Scaramanga, Saruman – und Sänger
27. Mai 2022 von Thomas Hartung
Schwarz die stechenden Pupillen, rot die lustvollen Augäpfel, kalkweiß das schmale aristokratische Gesicht – und wölfisch die Fangzähne: Dracula betritt die Szene. Er war der erste transsilvanische Blutsauger in Farbe, der von Bela Lugosi, Hollywoods Dracula der 1930er Jahre, als seinen würdigen Nachfolger gerühmt wurde. Sieben Mal verkörperte er den elegant-erotischen Verführer-Vampir in B-Movies der legendär-spleenigen Londoner „Hammer Film Productions“, die ihn 1957 unter Vertrag genommen hatte, als während des Kalten Krieges das Gruselgeschäft blühte. Er sei, so Horror-Exper-te Eric Nuzum im Tagesspiegel, ein zeittypischer Katalysator für die Albträume der Nachkriegsära gewesen: Die Menschen fürchteten „Supermächte, die zutiefst böse waren und deren Motivation man nicht verstand“. Und so habe er in seinem Spiel „kein Motiv, das macht ihn so beängstigend“.
Damit ging für ihn als Mittdreißiger nach zahllosen kleinen Rollen endlich der Stern einer einzigartigen Karriere in der schwarzen Romantik auf. Ganz gleich, in welches Schocker-Kostüm der hagere Fast-Zweimeter-Mann schlüpfte, sein exzentrischer Ernst setzte Maßstäbe: Als Frankenstein-Kreatur, Rächer-Mumie und durstiger Vampir erlaubte er sich archaisches Pathos ohne psychologischen Hintergrund. Seine Monster und Schurken waren Ikonen des Bösen schlechthin, Wiedergänger schauriger Mythen, die der Opernsänger mit melodiösem Bass und elegantem Timing zu Klassikern veredelte. Gelegentlich streute er Auftritte als Edgar-Wallace-Polizist oder Comedy-Blutsauger ein, doch sein eigentliches Niveau erreichte er in seinen Rollen als Finsterling: „Hier repräsentierte er das Faszinosum des Irrationalen, die Kehrseite der Logik pädagogischen Konfliktmanagements“, befand Claudia Lenssen in der Zeit.
Fantasy-Regisseure wie Peter Jackson, George Lucas und Tim Burton sind mit seinen ikonischen Rollen aufgewachsen – und boten ihm bis ins hohe Alter immer wieder Gastrollen an. Manchmal spielte man miese Tricks, um ihn in ein, zwei Szenen und seinen Namen auf den Plakaten zu einem Film zu haben – sogar in einem Softporno tauchte er unversehens auf. Der bizarre Zauber seiner typischen Figuren schien immer wieder aufzuerstehen, auch oder gerade wenn sie durch Explosionen, Feuersbrünste, zusammenbrechende Häuser oder zerberstende Eisschollen pittoresk zugrunde gingen. Seine „Leinwand-Existenz war ein Spektakel, in dem das Böse durch wollüstig zelebrierte symbolische Tode aus der Welt geschafft wird“, so Lenssen: Sir Christopher Frank Carandini Lee, der am 27. Mai 1922 als Sohn eines britischen Offiziers und einer italienischen Gräfin, deren Adelsgeschlecht sich angeblich bis zu Karl dem Großen zurückverfolgen lässt, in London geboren wurde. Die Genealogie gefiel ihm: Seine eigene Filmfirma wird er „Charlemagne“ nennen.
Dracula wird geboren
Er wurde mit seiner Schwester Xandra in der privaten „Summer Fields“-Schule unterrichtet und genoss dabei auch eine Ausbildung als Opernsänger: an Richard Wagner lernte er Deutsch. Später bekam er ein Stipendium für das renommierte Eton College und arbeitete für einen Wochenlohn von einem Pfund als Botenjunge in der Londoner Innenstadt. Am 17. Juni 1939 war er Augenzeuge der Hinrichtung des Serienmörders Eugen Weidmann, der letzten öffentlichen Hinrichtung durch die Guillotine in Frankreich. Während des zweiten Weltkrieges diente er in der Royal Air Force sowie in Spezial-Einheiten: Nach Kriegsende verbrachte er die letzten Monate seines Militärdienstes mit dem Aufspüren von Kriegsverbrechern. Lee wurde ausgezeichnet und erwarb den Rang eines Flight Lieutenant, was etwa dem Hauptmann entspricht. Nach Kriegsende beschloss er, Schauspieler zu werden, aber alle Agenten winkten ab, weil er bei seiner Größe jeden Hauptdarsteller zum Zwerg degradiert hätte. Lee ließ sich jedoch nicht entmutigen; seine erste Filmrolle hatte er in „Im Banne der Vergangenheit“ (1947).
