„Er war mutig“
17. April 2022 von Thomas Hartung
Als Kind hatte der introvertierte Naturbursche Angst vor dem Wasser, nachdem er zweimal beinahe ertrunken wäre. Sogar als Jugendlicher weigerte er sich, Schwimmen zu lernen, bis er 1937 auf Tahiti in einen reißenden Fluss stürzte und um sein Leben kämpfen musste. Zudem wusste er nichts von der Seefahrt. Und doch ließ sich er ab 1947 mehrmals mit primitiven Wasserfahrzeugen furchtlos über die Ozeane treiben. Sein erster, packend beschriebener Reisebericht „Kon-Tiki. Ein Floß treibt über den Pazifik“ wurde in 67 Sprachen übersetzt, darunter Urdu und Mongolisch, und fast hundert Millionen Mal verkauft, seine selbstgedrehte Reportage dazu 1951 mit dem Oscar als bester Dokumentarfilm geehrt: Thor Heyerdahl, der am 18. April vor 20 Jahren starb.
Im Walfangstädtchen Larvik am 6. Oktober 1914 als Sohn eines schon älteren Brauereibesitzers geboren, befasste er sich schon in seiner Kindheit mit Flora und Fauna, war mit Zelt und Schlafsack im nahen Gebirge unterwegs und hegte früh den Wunsch, einige Zeit in einer von der Zivilisation möglichst unberührten Gegend zu verbringen. 1933 begann er das Studium der Zoologie, Geografie und Anthropologie an der Universität Oslo und heiratete am Weihnachtsabend 1936 seine erste Frau Liv, mit der er am nächsten Tag nach Fatu Hiva auf Tahiti aufbrach – zugleich Hochzeitsreise und Vorbereitung für das Staatsexamen über die Herkunft der dortigen Fauna. Während des urwüchsigen Aufenthalts inmitten von Eingeborenen wandte sich Heyerdahl mehr und mehr der Ethnologie zu und begann, die Herkunft der Insulaner „aus einem großen Land im Osten“ ernsthaft in Erwägung zu ziehen: Ein Autodidakt, „der versucht hat, mit Hilfe seiner Reisen und spektakulärer Aktionen festgefahrene Theorien aufzubrechen“, so der Bonner Ethnologe Nikolai Grube im Spiegel. Sein Studium wird er nie abschließen.
Nach der Rückkehr 1938 wurde sein erster Sohn geboren. Heyerdahls Forschung zur Herkunft der Polynesier führte ihn samt Familie 1939 nach Kanada, wo er festsaß, nachdem Norwegen 1940 von deutschen Truppen besetzt worden war. Um sein nahezu publikationsreifes englischsprachiges Manuskript zur Besiedlung Polynesiens „Polynesia and America“ zu vollenden, reiste er an die Nordwestküste Kanadas, wo ihn Fotos und Objekte aus dem Bella-Coola-Tal frappant an polynesische Arbeiten erinnerten. Es gab damals mindestens zwei relevante, aber einander widersprechende Thesen: Für die einen war Polynesien über Melanesien besiedelt worden, was die anderen bestritten, weil Blutgruppen von Melanesiern und Polynesiern nicht zusammenpassten. Heyerdahl erklärte aufgrund seiner Kenntnisse über Meeresströmungen beide Fachmeinungen für überflüssig.
Seine Begründung: da der Philippinenstrom (Japanstrom) von Asien Richtung Nordwestamerika verläuft, wo er dann nach Hawaii und Polynesien abbiegt, hätten die Seefahrer einen Großteil der Strecke von Amerika nach Polynesien neben der Strömung auch den Passatwind im Rücken gehabt. Diesen möglichen Verlauf der Besiedelung hatte zuvor noch niemand bedacht, obwohl bekannt war, dass eine maritime Bevölkerung der Inseln Britisch-Kolumbiens aus Asien gekommen sein musste und noch in der Steinzeit lebte, als erste Europäer eintrafen. Ein Artikel der New York Times über Heyerdahls Arbeit wurde gleichzeitig mit einem vernichtenden Kommentar der populären Ethnologin Margaret Mead abgedruckt: Auftakt der jahrzehntelangen Anfechtungen von Heyerdahls Theorien.
