Die Vaterlandsverräterin
6. Mai 2022 von Thomas Hartung
Nach ihrem Übernacht-Erfolg im „Blauen Engel“ gestaltete sie ihre nicht minder spektakulären Auftritte als begnadete Köchin, Idealmutter, Liebhaberin, Stilikone und Antifaschistin rasch selbst. Genau wie die der GI-Unterhalterin im 2. Weltkrieg und noch drei Jahrzehnte lang der glamourösen alterslosen Show-Diva danach. Was nicht in ihre perfekten, mutigen und mühsam ausgefeilten Selbstdarstellungen passte, stritt und streifte sie schlicht ab. Darunter auch ihre zwei Jahre ältere Schwester Elisabeth, die sie 1945 in Bergen-Belsen wiederfand: Hier betrieb sie zusammen mit ihrem Mann eine kleine Kantine für die Wehrmacht, im Truppenlager-Kino in den Kasernen der Panzerschule – nur wenige hundert Meter entfernt vom KZ, errichtet zur Entspannung der Soldaten wie der SS-Leute.
Die Nachbarschaft zum Todeslager, der ständige Kontakt zum SS-Lagerpersonal und der wirtschaftliche Gewinn, den sie als Kantineninhaber daraus zogen, rückten Elisabeth nebst Mann Georg moralisch gefährlich nahe an die Täter. Diese Verwandtschaft konnte ihren Weltruhm beschädigen – weshalb sie sie rasch umdeutete. Doch sprach Elisabeth tatsächlich noch Jahre nach dem Krieg von der „moralischen Integrität“ des Dritten Reichs: Die Nazis hätten, bei allem Übel, doch nur die deutsche Ehre wiederherstellen wollen. Kein Wunder, dass sie die verlogene Mär vom Nazi-Opfer Elisabeth bald wieder aufgab und die Schwester fortan lieber verleugnete, obwohl der geschwisterliche Kontakt privat bis zu Elisabeths Tod 1973 unverändert bestehen blieb.
Zu prominenten Fans ihrer Bühnenkunst zählen Willy Brandt und Ronald Reagan gleichermaßen wie David Bowie, die Beatles, Bryan Ferry, Udo Lindenberg, Ute Lemper, Jean Cocteau, Karl Lagerfeld oder die ebenfalls aus Berlin stammende Hildegard Knef, mit der sie eine tiefe Freundschaft pflegt. Beide überführen in der Nachkriegszeit ihr charismatisches Können erfolgreich auf die Chanson-Bühne, wo sie mit Stimmen begeistern, deren Charme vor allem aus der Verweigerung von Perfektion und prätentiösem Ton erwächst. Ernest Hemingway, zeitweise ihr Liebhaber, bringt die Faszination von ihr einmal so auf den Punkt: „Selbst wenn sie nichts anderes als ihre Stimme hätte, könnte sie damit dein Herz brechen“: Marlene Dietrich, die am 6. Mai vor 30 Jahren starb.
„Nimm dich in Acht vor blonden Frau‘n“
Marlene kommt am 27. Dezember 1901 in Berlin-Schöneberg als Marie Magdalene Dietrich zur Welt. Ihre Eltern sind ein preußischer Polizeioffizier und eine Juwelierstochter. Aufgewachsen in gutbürgerlichen Verhältnissen, genießt sie früh außer Schulstunden auch privaten Unterricht und den restlichen Tag die Rundumbetreuung einer Gouvernante. Einen ersten Einschnitt in ihr behütetes Leben stellt der Tod ihres Vaters 1907 dar, und auch der Stiefvater lässt 1917 als Leutnant schon früh sein Leben. Das habe zur Vatersehnsucht in ihren vielen Beziehungen geführt, so Hellmuth Karasek im Spiegel. Sex sei ein nützliches Mittel, um ein emotionales Gleichgewicht herzustellen, „aber keine ihrer Affären hatte auch nur vorübergehend jene Ausschließlichkeit, die auf einen Wunsch nach tiefer, geschweige denn dauerhafter Liebe schließen lässt.“
Nachdem die musikalisch begabte Marlene früh privaten Klavier- und Geigenunterricht erhält, beginnt sie 1919 ein Studium in Weimar zur Konzertgeigerin. Über ihre Studienzeit ist wenig überliefert, ebenso wie über die Gründe der Mutter, ihre Tochter 1921 praktisch über Nacht zur weiteren Ausbildung nach Berlin zurück zu holen. Kurz darauf beendet eine durch häufiges Üben verursachte Sehnenscheidenentzündung jäh Marlenes Karrierewünsche. Ihre Liebe zu Literatur bringt die Anfangszwanzigerin auf die Idee, ihr Glück am Theater zu versuchen: „Das Theater war der einzige Ort, wo man schöne Texte und schöne Verse vortragen konnte, wie die von Rilke, die mir das Herz brachen… Gibt’s was Schöneres als Rilke? Nein, nein, niemals!“ Sie absolviert die Max-Reinhardt-Schauspielschule und ergattert ab 1922 erste kleine Rollen an Theater, in Revues und Kabaretts als Fotomodell, Tanzgirl und Statistin. Ihr Leinwanddebüt gab sie als Zofe in „So sind die Männer“ (1923); „eine Kartoffel mit Haaren“, sagte sie später über die Rolle. In 18 Stummfilmen wird sie verpflichtet.
