„je poetischer, je wahrer“
2. Mai 2022 von Thomas Hartung
Wie Joseph von Eichendorff oder Caspar David Friedrich muss er schuld sein. Denn er schrieb: „Der Poet versteht die Natur besser wie der wissenschaftliche Kopf.“ Und so wurde auf der Suche nach einer Erklärung dafür, warum Millionen Deutsche sich gegen das Impfen sträuben und warum ausgerechnet im deutschen Sprachraum die Impfquoten so viel niedriger sind als im gesamten übrigen Europa, seit November 2021 auf die großen Dichter und Maler der Romantik verwiesen. Sie hätten uns mit ihrem sehnsuchtsvollen Hang zur Idylle, zur Gefühlswelt, zur Weltflucht den Verstand, die Logik, die Errungenschaften der Aufklärung ausgetrieben, so Hans Bellstedt im Business Insider.
Es gebe im deutschsprachigen Raum eine „klare geistesgeschichtliche Linie zwischen der Romantik und der Impfskepsis heute“, pflichtet Andreas Speit in der taz bei. In der romantischen Literatur sei „das Natürliche unglaublich verklärt und verabsolutiert“ worden, was „eine Distanz zur vermeintlich kalten Wissenschaft und sogenannten schulischen Medizin bewirken kann“. Doch hätte sich etwa ein Kult um ihn ausgebreitet, hält Johannes Franzen in der FAZ dagegen, „mit blauen Blumen am Parka, dann hätte die Berufung auf das Erbe der Romantik eine ganz andere Energie besessen“. Der poetische Urheber dieses romantischsten aller Motive feierte nun seinen 250. Geburtstag: Georg Philipp Friedrich „Fritz“ von Hardenberg, der sich später Novalis nannte.
Am 2. Mai 1772 kommt er auf dem Rittergut Oberwiederstedt bei Mansfeld als zweites von elf Kindern eines Salinendirektors zur Welt. Im Alter von acht Jahren übersteht er eine schwere Ruhr und wird zunächst von Hauslehrern unterrichtet. Wegen schwerer körperlicher und seelischer Erkrankungen der Mutter kommt der 11-jährige nach Lucklum zum Haus seines Onkels Wilhelm von Hardenberg. Der wünscht für seinen Neffen eine stolze Staatskarriere, der Vater möchte seinen Sohn zum strengen Pietisten erziehen. In diesem Spannungsfeld entwickelt er bald eine unabhängige Urteilsbildung, der Onkel bleibt eine bestimmende Gestalt in Friedrichs Leben. Als 12jähriger versucht er sich an ersten Gedichten.
„die Welt ist öde“
1790 beendet er das Gymnasium in Eisleben und wird wenige Wochen später an der Universität Jena immatrikuliert, hört Philosophie und – beim nur 13 Jahre älteren Schiller, mit der er sich anfreundet – europäische Staatsgeschichte. 1791 wird in Wielands Neuem Teutschen Merkur sein Gedicht „Klagen eines Jünglings“ veröffentlicht, im selben Jahr wechselt er für das Studium der Rechte, Mathematik und Philosophie an die Universität Leipzig und findet in Friedrich Schlegel seinen besten Freund. 1794 schloss er das Jurastudium mit bestem Examen ab und verdingte sich in Tennstedt als Aktuarius (Gerichtsschreiber) beim Kreisamtmann Just, der später sein Biograph wurde.
Während dieser Zeit lernte er im nahen Schloss Grüningen die junge Sophie von Kühn kennen und verlobte sich mit der noch 12jährigen im März 1795. 1796 trat er nach einem Kursus in Chemie eine Stelle als Akzessist bei der Salinendirektion in Weißenfels an – Vorgesetzter wurde sein Vater, der sich jeder Neuerung hartnäckig widersetzte, was reichlich Stoff zu Konflikten gab. Zugleich begann er seine Fichte-Studien: Novalis setzt Fichtes Philosophie vom Selbstbewusstsein des Ich in eine produktive, weltschöpferische Kraft um und nahm sie zum Ausgangspunkt für eine poetische, ja eine Liebesreligion: „je poetischer, je wahrer!“ Nun war das „Nicht-Ich“ ein „Du“, ein gleichwertiges Subjekt.
Sophie starb nach einer Lebererkrankung qualvoll im Alter von gerade fünfzehn Jahren am 19. März 1797, was Hardenberg insbesondere in seinen Dichtungen stark prägte. Er glorifizierte, ja mystifizierte die tote Braut und entwickelte eine Todessehnsucht, die ihn im Jenseits wieder mit ihr zusammenführen sollte und in den ersten Monaten nach ihrem Tod halluzinatorische Formen annahm. So legte er sich zum „Nachsterben“ auf ihr Grab: „Sie ist gestorben, so sterb‘ ich auch, die Welt ist öde. In tiefer, heit‘rer Ruh will ich den Augenblick erwarten, der mich ruft.“ Die Vorstellung hat ihn auch später nie mehr ganz verlassen.