„Die Norweger sind tüchtige Seeleute“
Um am Kampf für die Befreiung Norwegens teilzunehmen, meldete sich Heyerdahl freiwillig im norwegischen Rekrutierungsbüro. Nach einer Funker- und Fallschirmausbildung war der Rekrut 1945 kurzzeitig in der Finnmark eingesetzt, ohne einen Schuss abzugeben. Sofort nach Kriegsende wollte er praktisch beweisen, dass Polynesien von Südamerika und nicht von Asien aus besiedelt wurde. Dabei setzte er auf ein Boot, das nach altindianischem Vorbild gebaut worden war: ein Floß, das ganz ohne Schrauben und Nägel auskommen musste, nur von Tauen zusammengehalten und nach einem Inka-Gott „Kon-Tiki“ getauft wurde. Diese leichten Flöße aus Balsaholz hatten die spanischen Eroberer vorgefunden, als sie nach Peru kamen. Und so fuhr er mit vier Norwegern und einem Schweden im Frühjahr 1947 in 101 Tagen vom peruanischen Callao rund 4000 Seemeilen zum Raroia-Atoll in Französisch-Polynesien. Die Brandung schleudert Kon-Tiki auf die felsenharten Korallen, Brecher zerschlagen sie, alle überleben unverletzt. Versicherungen hatten sich geweigert, Lebensversicherungen abzuschließen.
Ralph Linton, ein bekannter amerikanischer Kulturanthropologe, kommentierte nur trocken: „Heyerdahl hat nichts anderes bewiesen als das, was wir schon vorher wussten: Die Norweger sind tüchtige Seeleute.“ Das war lange der Tenor in der Fachwelt. „Er war mutig“, bescheinigt ihm Grube im DLF, „weil er versucht hat, mit experimenteller Archäologie, die Möglichkeit solcher Kontakte nachzuweisen. Er hat viel geleistet, um zu zeigen, dass wir den Völkern des Altertums viel zu wenig Technologie zutrauen.“ Erst 2020 bewies eine Genstudie, dass amerikanische Ureinwohner tatsächlich die Polynesischen Inseln besuchten – lange vor Kolumbus. Allerdings irrte er sich laut den Forschern im Abfahrtsort der Südamerikaner: Die Studie sieht die größte genetische Ähnlichkeit zu den Ureinwohnern Kolumbiens, nicht Perus. Das Floß, das heute im Osloer Kon-Tiki-Museum wie aus dem Ei gepellt zu bewundern ist, ist eine Rekonstruktion dessen, was der Pazifik übrig ließ.
Heyerdahls Buch über das Abenteuer nannte Udo Zindel im Spiegel den „wohl populärsten Expeditionsbericht aller Zeiten“. Bis heute fiebert man bei solchen Sätzen mit: „Links sehe ich die mächtige blaue See mit ihren schäumenden Wogen, die sich in endlosem Lauf vorbeiwälzen. Rechts liegt in einer dämmrigen Hütte, die seit Wochen unsere Heimstatt ist, ein bärtiges Individuum auf dem Rücken, liest Goethe und gräbt seine bloßen Zehen nachdenklich zwischen die Querleisten des niedrigen Bambusdachs.“ Ein Reporter will von ihm noch fast dreißig Jahre später wissen, wie sie monatelang ohne Nachschub an frischem Trinkwasser überlebt haben. „Wir haben Regen gesammelt“, erklärt Heyerdahl seinem erstaunten Zuhörer, „und jeden Tag fingen wir Fische und pressten ihre Lymphflüssigkeit aus. Die schmeckt zwar nicht gut, hat aber weniger Salz als das menschliche Blut – so kann man ohne Schwierigkeiten überleben!“ Eine Wiederholung der Floßreise durch eine internationale Besatzung scheiterte 2015 nach 114 Tagen.
„ein transatlantischer Impuls“
Seine Ehe zerbrach nach Kon-Tiki, er heiratete 1949 seine zweite Frau Yvonne, mit der er nochmal drei Töchter hat. Nach Studienaufenthalten unter anderem auf Galapagos, am Titicacasee und den Osterinseln gelang Heyerdahl 1970 der zweite große Streich: Er überquerte mit einem Segelschiff aus Papyrus den Atlantik, um zu demonstrieren, dass theoretisch schon die alten Sumerer und Ägypter hätten nach Südamerika gelangen können. Denn ähnlich wie die Menschen des Zweistromlands und des Niltals bauten die Azteken, Mayas und Inkas große Städte und mächtige Pyramiden, kannten Kalendersysteme und eine Schriftsprache. „Hier glaube ich, dass es in Mexiko und Peru etwas gab, was die Indianer anderer Regionen nicht hatten“, erzählt Heyerdahl. „Und das, glaube ich, war ein transatlantischer Impuls!“ Für Grube verbirgt sich hinter dieser Haltung Ethnozentrismus, wenn nicht gar Rassismus: Heyerdahl unterstelle den indigenen Völkern Amerikas, dass sie nicht in der Lage gewesen seien, diese kulturellen Errungenschaften eigenständig hervorzubringen.
