„ein Mann von angenehmer Persönlichkeit“
4. Mai 2022 von Thomas Hartung
Das italienische „conversazione“ bedeutet viel mehr als nur Geschwätz und den Austausch seichter Höflichkeitsfloskeln: Konversation bedeutet „soziale Praxis des Debattierens und Urteilens“, wie die Soziologin Claudia Honegger schrieb. Ein „Konversationslexikon“ also hat sich das emanzipatorische Programm der Aufklärung auf seine Fahnen geschrieben. Seine Leser und Leserinnen sollten, frei nach Kant, durch den öffentlichen Gebrauch der Vernunft die Wahrheit öffentlich darstellen. In Deutschland war es der „Große Brockhaus“, dessen erste, sechsbändige Auflage zwischen 1796 und 1808 erschien, der dieses Programm verfolgte. Herausgegeben wurde er von Friedrich Arnold Brockhaus, der am 4. Mai 1772 in Dortmund als Kaufmannssohn geboren wurde.
Sein Vater, ein Ratsherr, unterhielt eine Materialwarenhandlung, in der der Heranwachsende in seiner Gymnasialzeit bedienen musste, um Gespür und Kenntnisse für das Geschäft zu entwickeln. Eine „wahre Lesewuth“ attestierte er sich schon damals, er las vor allem nachts. Die erste geschäftliche Begegnung mit Büchern ließ jedoch nicht lange auf sich warten. Bereits als Jugendlicher wurde er im Dienste des Geschäfts auf Auktionen geschickt, um Folianten und Quartanten zu erstehen, die der Vater in seinem Geschäft als Makulatur brauchte. Bei einer der Auktionen wurde Voltaires Leben von Karl XII. angeboten, und der junge Brockhaus ersteigerte, zum Entsetzen seines Vaters, das Buch für zwei Groschen.
Gemäß den elterlichen Wünschen brach Friedrich Arnold die Schule ab und begab sich von 1788 bis 1793 nach Düsseldorf, um in einer großen Firma „die Handlung zu erlernen“. Trotz der erfolgreichen Lehr- und Arbeitsjahre in Düsseldorf hatte „die Liebe für Literatur und die Wissenschaft indessen nie geschlummert(…)“. Je mehr er las, umso mehr fühlte Brockhaus die Lücken in seinem Wissen. Er hatte das Gefühl, keine solide Grundlage zu besitzen. Nach einem Streit mit seinem Prinzipal brach Brockhaus, der zeitlebens für sein aufbrausendes Temperament bekannt war, die Lehre in Düsseldorf ab und kehrte 1793 nach Dortmund zurück.
Kauf des Löbel‘schen „Conversationslexikon“
Der Vater entsprach letztlich seinen dringenden Bitten und gestattete einen Studienaufenthalt in Leipzig zur Verbesserung der Allgemeinbildung des Sohnes. Brockhaus hörte Philosophie und Naturwissenschaften und lernte daneben das rege buchhändlerische und literarische Leben der Messestadt kennen, das ihn faszinierte. Nach glücklichen anderthalb Jahren kehrte Brockhaus nach Dortmund zurück und gründete mit zwei Partnern eine eigene Handlung mit „englischen Manufacturen“. Das Geschäft ging sehr gut, und so konnte er 1798 die Dortmunder Patriziertochter Sophie Beurhaus heiraten. Nach dem Zerwürfnis mit seinen Partnern verlegte Brockhaus 1801 die Firma nach Arnheim und dann nach Amsterdam, zumal Holland den Hauptabsatzmarkt für seine Tuchware bot.
Die Kontinentalsperre Napoleons verhinderte jedoch eine erfolgreiche Weiterführung des Geschäfts. Brockhaus wandte sich in der Not seinen alten Vorlieben zu und gründete 1805 mit dem Buchhändler J. G. Rohloff die Sortiments-und Verlagsbuchhandlung „Rohloff & Co“. Rohloff lieh dafür allerdings nur seinen Namen, denn als Deutscher konnte Brockhaus nicht Mitglied der Amsterdamer Buchhändlergilde werden. So kam es zu der kuriosen Tatsache, dass einer der bekanntesten deutschen Verlage im Ausland gegründet wurde, ein Tuchhändler sein Gründer und Napoleon der Inspirator war.
Neben seiner Arbeit als Sortimentsbuchhändler gründete Brockhaus die politisch-literarische Zeitung Der Stern, die zeitgeschichtliche Monatsschrift Individualitäten aus und über Paris sowie die französische belletristische Vierteljahrsschrift Le Conservateur. Die weitere Verlagstätigkeit umfasste die Herausgabe literarischer Werke wie etwa Übersetzungen, naturwissenschaftliche Werke und Reiseliteratur. Mit dem Historisch-militärischen Handbuch für die Kriegsgeschichte der Jahre 1792 bis 1808 des Freiherrn von Groß begründete er 1808 die Verlagstradition der Militaria.