Während der Dreharbeiten zum Film „Tragödie der Liebe“ lernt Marlene den Regieassistenten Rudolf Sieber kennen, den sie ein Jahr später heiratet. Im Dezember 1924 kommt die Tochter Maria zur Welt. Ihre zahlreichen Engagements für zumeist unbedeutende Unterhaltungsfilme der 20er, oft auch durch Ehemann Rudi vermittelt, führen später zu phantasievollen Interpretationen – die Zeit vor dem „Blauen Engel“ lässt sie in ihren Erinnerungen später konsequent aus. Doch ohne ihre Rolle in „Zwei Krawatten“ mit Hans Albers und den Comedian Harmonists wäre ihr Leben anders verlaufen. Denn an einem der Abende sitzt auch Regisseur Josef von Sternberg im Publikum, der nach einer weiblichen Besetzung für eine Verfilmung des Heinrich Mann-Romans „Professor Unrat“ sucht. Begeistert von ihrer unterkühlten Ausstrahlung, lädt er die Jungschauspielerin nach der Vorstellung zu Probeaufnahmen für das Filmprojekt „Der Blaue Engel“ aufs Ufa-Gelände nach Babelsberg ein.
Seit dem Casting ist Dietrich als Bartänzerin Lola Lola gesetzt, sehr zum Missfallen Heinrich Manns, der seine Lebensgefährtin Trude Hesterberg für die Rolle empfahl. Auch der eigentliche Star des Films, der bereits in den USA zu Ruhm gekommene Professor Unrat-Darsteller Emil Jannings, hat nach der Uraufführung am 1. April 1930 im Berliner Gloria-Palast seine Probleme damit, dass ihm in Filmkritiken weniger Platz eingeräumt wird als der Dietrich, dem vermeintlich unbeschriebenen Blatt. Sie bekommt für die Rolle 20.000 Reichsmark, Jannings das Zehnfache. Das Berliner Premierenpublikum feiert sie bereits wie einen Star, und der Rest der Welt reiht sich bald ein. Ihre frivol zur Schau gestellte Unschuld im „Blauen Engel“ bleibt Marlene lebenslang als Image erhalten. Neben ihrer frechen Berliner Gören-Schnauze begeistert besonders ihr Interpretationstalent der Friedrich Hollaender-Filmkompositionen. „Männer umschwirrn mich wie Motten das Licht“, singt sie in weiser Voraussicht im Filmhit „Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt“, und auch „Ich bin die fesche Lola“ und „Nimm dich in Acht vor blonden Frau‘n“ mutieren zu Erfolgsschlagern.
„mein Geschöpf“
Zwischen ihr und Sternberg beginnt eine zarte Romanze; das Erfolgspaar arbeitet danach noch für weitere sechs Paramount-Filme in den USA zusammen, darunter der „Blonden Venus“ (1932) im Hosenanzug und „Der Teufel ist eine Frau“ (1935). Nicht all ihre Produktionen werden Kassenmagneten, belegen dafür aber von Sternbergs unnachahmliches Talent, per gezielter Ausleuchtung von Dietrichs hohen Wangenknochen, den sinnlichen Lippen und ihrem männermordenden Augenaufschlag in künstlerischer Hinsicht Maßstäbe zu setzen. Sie ging so weit, sich für die Betonung ihrer Wangenknochen vier Backenzähne ziehen zu lassen. Unter Sternbergs Führung vollzieht Marlene die Wandlung von der pummeligen Großstadt-Göre zum erotischen und unnahbaren Vamp. Die Dietrich nennt nicht umsonst ihren Entdecker mitunter halb scherzend „Gott“, er sie im Gegenzug „mein Geschöpf“. Alle künftigen Regisseure der Diva müssen sich fortan an von Sternbergs hohen Standards messen lassen. Mit Frack und Zylinder wischt Marlene das herkömmliche Rollenklischee der Frau offensiv beiseite und verleiht ihrem Öffentlichkeitsbild zusätzlich einen androgynen sowie hedonistisch-verruchten Anstrich. Vorwürfe der Bisexualität lassen nicht lange auf sich warten.