1969 lässt der geschickte Selbstvermarkter an den Pyramiden von Gizeh ein 15 Meter langes Boot aus Papyrusbündeln von Bootsbauern vom Volk der Buduma vom Tschadsee zusammenbinden, nach Vorbildern auf antiken Wandmalereien. Dieses schwankende Gefährt steuern er und eine sechsköpfige Crew wenige Wochen später unter der Flagge der UNO aus Safi an der marokkanischen Küste Richtung Mittelamerika. „Ich möchte gerne beweisen, dass es möglich wäre, dass viele Menschen zusammenleben. Ich hatte an Bord Jude und Moslem und Katholik und Hindu, Buddhist und Atheist. Und wir hatten nicht dieselbe Ideen, aber immer freundliche Diskussionen. Und es war immer interessant“, wird er in seiner Autobiographie schreiben. Doch auf hoher See verliert die „Ra“, das „Sonnenboot“, wie ihr medienerfahrener Kapitän sie nennt, die Hälfte ihres Materials. Immer wieder zerbrechen die baumstarken Steuerruder wie Streichhölzer.
Und nachdem ein Orkanausläufer über das Schiff hinweggezogen ist, kentert es schließlich mehrere hundert Seemeilen von der Karibikinsel Barbados entfernt. Ein Jahr später gelingt Heyerdahl unter großen Mühen und Gefahren die Überfahrt mit der drei Meter kürzeren Ra II – die nunmehr von Anden-Indianern vom Titicaca-See gebaut wurde, weil Heyerdahl zur Überzeugung gekommen war, dass deren Schiffbautechnik der ägyptischen näher sei als die aus dem Inneren Afrikas. Nach 57 Tagen und 6100 Kilometern landet das Boot glücklich – mit dem Affen Safi als Maskottchen an Bord. Und, wie bei Kon-Tiki, hält er seine These damit für bewiesen: Die Indianer wurden in vorgeschichtlicher Zeit von hellhäutigen Kulturbringern besucht, die den Weg zu ihnen über den Atlantik fanden.
In diesen Jahrzehnten wird Thor Heyerdahl zum populärsten Forscher überhaupt, seine Expeditionen begeistern Millionen Menschen und lassen selbst die Bekanntheit eines Jacques-Yves Cousteau verblassen. „Und sie brüskieren mit ihrer Mischung aus Querdenkerei, Wagemut und tatkräftiger Naivität immer wieder die etablierte Völkerkunde“, so Zindel. Eine andere Entdeckung überraschte und entsetzte Heyerdahl und seine Crew: Im Atlantik schwammen schwarze Ölklumpen. Sowas hatte die Mannschaft noch nicht gesehen und funkte die Information noch auf Reisen an die Vereinten Nationen (UNO). Der damalige UNO-Generalsekretär beauftragte Heyerdahl damit, die Wasserverschmutzung täglich zu beobachten. Die Crew der Ra II entdeckte an 43 von 57 Tagen der Reise Ölklumpen im Atlantik. Heyerdahl verfasste Berichte zur Umweltverschmutzung auf See und legte sie zu unterschiedlichen Anlässen vor, unter anderem auf der Dritten UN-Seerechtskonferenz. 1972 verabschiedete die internationale Gemeinschaft daraufhin ein Verbot zur Entsorgung von Altöl auf offener See.
Vertreter des Diffusionismus
Nach der Ra II-Expedition zerbrach seine zweite Ehe: Heyerdahl räumte bei der Scheidung ein, dass er schuld daran gewesen ist, weil er zu viel weg war. Eine dritte große Expedition führte Heyerdahl 1977 mit dem Schilfboot „Tigris“ vom Irak über den Persischen Golf und den Indischen Ozean nach Dschibuti in Ostafrika. In der Hochzeit des Kalten Kriegs heuert er für die Besatzung einen sowjetischen Raumfahrtarzt und einen US-amerikanischen Navigator an und findet das einen der interessantesten Aspekte seiner Expeditionen: „Ich habe Leute verschiedener Länder, politischer Ideen und Hautfarben zusammengebracht, um zu beweisen, dass es nur eine menschliche Familie gibt.“ Damit erweist er sich nicht nur als markanter Vertreter des Diffusionismus, der auf der These basiert, dass kulturelle Innovationen weltweit nur selten erfunden werden, aber sich anschließend zu anderen Kulturen ausbreiten, sondern sucht ihn auch zu leben.
