- und Sauflieder der Vaganten sowie Liebeslieder. Der Erfolg verleitet Orff zu dem bekannten Brief an seinen Verleger: „Alles, was ich bisher geschrieben und was Sie leider gedruckt haben, können Sie nun einstampfen! Mit den Carmina Burana beginnen meine gesammelten Werke!“ Er zieht fast sein ganzes, bis dahin entstandenes Werk zurück.
1939 wird Orffs Märchenoper „Der Mond“ in München uraufgeführt. Im selben Jahr heiratet er zum zweiten Mal, die Ehe wird 14 Jahre halten. 1941 folgt die Uraufführung der Bühnentrilogie „Orpheus“, „Klage der Ariadne“ und „Tanz der Spröden“ in Gera. Daneben schreibt er „Die Kluge“ nach einem Märchen der Brüder Grimm, für das er 1949 den Nationalpreis der DDR bekommt, den er später zurückgab, und beginnt mit der Arbeit am „Bairischen Welttheater“, vier „Singspielen“ im Dialekt. Er ist der erste Komponist, der Stücke auf Bayerisch schreibt, weil er den Klang des Dialekts liebt, zumal aus der Kindheit: Fanni, die Köchin der Orffs, hatte ihm und seiner Schwester Mia viele Geschichten in tiefstem Bayerisch erzählt. „Orff gelang es, mit modernen Gestaltungsmitteln das Mystische und Historische wieder aufleben zu lassen, so wie es bereits Igor Strawinsky vor ihm geschafft hatte“, befindet Irem Çatı auf dem Portal concerti.
Neben seiner kompositorischen Arbeit übernahm er auch Führungspositionen in verschiedenen musikalischen Einrichtungen. Er war von 1950 bis 1960 Leiter einer Meisterklasse an der Musikhochschule in München. 1961 folgte die Leitung des Orff-Instituts in Salzburg. Dazwischen lag von 1954 bis 1959 seine dritte Ehe, eine Promi-Ehe mit der eigenwilligen linkskatholischen Schriftstellerin Luise Rinser. Mitte der 1950er Jahre begannen dann seine vielfachen Ehrungen: so erhält er kurz hintereinander die Ehrendoktorwürde der Universitäten Tübingen und München sowie den Orden „Pour le Mérite“. 1960 heiratete er seine Sekretärin Liselotte, die sich nach seinem Tod 24 Jahre lang als Vorsitzende der Carl-Orff-Stiftung für die Verbreitung des musikdramatischen Schaffens von Carl Orff und des Orff-Schulwerks einsetzte und die Errichtung des Orff-Zentrums München initiierte.
Als Orffs Hauptwerk nach dem Krieg ist das „Theatrum Mundi“ anzusehen – drei Vertonungen antiker Tragödien: „Keine Opern“, betont Orff. Beginnend bei „Antigonae“ (1949) über „Oedipus der Tyrann“ (1959) und „Prometheus“ (1968) endet das „Welttheater“ mit dem „Spiel vom Ende der Zeiten“ (1973/1977): Im Weltuntergang bittet Satan um Vergebung und wird von Gott wieder als Engel aufgenommen. Für 3.200 Münchner Schulkinder schreibt er dann den „Gruß der Jugend“ zur Eröffnung der Olympischen Sommerspiele in München und zehrt vom Ruhm seines Lebenswerks. Orff starb nach langer Krankheit im Alter von 86 Jahren in München und wurde in der „Schmerzhaften Kapelle“ der Klosterkirche Andechs beigesetzt.
Eine ungewöhnliche Ehre für einen Nichtadligen und Nichtgeistlichen, der sich „seine eigene Theologie geschaffen“ habe, „in der Christus nicht vorkomme“, so der Musikwissenschaftler Thomas Rösch. Er hat es vermocht, „mit modernen Gestaltungsmitteln den Eindruck historischer, mythischer, legendärer oder religiöser Empfindungen hervorzurufen“, befindet Rösch und nennt ihn einen „Prophet im Gewand des Gauklers“. Der große Solitär der Musik war keiner Schule zugehörig und dachte als Theatermensch fast ausschließlich in szenischen, in Bühnenkategorien. Von seiner Carmina, die über alle kulturellen Grenzen hinweg weltweit aufgeführt wird, verzeichnet der Internet-Versand JPC rund 80 Einspielungen: Carlton Beer Draught warb ebenso damit wie Nestlé-Schokolade. „Von nirgendwo kommend, Schöpfer eines musiktheatralischen Kosmos‘, der in sich abgeschlossen ist“, bilanzierte Rösch anlässlich des Orff-Jahres 2020 (125. Geburtstag): „Eine einzigartige Erscheinung. Für Orff-Jahre sollte es keiner Jubiläen bedürfen.“