Dennoch will Goebbels die Berlinerin unbedingt für den deutschen Film zurückgewinnen: Für jeden Film, den sie in Deutschland dreht, soll sie 200.000 Reichsmark bei freier Wahl des Stoffes, des Produzenten und des Regisseurs erhalten. Doch Marlene macht die Begleitung ihres Mannes zur Bedingung – wohlwissend, dass Rudi Sieber als Jude niemals Teil dieses Angebots sein würde. Sie wird eine erbitterte Feindin Hitlers und gilt in ihrer Heimat erst als „Judenfreundin“, später als „Ami-Hure“. Nach dem Cut mit Sternberg arbeitet sie mit dem emigrierten Ernst Lubitsch zusammen und erlebt, wie ihr heller Stern langsam erblasst. 1938 nimmt sie die amerikanische Staatsbürgerschaft an, kehrt Hollywood den Rücken und verbringt in Europa viel Zeit mit ihrer Familie und rasant wechselnden Liebschaften. Im Sommer 1939 – sie weilt mit ihrem Liebhaber Erich Maria Remarque gerade an der französischen Mittelmeerküste – erhält sie ein Western-Angebot und sagt zu. Mit „Der große Bluff“ an der Seite von James Stewart feiert Marlene ein überraschendes Comeback, der Thekenschunkler „The Boys In The Backroom“ mausert sich zu einem ihrer bekanntesten Songs.
Nach einigen weniger Aufsehen erregenden Filmen fühlt sich die Schauspielerin 1943 in der Pflicht, die GIs im Kampf gegen Hitler-Deutschland zu unterstützen. Auch Schauspieler Jean Gabin, mit dem sie zu jener Zeit liiert ist, tritt in die französische Armee ein. Marlene meldet sich für die amerikanische Truppenbetreuung an und reist bis 1945 teilweise an vorderster Front von Grönland über Frankreich bis Nordafrika. Ein Filmstar in Uniform, ohne Leibwächter und Stargehabe – das macht Eindruck auf die Hundertschaften an Soldaten, die Marlene im Gegenzug auf Händen tragen. Später gesteht sie, ihre Zeit bei den Soldaten sei die glücklichste ihres Lebens gewesen. Eine jener Shows vor alliierten Truppen findet 1945 sogar in der niederbayerischen Spargelstadt Abensberg statt. Nach dem Krieg erhält sie die „Medal Of Freedom“ als höchste zivile Auszeichnung des US-amerikanischen Kriegsministeriums, Frankreich ernennt sie zum „Ritter der Ehrenlegion“.
„zu Tode biografiert“
1945 stirbt Marlenes Mutter im ausgebombten Berlin, auch das verheißungsvoll gestartete Liebesglück mit Gabin geht in die Brüche. Grundsätzlich ist es Dietrich, die auf der Stelle kehrt macht, sobald ihr ein Liebhaber zu nahe kommt oder gar mehr Aufmerksamkeit von ihr einfordert. Seitenlange Liebesbriefe ihrer Verehrer beantwortet sie in der Regel mit wenigen Sätzen, oft auf eigenen Autogrammkarten. Auch als der von Kinderwünschen getriebene Gabin ihr seine Familienplanungen eröffnet, bleibt sie zurückhaltend. Gabin zieht die für Marlene wohl ungeahnte Konsequenz und wendet sich von der Schauspielerin ab: 1949 heiratet er Christiane Fournier, die ihm drei Kinder schenkt. Somit ist Gabin der einzige Mann, der die Dietrich je verlassen hat. Vergessen konnte sie ihn nie.
Doch längst ist Marlene wieder mit ihrer Karriere beschäftigt, die sie mit der ihr eigenen Gründlichkeit und Ausdauer vorantreibt. Sie nimmt Rollen in Billy Wilders „Eine auswärtige Affäre“ (1947), Alfred Hitchcocks „Die rote Lola“ (1950) und Fritz Langs „Engel der Gejagten“ (1952) an, moderiert Radio-Shows und spricht Krimi-Hörspiele ein. Bis in die 60er Jahre ist sie fast ausschließlich als Diseuse und Entertainerin auf Achse und findet in Orchester-Dirigent Burt Bacharach erneut einen feinsinnigen Förderer ihres Talents. Der Startschuss für ihre zweite Karriere fällt 1953 im Hotel „Sahara“ in Las Vegas.