Zehn Jahre lang blieben Nebenrollen die nüchterne Realität seiner Karriere, außerdem arbeitete er als Synchronsprecher und Stuntman. Die Wende kam 1957 mit der Hauptrolle als Monster in „Frankensteins Fluch“ und ein Jahr später mit der Rolle des Grafen „Dracula“, beide unter der Regie von Terence Fisher. Innerhalb von zwei Jahren stand Lee für zwei Dutzend Filme vor der Kamera, darunter auch „Der Hund von Baskerville“ (1959) und „Die Rache der Pharaonen“ (1960). So begann eine endlose Serie meist billig produzierter Kinostreifen, die ihn neben Peter Cushing, mit dem er 20 Filme drehte, und Vincent Price zum populärsten Darsteller des Horrorfilms machten. Lee verband eine enge Freundschaft zu beiden, mit Boris Karloff und Ray Harryhausen wohnte er in den 1960er-Jahren in London Haus an Haus. Seit 1961 war Lee mit dem früheren dänischen Fotomodell Birgit Kroenke verheiratet, aus der Verbindung ging 1963 Tochter Christina hervor. Die Familie sollte später einige Zeit in der Schweiz und in Kalifornien leben.
In den 1960er Jahren wirkte der charismatische Lee mit eigener Stimme in den deutschsprachigen Edgar-Wallace-Verfilmungen „Das Rätsel der roten Orchidee“ und „Das Geheimnis der gelben Narzissen“ mit. Da er acht Sprachen beherrschte, konnte er in Russisch, Französisch, Italienisch, Deutsch und Spanisch in zahlreichen anderen Ländern rund um den Erdball drehen. Zwischen 1965 und 1969 sah man ihn in der Titelrolle mehrerer „Dr. Fu Man Chu“-Filme. Aus Sorge, nur über die Rolle als Dracula definiert zu werden, weigerte sich Lee ab Mitte der 1970er Jahre, in weiteren Dracula-Adaptio-nen, ja insgesamt Horrorproduktionen mitzuwirken: In manchen Biographien heißt es bis heute, er sei in Rumänien geboren worden. 1974 verkörperte er Francisco Scaramanga, den „Mann mit dem goldenen Colt“ als Gegenspieler von James Bond. Bond-Erfinder Ian Fleming, dessen Groß-Cousin er war, hatte Lee anfangs auch für die Rollen von Dr. No und sogar Bond selbst vorgeschlagen. In Richard Lesters drei Musketier-Filmen spielte er Graf Rochefort. Immer wieder überraschte Lee sein Publikum nun durch seine Vielseitigkeit, so schon als Meisterdetektiv in „Sherlock Holmes und das Halsband des Todes“ (1962) oder als Prinz Phillip in „Charles & Diana – A Royal Love Story“ (1982).
„Meister des Schaurigen“
Als 1983 der köstliche Zeichentrickfilm „Das letzte Einhorn“ deutsch synchronisiert wurde, lieh er dem bösen König Haggard seine Stimme in deutscher Sprache, dies wiederholte er ein Jahr später bei dem dänischen Zeichentrickspaß „Walhalla“ und sprach Thor. Am 31. März 1993 veröffentlichte die britische Presse Nachrufe auf den angeblich verstorbenen Schauspieler – mehr als 22 Jahre vor seinem Tod. 1995 spielte er die Rolle des Pharao Ramses II. in „Moses“ als Teil der von der Kirch-Gruppe produzierten Gesamtverfilmung der Bibel, über die er sich sehr positiv äußerte. Der Streifen mit seiner Lieblingsrolle, dem Gründer Pakistans Ali Muhammad „Jinnah“ als Gegenspieler von Mahatma Ghandi (1998), kam zu seinem Leidwesen nie in westliche Kinos. Das Klischee des Ungeheuers ließ ihn aber nicht los. Nach der Jahrtausendwende spielte er einerseits in „Star Wars“ II und III den Jedi-Grafen Dooku, der als Lord Tyranus zur dunklen Seite der Macht wechselt. Andererseits sah man ihn in der Herr-der-Ringe-Trilogie als weißbärtigen Zauberer Saruman – Lee war der einzige unter den Mitgliedern der Filmbesetzung, der Tolkien noch persönlich getroffen hatte: In einem Pub in Oxford.
