„eurasisch-negroide Zukunftsrasse“
26. Juli 2022 von Thomas Hartung
„Der Mensch der fernen Zukunft wird Mischling sein. Die heutigen Rassen und Kasten werden der zunehmenden Überwindung von Raum, Zeit und Vorurteil zum Opfer fallen. Die eurasisch-negroide Zukunftsrasse, äußerlich der altägyptischen ähnlich, wird die Vielfalt der Völker durch eine Vielfalt der Persönlichkeiten ersetzen.“ Es sind diese drei Sätze, um die bis heute erbittert gestritten wird. Für die einen künden sie von einem Plan, eine neue Weltordnung zu errichten – den die anderen als rechtsnationalistische, rassistische Verschwörungstheorie bekämpfen. Ihr Urheber, der Publizist und Diplomat Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi, starb am 27. Juli vor 50 Jahren.
Geboren wurde er am 16. November 1894 in Tokio als zweites von vier Kindern einer Japanerin und eines österreichischen k. und k. Geschäftsträgers aus uraltem brabantischen Adel, der 16 Sprachen sprach und seinen Sohn nach dem Umzug aufs elterliche Schloss Ronsperg in Westböhmen gemeinsam mit Hauslehrern selbst unterrichtete. So dachte er, wie er selbst in seinen Lebenserinnerungen schrieb, „nicht in nationalen Begriffen“. Sein älterer Bruder Johann wird den surrealen Menschenfresser-Roman „Ich fraß die weiße Chinesin“ schreiben. Richard kam ans Theresianum in Wien und studierte danach an der Alma Mater Rudolphina Philosophie und Geschichte. Aus gesundheitlichen Gründen kriegsdienstbefreit, heiratete er 1915 die österreichische Schauspielerin Ida Roland, wurde ein Jahr später zum Doktor der Philosophie promoviert und arbeitete seither als Publizist und Philosoph.
Der Krieg brachte ihn zur Politik: „Den ersten Weltkrieg empfand ich als Bürgerkrieg zwischen Europäern: als Katastrophe erster Ordnung.“ Er entwickelte die visionäre Idee von „Pan-Europa“, die zum Thema seines Lebens wurde. Nach dem Ende der österreichisch-ungarischen Monarchie nahm er zuerst die tschechoslowakische und später die französische Staatsbürgerschaft an. 1922 wurde er Mitglied der karitativ-pazifistischen Wiener Freimaurerloge Humanitas. Ein Jahr später schrieb er sein programmatisches Buch „Pan-Europa“. Die Vorstellung eines europäischen Zusammenschlusses lehnte sich an das idealistische Konzept des Panamerikanismus an und grenzte sich deutlich von nationalen Strömungen wie dem Panslawismus oder -germanismus ab. Er beginnt mit der Feststellung: „Die Europäische Frage gipfelt in den drei Worten: Zusammenschluss oder Zusammenbruch!“
1924 gründete er die Paneuropa-Union als älteste europäische Einigungsbewegung. Coudenhove-Kalergi war damit Vordenker der heutigen „europäischen Idee“, der „europäischen Identität“ zumal. Prinzipien eines Europas in seinem Sinne waren Freiheit, Frieden, Wohlstand und Kultur. Coudenhove-Kalergi entwarf den Zusammenschluss des Kontinents in mehreren Stufen über die Einberufung einer Konferenz, den Abschluss eines Vertrages, die Bildung einer Zollunion bis hin zur Gründung der „Vereinigten Staaten von Europa“. Der von Coudenhove-Kalergi vorgeschlagene europäische Staatenbund von Polen bis Portugal, den er Paneuropäische Union oder Vereinigte Staaten von Europa nannte, sollte als ein politischer und wirtschaftlicher Zweckverband einen erneuten Weltkrieg verhindern. Seit 1924 gab er die Zeitschrift Pan-Europa (Wien–Leipzig) heraus.
„Charakterstärke verbunden mit Geistesschärfe“
Den skandinavischen Staaten dachte er die Rolle zu, für eine Einigung Europas die Initiative zu ergreifen und als Vermittler zwischen den verfeindeten europäischen Staaten zu fungieren. Am ersten Paneuropa-Kongress Anfang Oktober 1926 in Wien nahmen 2000 Personen aus 24 Nationen teil. Die Delegierten wählten Coudenhove-Kalergi zum Präsidenten der Union – ein Amt, das er bis zu seinem Tode innehaben sollte. Das Ehrenpräsidium bestand unter anderem aus dem Außenminister der ČSR, Edvard Beneš, und dem deutschen Reichstagspräsidenten Paul Löbe. Kritisiert wurde von Anbeginn, dass Großbritannien in Coudenhove-Kalergis ursprünglicher Konzeption von Paneuropa nicht vorgesehen war – erst 1939 wurde hier ein Büro eröffnet – und die Sowjetunion aufgrund ihrer geographischen Lage, aber vor allem wegen ihres politischen Systems gänzlich außerhalb der paneuropäischen Betrachtungen blieb, womit von vornherein Konfliktpotential geschaffen war.