Die Tigris wäre noch länger seetüchtig gewesen, doch wegen der damaligen kriegerischen Lage am Horn von Afrika durch den Ogadenkrieg, die eine Einfahrt ins Rote Meer verhinderte, wurde die Reise abgebrochen. Weder im Nord- noch im Südjemen, die sich gerade bekriegen, darf die Tigris landen, weder in Somalia noch in Äthiopien, wo die Supermächte einen Stellvertreterkrieg gegeneinander führen. Erst im französisch kontrollierten, neutralen Dschibuti am Horn von Afrika findet das Schilfboot endlich einen Hafen. Und dort verbrennt Thor Heyerdahl schließlich sein letztes Expeditionsschiff, „als Fackel des Protestes gegen den Wahnsinn des modernen Kriegs“, wie Berndt Schulz, ein deutscher Biograf, schreibt. Politisch bleibt das lodernde Schilfboot ein Strohfeuer, das die Krieg führenden Parteien nicht im Geringsten beeindruckt. Aber für Heyerdahl selbst markieren die glühenden Reste der Tigris den endgültigen Abschied von seinen wagemutigen Fahrten – er ist mittlerweile 64 Jahre alt.
Seine Expeditionen trugen Heyerdahl zahlreiche Mitgliedschaften, Auszeichnungen und Buch- und Filmerfolge ein – 14 Bücher kommen am Ende zusammen. Doch die meisten seiner recht steilen historischen Thesen konnten sich nicht durchsetzen. Die Vorstellung etwa, dass sich Untertanen der Pharaonen vor vielleicht 4000 Jahren auf die lange Reise gemacht haben sollen, konnte die Frage kaum beantworten, wie sie denn bis nach Marokko gelangt sein sollen. Dafür setzte Heyerdahl Maßstäbe im Einsatz für die Natur sowie in der Organisation archäologischer Experimente und ihrer medialen Aufbereitung. In den achtziger Jahren wandte sich Heyerdahl der Erforschung indianischer Hochkulturen in Südamerika und auf vorgelagerten Inseln zu, um Verbindungen zu anderen Frühkulturen der Menschheit wie in Ägypten nachzuweisen. Vielfach preisgekrönt und mit elf Ehrendoktortiteln ausgezeichnet, blieb Heyerdahl bis ins hohe Alter aktiv und war zuletzt auf Teneriffa, in Russland und Aserbeidschan unterwegs.
Der „Archäonautiker“, der „Forscher mit Wikingerblut“, stirbt schließlich in seiner Wahlheimat Italien an einem Gehirntumor. Heyerdahl hatte kurz vor seinem Tod eine weitere ärztliche Behandlung sowie Essen und Trinken verweigert. Als er starb, waren drei seiner Kinder und seine Frau Jaqueline bei ihm – Jaqueline Beer, frühere „Miss France“, hat er nach seinem 75. Geburtstag als seine dritte Frau geheiratet. Bis heute fährt die 1930 gebaute Thor Heyerdahl – früher Tinka, Marga Henning, Silke und Minnow – unter deutscher Flagge als Dreimast-Toppsegelschoner im Sinne der Erlebnispädagogik vor allem mit Mannschaften von jungen Mitseglern auf dem Atlantik und in der Ostsee: Mit dem schwimmenden Gymnasium kreuzen sie sieben Monate in der Karibik, schreiben Klausuren auf Deck und lernen, die Seekrankheit zu überstehen.
Das Zeit-Magazin erklärt den Norweger zum „Enfant terrible der Naturwissenschaft“, die FAZ sieht in ihm einen „unerschrockenen Ernstnehmer eigenen Seemannsgarns“. Die Welt feiert ihn in einem Nachruf als „Urvater der Living History“ – der am eigenen Leib nacherlebten Geschichte: „Ganz gleich, wie stimmig Heyerdahls Thesen waren, er infizierte mit unheilbarer Neugier auf das Altertum, weit mehr noch als der ebenso umstrittene große Populärarchäologe C. W. Ceram mit seinen Göttern, Gräbern und Gelehrten. Heyerdahl blätterte die aufregendste Seite der Geschichte auf. Das frühe Reisen, das Entdecken, die Suche nach neuen Welten, die Ferne schlechthin.“ Das kann man getrost auch heute unterschreiben.