Die Ambivalenz zwischen optimistischem Selbstbewusstsein, der Besinnung auf das Praktische und der schwärmerischen Erhöhung von Dingen und Menschen ins Überirdische werden prägend für Novalis‘ Leben. Um seine Verzweiflung auszugleichen, nimmt er ein neues Studium auf und wird 1797 Gasthörer an der populären Bergakademie in Freiberg. In der Zeitschrift Athenaeum der Gebrüder Schlegel veröffentlicht Novalis 1798 seine „Blüthenstaub“-Fragmente. Hier taucht das Pseudonym Novalis erstmals auf, „welcher ein alter Geschlechtsname von mir ist und nicht ganz unpassend“: Der Name geht auf einen älteren Zweig seiner Familie, das lateinische de novali („Neuland roden“) zurück. Novalis selbst interpretiert den Namen als „einer, der Neuland bestellt“.
„Konstruktion der transzendentalen Gesundheit“
Im Sommer dieses Jahres entstehen auf einer Böhmen-Kur die „Teplitzer Fragmente“. Außerdem schreibt er an „Die Lehrlinge zu Sais“, einem naturphilosophischen Romanfragment mit dem eingebetteten Märchen von „Hyacinth und Rosenblüth“, und er verlobt sich zum zweiten Mal: Mit Julie von Charpentier, der Tochter eines Freiberger Professors. Ende 1799 wird er zum Salinenassesor in Weißenfels ernannt und schließt Bekanntschaft mit dem Kreis der „Jenaer Romantik“, dem die Philosophen Fichte, Schelling und Schleiermacher, die Brüder Schlegel sowie Ludwig Tieck angehören. Es kommt zum legendären „Romantiker-Treffen“ in Jena, auf dem Novalis den gerade entstandenen geschichtsphilosophischen Aufsatz „Die Christenheit oder Europa“ vorträgt.
Darin hat er das Nationale und das Universale in Harmonie gebracht, sein Aufruf zur kulturellen Erneuerung des Abendlandes, einer „spirituellen Wiedergeburt Europas“ kann kaum aktueller sein als heute: „Wo aber keine Götter sind, da walten Gespenster“, mahnte er einst. Seine Zukunftsutopie bedient sich des Idealbildes eines frühmittelalterlichen Christentums und fordert von den Menschen die Erkenntnis der höheren Welt, um aus Europas Zerfall herauszuführen und ein neues goldenes Zeitalter hervorzubringen. Novalis nutzt dabei die für ihn typische Triadenstruktur: Darstellung der glücklichen Urzeit (Christentum im Mittelalter) – Zwischenphase des Zerfalls (Krise Europas) – Wiederherstellung der Urzeit als goldenes Zeitalter. Der Text war dem preußischen Königspaar gewidmet, das darüber nicht erbaut war.
Die Frühromantiker schreiben sich auf die Fahne: „Wir sind auf einer Mission. Zur Bildung der Erde sind wir berufen.“ Einen Zustand zu erreichen, in dem Mensch und Natur harmonieren, ja die Welt zu romantisieren, könnte man das Bildungsziel nennen. Vor allem Novalis strebt eine progressive Universalpoesie an, bei der Philosophie und Dichtung in engem Verhältnis stehen, sich gegenseitig bedingen und scheinbar ausschließende Gegensätze zusammenführen: das Gewöhnliche und das Besondere, das Begrenzte und das Unendliche. „Die Welt romantisieren heißt, sie als Kontinuum wahrzunehmen, in dem alles mit allem zusammenhängt. Erst durch diesen poetischen Akt der Romantisierung wird die ursprüngliche Totalität der Welt als ihr eigentlicher Sinn im Kunstwerk ahnbar und mitteilbar“, so sein oft zitiertes ganzheitliches Credo.
1800 bewirbt er sich als Amtshauptmann für den Thüringischen Kreis; zugleich nimmt die tödliche Tuberkulose Besitz von seinem Körper – bis heute halten sich Gerüchte, er habe sich bei Schiller angesteckt. In der ersten Jahreshälfte schließt er das Vermächtnis seiner Liebe zu Sophie ab: Die „Hymnen an die Nacht“, die ein Gegenreich zur Realität bilden und mit Todessehnsucht und mystisch-erotischen Metaphern spielen: Denn „zugemessen war dem Lichte seine Zeit; aber zeitlos und raumlos ist der Nacht Herrschaft“. Die Nacht als Bindeglied zwischen Realität und mystischer Traumwelt, verwoben mit den Themen Leben und Tod: „Der Tod ist das romantisierende Prinzip des Lebens.“ Wagners „Tristan und Isolde“ ist ohne die Hymnen nicht denkbar.