Den wohl folgenreichsten Schritt in seiner verlegerischen Karriere machte er im Herbst 1808 beim Besuch der Leipziger Buchhändlermesse: Er erwarb aus einer Insolvenzmasse für die – nach damaligen Verhältnissen bescheidene – Summe von 1.800 Reichstalern die Rechte an dem 1796 von Renatus Gotthelf Löbel unter dem Titel Conversationslexikon mit vorzüglicher Rücksicht auf die gegenwärtigen Zeiten begonnenen Werk. Brockhaus war also nicht der Erfinder des „Konversationslexikons“, seine Leistung bestand vielmehr darin, die Chancen des unvollendeten Löbelschen Lexikons erkannt und durch seine Arbeit daran den Grundstein dazu gelegt zu haben, dass es sich später zum Standardwerk des deutschen Bildungsbürgertums entwickelt.
Parallel dazu hatte er familiäre Probleme: 1809 war Sophie im Kindbett gestorben, und ihr Mann sah sich veranlasst, seine sieben Kinder bei verschiedenen Verwandten unterzubringen, um seinen ohnehin mühsamen Geschäften nachgehen zu können. Schließlich entschloss er sich 1811, seine Firma wieder nach Deutschland zu verlegen, und wählte Altenburg als ersten Sitz der neuen „Verlagsbuchhandlung F. A. Brockhaus“. Die Verlobung mit Hofrätin Wilhelmine Spazier, Schwägerin von Jean Paul und Herausgeberin des von Brockhaus verlegten Jahreskalenders Urania, löste er wieder, nachdem die Frau Wahnvorstellungen entwickelte: „O Gott, aus welchem Himmel bin ich gestürzt.“
Als Bürger in Leipzig
Im Winter 1812 heiratete Brockhaus die Altenburgerin Jeannette von Zschock und konnte daraufhin auch seine Kinder wieder zu sich holen. Nach anfänglichem Eheglück und vier gemeinsamen Kindern setzte jedoch eine Entfremdung ein, die schließlich 1821 zur Trennung der Eheleute führen sollte, aber das Zusammenleben von Vater und Kindern aus erster Ehe ermöglichte. Das führte dazu, dass er mit seinen mittlerweile fast erwachsenen Söhnen gemeinsam am Weiterbau des Verlages arbeiteten konnte. Diese Zusammenarbeit war für den Vater besonders beglückend. In diese Jahre bis 1823 fallen die verlegerischen Projekte, die den Verlag über den Tod von Friedrich Arnold Brockhaus hinaus erfolgreich machen sollten.
So die Urania, eines zu jener Zeit äußerst beliebten „Taschenbuchs für Damen“, die aus einer Sammlung zeitgenössischer Prosastücke und Gedichte bestanden und für die Brockhaus Autoren wie Jean Paul, Theodor Körner, Gustav Schwab, Ludwig Tieck und Eichendorff gewinnen konnte. Sie glänzte allein aufgrund ihres hochwertigen Drucks und der sorgfältigen Bebilderung mit Kupferstichen namhafter Künstler. Unmittelbar vor der Leipziger Völkerschlacht brachte er die Deutschen Blätter heraus, die unter dem Eindruck des Kriegsgeschehens zur täglichen patriotischen Nachrichtenquelle wurden. 1818 erhielt Brockhaus das Leipziger Bürgerrecht, das ihm den Eintritt in die Leipziger Buchhändlergemeinschaft ermöglichte. Damit war er einer von damals 121 Verlags- und Sortimentsbuchhändlern der Stadt. Bis 1819 erfolgte die Umarbeitung des „Conversations-Lexikons“, dass so großen Anklang fand, dass der junge Verlag, der in den ersten Jahren vor allem wissenschaftliche Verlagstätigkeit betrieb, nun finanziell günstig stand.
Zum ersten Mal soll Wissen nicht für den exquisiten Kreis der Gelehrten zugänglich werden, sondern für das gebildete Bürgertum: zur Belehrung, aber auch zur Unterhaltung in den Salons und guten Stuben. „Flüssigmachung und Popularisierung der wissenschaftlichen, künstlerischen und technischen Ergebnisse, nicht für die geschäftliche Praxis, sondern für die Befriedigung und Förderung der allgemeinen Bildung“ wird Brockhaus diese Aufgabe nennen. Darin lebt das emanzipatorische Grundanliegen der Aufklärung weiter: Dass „der Einzelne selbst denken lernen möge, damit er mit seinen Mitmenschen räsonieren könne und die Welt also vernünftiger werde. Denn: Wer räsoniert, nimmt Wissen nicht als gegeben hin und macht es – zur Zeit der Aufklärung und auch nachher keine Selbstverständlichkeit – öffentlich“, so Urs Hafner in der NZZ.
Mit der Übersiedlung der Firma nach Leipzig verwirklichte Brockhaus ein seit langem gehegtes Vorhaben – den Bau einer eigenen Druckerei. Fremde Druckereien konnten die steigende Nachfrage nach dem Konversations-Lexikon nämlich kaum noch bewältigen. Außerdem gab er das später ebenfalls weit verbreitete „Handbuch der deutschen Literatur“ heraus. Brockhaus selbst trat im Jahrgang 1822 unter dem Pseudonym „Guntram“ mit der Erzählung „Die Nebenbuhlerin ihrer selbst“ als Schriftsteller auf, war damit aber wenig erfolgreich. Mit der von dem Naturforscher Lorenz Oken herausgegebenen Isis oder Encyclopädische Zeitung von Oken geriet er mehrfach an den Rand eines Verbots durch die Zensur.