Auch in der dreiteiligen Verfilmung des Tolkien-Romans „Der Hobbit“ spielte er wieder diese Rolle. In Tim Burtons Literaturverfilmung „Charlie und die Schokoladenfabrik“ verkörperte er den bösartigen Zahnarzt Dr. Wonka, im packenden Mystery-Actionfilm „Der letzte Tempelritter“ an der Seite von Nicolas Cage und Ron Perlman den Kardinal D’Ambroise und in Martin Scorseses Literaturadaption „Hugo Cabret“ an der Seite von Jude Law und Ben Kingsley den Monsieur Labisse. Im Rahmen der 55. Berliner Filmfestspiele trat Lee am 14. Februar 2005 als prominenter Gastgeber der Galaveranstaltung „Cinema for Peace“ in der deutschen Hauptstadt auf. Eine seiner letzten Arbeiten für den Film war der amüsante Fantasy-Streifen „Angels in Notting Hill“ (2014), wo er als „Boss“ der Engel auftrat. Insgesamt wirkte er 67 Jahre lang in rund 280 Film- und Fernsehproduktionen mit, was ihm einen Eintrag ins Guinness-Buch der Rekorde bescherte. Zwischendurch wurde er 2009 von Elisabeth II. in den Rang eines Knight Bachelor erhoben und durfte sich nunmehr „Sir“ nennen.
Verblüffender Weise kehrte er am Ende seines Lebens zu seinen Wurzeln als Sprecher und Sänger zurück. Schon in den 70er Jahren arbeitete er am Rock-Musical „The King of Elfland’s Daughter“ mit und zeigte 1986 stimmliche Wandlungsfähigkeit bei der Aufnahme von „The Soldier’s Tale“ von Igor Strawinsky und Charles-Ferdinand Ramuz für Nimbus Records, wo er als Erzähler, Soldat und Teufel fungierte. Für Nimbus nahm er 1989 unter der Leitung von Yehudi Menuhin auch Prokofjews „Peter und der Wolf“ als Erzähler auf. Später wirkte er auf mehreren Alben der Symphonic-Power-Metal-Band „Rhapsody of Fire“ mit und setzte mit dem „Tolkien Ensemble“ die Gedichte Tolkiens stimmlich und musikalisch in Szene. 2010 veröffentlichte Lee mit „Charlemagne: By the Sword and the Cross“ ein Metal-Konzeptalbum über das Leben Karls des Großen mit zwei Bands und einem 100-Mann-Orchester, das mit dem „Spirit of Metal“ Award ausgezeichnet wurde.
An seinem 90. Geburtstag kündigte Lee eine neue Single an; mit dem dazugehörigen Album „Charlemagne: The Omens of Death“ (2013) ist er der älteste Heavy-Metal-Sänger der Geschichte. Im selben Jahr setzte er noch eins drauf und veröffentlichte zu Weihnachten eine Metal-Version von „Jingle Bells“, womit Lee im Alter von 91 Jahren und 6 Monaten zum ältesten lebenden Künstler wurde, der sich je in den Charts platzierte. Am 7. Juni 2015 starb er, seine Asche wurde auf den Surrey Hills verstreut. Londons damaliger Bürgermeister Boris Johnson würdigte den Verstorbenen, der nie einen Oscar bekam, als „einen der größten britischen Schauspieler“ und „Meister des Schaurigen“. Sein Lieblingsfilm war „The Wicker Man (1973), in dem er Lord Summerisle spielt, den „Herren eines so hippie-esken wie grausamen Sonnen-Fruchtbarkeitskults, den er in merkwürdiger Verkleidung, singend und tanzend, anführt. Er ist, von Dracula bis Summerisle, der große Andere, der dominiert und dem sich zu unterwerfen und auszuliefern die reine Lust ist“, bilanziert Fritz Göttler in der Süddeutschen. Lapidarer könnte man sagen: Niemand wie Lee war so gut darin, böse zu sein.