Außerdem beendet er den ersten Teil des Reisefragments „Heinrich von Ofterdingen“, dem die „blaue Blume“ erscheint und die er „lange mit unnennbarer Zärtlichkeit“ betrachtet: Sie steht für Sehnsucht, Liebe und das metaphysische Streben nach dem Unendlichen. Sein Protagonist ist das Abbild des romantischen Dichters, der im Sinne der transzendentalen Poesie das Diesseits überwindet: „Die Welt wird Traum, der Traum wird Welt.“ Das Credo ist die Poetisierung der Welt durch die kreative Einbildungskraft. Die durch Novalis dargelegte potentielle Wirkkraft des Sängers führte bereits 1812 dazu, dass ihm zunächst August Wilhelm, dann auch Friedrich Schlegel fälschlicherweise das Nibelungenlied zuschrieben.
Doch bereits 1820 wurde die These von Karl Lachmann entkräftet. Ursprünglich sollte das Werk ein Gegenstück zu dem zwar begeistert gelesenen, aber als unzulänglich beurteilten „Wilhelm Meister“ Goethes werden. Novalis’ damalige Kritik daran ist bis heute nicht übertroffen: „Es ist im Grunde ein fatales und albernes Buch – so pretentiös und pretiös – undichterisch im höchsten Grade, was den Geist betrift – so poëtisch auch die Darstellung ist. Es ist eine Satyre auf die Poësie, Religion etc. Aus Stroh und Hobelspänen ein wohlschmeckendes Gericht, hinten wird alles Farçe. Wer ihn recht zu Herzen nimmt, liest keinen Roman mehr.“
„basisdemokratische Volksmonarchie“
Zuletzt setzte sich Novalis mit dem Mystiker Jakob Böhme auseinander; die auf Böhme beruhende Utopie „Alle Menschen sollen thronfähig werden“ klinge nach „einer Art basisdemokratischer Volksmonarchie“, kommentierte Volker Weidemann in der Zeit. Im Dezember 1800 wird Novalis zum Amtshauptmann ernannt, reist im Januar 1801 nach Dresden und kehrt schwerkrank wieder in sein Elternhaus nach Weißenfels zurück. Am 25. März stirbt er hier 29-jährig an einem Blutsturz infolge der Tuberkulose. Sein Bruder Carl und Freund Schlegel sind bei ihm. Mit seinem Tod ordnete er sich wieder in die Familie ein. Von den Kindern der Hardenbergs sind 8 im Alter zwischen 21 und 32 Jahren verstorben, ein Sohn wurde nur 13, einer 37 Jahre alt. Novalis war demnach der „Normalfall“ in dieser Familie.
Im Gegensatz zu anderen Dichtern und Philosophen hat sich Novalis nie aus seiner regionalen Umgebung herausbewegt. Es gab keine Reisen in Metropolen oder andere Länder. Dass ein derart lokal orientierter Mensch in der Lage war, ein so universelles Werk zu schaffen, erstaunt bis heute. Die Entfremdung sowohl vom Anderen als auch von der Natur magisch zu überwinden kann man als Narrativ seiner Romantik deuten: Weil nicht in „Zahlen und Figuren“, sondern in einem „geheimen Wort“ der Schlüssel zum Geheimnis des Universums liegt. Novalis und die Frühromantiker sahen sich als Neuerer, die programmatisch der vordergründigen die transzendentale Welt, das innere Ich entgegensetzten.
Das sahen, beginnend bei Hegel, viele anders: Carl Schmitt war die Romantik zu individualistisch, dem ungarischen Marxisten Georg Lukács wiederum zu völkisch, und auch die 1968er-Bewegung wusste, welcher Geist noch immer unter den Talaren muffte. „Schlagt die Germanistik tot. Färbt die blaue Blume rot!“, lautete ein bekannter Studentenslogan aus jener Zeit. „Zwischen dem Bilde eines schwärmerischen Romantikers, der an Schwindsucht starb, und dem Bilde des hochintellektuellen Dichters und Denkers, für den Poesie ein ‚Tun und Hervorbringen mit Wissen und Willen‘ war und in dessen Bewusstheit sich die moderne Künstlerexistenz vorgebildet fand, klafft ein unüberbrückbarer Riss“, so sein Biograph Hans-Joachim Mähl.
Von Franz Schubert stammen sechs Novalis-Vertonungen. Vielfach sind seine Wirkungen auf den französischen Symbolismus, auf Autoren wie Keats, Poe, Hofmannsthal, Musil oder Benn bezeugt. In den 1970er Jahren übernahm eine deutsche Band den Namen Novalis und vertonte neben eigener Lyrik verschiedene seiner Werke. Bundesfilmpreisträger Herwig Kipping verfilmte 1993 den Ofterdingen als „Novalis – Die blaue Blume“ – es war die letzte Produktion der DEFA. Eine Auswahl der „Geistlichen Lieder“ wie „Wenn alle untreu werden“ oder „Wenn ich ihn nur habe“ wurden schon bald Bestandteil lutherischer Gesangbücher – und sind es bis heute.