Mit einer Mischung aus alten Filmsongs und Neuinterpretationen von Hollaender, Cole Porter, Bob Dylan oder Pete Seeger nimmt die Dietrich in atemberaubenden Bühnenoutfits die Herzen des Theaterpublikums für sich ein. So sorgt ihr Bühnenmantel aus Brustdaunen von Schwänen mit einer drei Meter langen Schleppe immer für großes Aufsehen; angeblich sollen 3000 Schwäne für zwei dieser Mäntel ihr Leben gelassen haben. Nur bei ihrer Deutschland-Rückkehr 1960 wird sie unschön von ihrer Vergangenheit eingeholt. Zahlreiche Medien versuchen teils populistisch, teils hetzerisch ihre Haltung während des Zweiten Weltkriegs gegen sie auszuspielen: „Die war‘n mir beese“, sagte sie oft. 1961 hatte Dietrich ihre letzte Hauptrolle in dem Film „Judgment at Nuremberg“, in dem sie die Witwe eines zum Tode verurteilten deutschen Generals mimte.
Reibungsloser verlaufen die Auslandsreisen: Sie singt in Paris und Cannes (1962), Monte Carlo und Mexico City (1963), Leningrad und Edinburgh (1964) oder auch Südafrika und Australien (1965). Sie war nach dem Zweiten Weltkrieg die erste deutsche Künstlerin, die in Russland auftrat, und die erste, die in Israel deutsche Texte auf der Bühne singen durfte. In jener Zeit besucht Marlene auch immer mal wieder die Schweiz, wo sie ihre berüchtigten Frischzellenkuren erhält, mit denen sie das Altern aufzuhalten versucht. Doch natürlich wird auch ein „Blauer Engel“ irgendwann flügellahm. Nach einem weiteren Bühnensturz 1975 in Sydney, bei dem sie einen Oberschenkelhalsbruch erleidet, beendet sie im Alter von 74 Jahren ihre Laufbahn als Showstar. Die Einsamkeit, eine Legende zu sein, überfällt sie am Ende ihres Lebens.
Im Film „Schöner Gigolo, armer Gigolo“ mit David Bowie hat sie 1978 einen letzten Kurzauftritt. „Der lange Fall der Filmgöttin – 13 Jahre auf dem Sterbebett“, titelte der Spiegel. 1987 publizierte die Diva ihre Memoiren unter dem Titel „Ich bin, Gott sei Dank, Berlinerin“. Bis zu ihrem Tod lebt sie abgeschottet sowie alkohol- und tablettenabhängig in ihrem Pariser Appartement, nicht gewillt, der Öffentlichkeit auch nur einen winzigen Blick auf ihren alternden Körper zu gestatten. 40.000 Mark nahm sie zuletzt für ein Stern-Interview. Ihr Grab befindet sich neben dem ihrer Mutter auf dem Friedhof Schöneberg an der Stubenrauchstraße. Die Grabinschrift „Hier steh ich an den Marken meiner Tage“ ist eine Zeile aus Theodor Körners Sonett „Abschied vom Leben“.
„Ich bin zu Tode fotografiert und zu Tode biografiert worden“, klagt sie 1983 in Maximilian Schells ergreifender Dokumentation, der Dietrich als einer der wenigen engen Freunde im Alter noch einmal besuchen darf. Für seinen Oscar-nominierten Film „Marlene“ führt Schell mit ihr sechs Tage lang Gespräche in ihrer Wohnung und nimmt diese auf Tonband auf, das Filmen ist selbstredend auch ihm strengstens untersagt. Das Ergebnis beeindruckt: In Dietrichs brüchiger und dauernörgelnder Stimme spiegelt sich einerseits die Unzufriedenheit der Diva wieder, die Welt nicht mehr aktiv mitgestalten zu können, wie auch ihr unbedingter Wille, den Mythos Marlene Dietrich bis zum Tod zu kontrollieren. Dabei konnte sie ätzend, ja verletzend zu Kollegen, anderen Promis, ja selbst Freunden sein – Sternberg bekam am Ende seines Lebens Wutausbrüche, wenn er nur ihren Namen hörte. Die Liste ihrer Telefonpartner, beginnend mit der Queen, war ein Who’s Who der Elite der Welt.
Fritz Lang soll gesagt haben, Marlene sei nie eine gute Schauspielerin gewesen, aber sie habe ohne Unterlass eine Rolle gespielt: „Sie weiß selbst nicht mehr, wer sie ist.“ Als „Vamp und Emanze zugleich“ vereinte sie „Hollywood-Glamour und preußische Disziplin“, so Karasek. „Keine wird je sein wie sie“, bilanziert Martina Pock in der Süddeutschen. In Berlin erinnern der Marlene-Dietrich-Platz und die Dauerausstellung „Marlene Dietrich“ im Filmmuseum an sie. Eine Luxus-Edition des Füllfederhalter-Herstellers Montblanc und ein ICE 4 tragen ihren Namen, eine deutsche Briefmarke ihr Konterfei. Das American Film Institute wählte sie 1999 unter die 25 größten weiblichen Leinwandlegenden aller Zeiten. Durch Joseph Vilsmaiers Film „Marlene“ (2000) mit Katja Flint in der Titelrolle setzte hierzulande eine neue Dietrich-Manie ein.