Die Reihe Zeitgenossen. Biographien und Charakteristiken bildete den Hauptteil seiner journalistischen Verlagstätigkeit in Leipzig. Das Werk stellte die Biografien von damals noch lebenden oder bereits verstorbenen Personen der Zeitgeschichte vor und übernahm damit ein Konzept, das sich zuvor bereits in England bewährt hatte. Autoren waren etwa Varnhagen von Ense und August Wilhelm Schlegel. Neben dem weiteren Ausbau des enzyklopädischen Programms seines Verlages wagte sich Brockhaus auch an die Veröffentlichung der Memoiren Casanovas. Das Werk wurde ein voller Erfolg und der Ausgangspunkt einer umfangreichen Casanova-Literatur im Brockhaus-Verlag, der nun ein spezielles Casanova-Archiv anlegte. 2010 verkaufte die Familie Brockhaus das Manuskript der Memoiren an die französische Nationalbibliothek – für siebeneinhalb Millionen Euro, wie gemunkelt wurde. Brockhaus hatte es 1821 für 200 Taler erworben.
„Was er geschaffen hat, soll fortleben!“
Mit seinem Tod am 23. August 1823 verloren die deutschen Verleger einen vielseitig gebildeten Menschen mit großer Verehrung für das Wissen und Können seiner Autoren, über den Heinrich Heine, trotz der Ablehnung eines Gedichtbandes urteilte: „…ein Mann von angenehmer Persönlichkeit. Seine äußere Repräsentation, sein scharfblickender Ernst und seine feste Freimütigkeit lassen in ihm jenen Mann erkennen, der die Wissenschaften und den Meinungskampf nicht mit gewöhnlichen Buchhändleraugen betrachtete.“ Gleichsam als Vorgriff auf die Zukunft schrieb sein Sohn Heinrich kurz nach dem Tode des Vaters in sein Tagebuch: „Was er geschaffen hat, soll fortleben!“
Der Brockhaus war Vorbild vieler ausländischer Lexikaprojekte, darunter das 26-bändige niederländische Großlexikon Winkler Prins Geïllustreerde Encyclopaedie (1870–1882) oder auch eine 43-bändige russische Enzyklopädie (1890–1906). Zwischen Oktober 1936 und März 1938 veröffentlichte die Redaktion, dem neuen Zeitgeist entsprechend, eine vierbändige Ausgabe „Der Neue Brockhaus“, die durch einen Atlasband ergänzt und nicht mehr Konversationslexikon, sondern „Allbuch“ genannt wurde. Eine kompromisslose Attacke gegen das enzyklopädische Wissensmodell ritt der 1948 verstorbene französische Autor Antonin Artaud: Es erlaube irgendwelchen Pedanten, ihre „geistigen Beschränktheiten zu kanalisieren“.
Der Verkauf der letzten, 21. Auflage war so schlecht verlaufen, dass Brockhaus mit einem Verlust in der Größenordnung von mehreren Millionen Euro abschließen musste. Die für den 15. April 2008 angekündigte Lancierung des kostenlosen Onlineportals wurde auf unbestimmte Zeit verschoben und später ganz abgesagt. Die Brockhaus-Enzyklopädie wurde schließlich rückwirkend zum 1. Februar 2009 durch die Bertelsmann-Tochter Arvato übernommen, die Mitte 2013 verlauten ließ, die „Brockhaus-Enzyklopädie“ nicht weiterzuführen. Die Marke hat sich seitdem vom Wissens- zum Bildungsanbieter gewandelt und bietet neben Online-Nachschlagewerken bestehend aus Enzyklopädie, Jugendlexikon und Kinderlexikon, noch digitale Lehrwerke, E-Learning-Material sowie englischsprachige Lehrvideos an.
In der „schönen neuen Medienwelt“, in der das Digitale und das dynamisch Bewegte eine unwiderstehliche Anziehungskraft ausüben, wirkten die in schwarzes Leder eingebundenen Wälzer, auf deren Rücken goldfarbene Lettern prangen, seit spätestens der Jahrtausendwende wie Dinosaurier. Die Standardausgabe wurde bei Komplettabnahme zu einem Gesamtpreis von 2.820 Euro verkauft. Dem Verlag zufolge wiegen die Bände zusammen 70 Kilogramm und nehmen 1,70 Regalmeter ein. Die 30 Bände bieten zwar 300 000 Artikel, doch die deutschsprachige Wikipedia stellt bereits über eineinhalb Millionen bereit – und das obendrein noch kostenlos. Doch das Verdienst, das bedeutendste Nachschlagewerk deutscher Sprache geschaffen zu haben, das sich im Laufe seiner Geschichte zum zentralen Träger des Wissens unserer Gesellschaft entwickelte, ist Brockhaus nicht zu nehmen.