Im Jahr zuvor hatte Coudenhove-Kalergi seinen Aufsatzband „Praktischer Idealismus. Adel – Technik – Pazifismus“ veröffentlicht, in dem sich nicht nur die inkriminierten Mischlingssätze, sondern auch Sätze wie die folgenden fanden: „Charakterstärke verbunden mit Geistesschärfe prädestiniert den Juden in seinen hervorragendsten Exemplaren zum Führer urbaner Menschheit, zum falschen wie zum echten Geistesaristokraten zum Protagonisten des Kapitalismus wie der Revolution.“ Zwischen „visionär“ und „abgehoben“ bewegen sich die Einschätzungen von Kritikern, die einerseits aristokratischen Dünkel erkennen, andererseits als Fortführung des Werks seines Vaters interpretierbar war, dessen Studie über das Wesen des Antisemitismus er später neu verlegte. Er habe lediglich eine Realität beschrieben, das, „was seiner Ansicht nach geschehen wird“, so Jürgen Langowski dagegen auf dem Blog Holocaust-Referenz.
Im Mai 1930 folgte der zweite Kongress in Berlin, 1932 ein dritter in Basel. Als sich die Paneuropa-Union zum vierten Mal im März 1935 erneut in Wien traf, hatten sich die politischen Rahmenbedingungen jedoch grundlegend geändert. Wenige Monate nach der nationalsozialistischen Machtergreifung waren in Deutschland auch Bücher Coudenhove-Kalergis verbrannt worden, seine Organisation, die er als Gegengewicht zu den Hegemonialbestrebungen Hitlers aufbauen wollte, verboten. In den Jahren 1933 bis 1936 versuchte Coudenhove-Kalergi in mehreren Treffen vergeblich, Mussolini für die Paneuropa-Idee zu gewinnen. Neben der Vorstellung, in Mussolini eine Stütze für das von der NS-Regierung zusehends bedrohte Österreich zu haben, spielte auch die Faszination Coudenhove-Kalergis für den autoritären Politikstil Mussolinis eine gewisse Rolle.
Doch beginnend mit der Besetzung Österreichs 1938 musste der Präsident der Paneuropa-Union ins Exil gehen, zuerst nach Frankreich, dann in die USA, wo er die gesamte Zeit des Zweiten Weltkriegs verbrachte. Als Immigrant lehrte Coudenhove-Kalergi von 1942 bis 1946 an der New-York-Universität Geschichte, zunächst als Lehrbeauftragter (Lecturer), ab 1944 als Professor und Leiter eines neugegründeten Forschungsseminars zur europäischen Nachkriegsföderation. Der 5. Paneuropa-Kongress in New York 1943 blieb weitgehend bedeutungslos.
Als Coudenhove-Kalergi im Juni 1946 in die europäische Heimat zurückkehrte, waren die ersten Europainitiativen bereits neu entstanden. Deshalb stellte er die Wiederbelebung der Paneuropa-Union zunächst zurück und gründete von der Schweiz aus, wo er inzwischen lebte, eine neue Vereinigung, die Europäische Parlamentarier Union, die im September 1947 in Gstaad ihren ersten Kongress abhielt. Unter den deutschen Mitgliedern des zweiten Kongresses 1948 befand sich auch der spätere Bundeskanzler Konrad Adenauer. Im Mai 1950 erhielt Coudenhove-Kalergi in Anerkenntnis seiner bisherigen Leistungen auf dem Gebiet der europäischen Einigung den erstmals von der Stadt Aachen vergebenen Internationalen Karlspreis. 1951 starb seine Frau, 1952 heiratete er Gräfin Bally.
54 Mal für den Friedensnobelpreis nominiert
Im selben Jahr fusionierte er die Europäische Parlamentarier-Union mit der Parlamentarischen Gruppe der Europäischen Bewegung zum Parlamentarischen Rat der Europäischen Bewegung und wurde deren Generalsekretär, einer der Ehrenpräsidenten und 1954 – als einziger Nichtparlamentarier – Mitglied auf Lebenszeit. Er unterbreitete dem Europarat einen Entwurf für eine Europaflagge, der aber wegen der Verwendung des christlichen Symbols des Kreuzes nicht konsensfähig war. 1955 schlug er die Ode an die Freude in Beethovens Vertonung als Europäische Hymne vor. Seit 1972 ist die Melodie die Hymne des Europarats und seit 1985 die Hymne der Europäischen Union.
Die in den Jahren 1952 bis 1954 reorganisierte Paneuropa-Union hatte zunächst ihren Sitz in Basel, seit 1965 in Brüssel. Die Wiederbelebung eines deutschen Komitees stieß jedoch auf massiven Widerstand der Europa-Union Deutschland unter der Leitung des Bankiers Friedrich Carl Baron von Oppenheim. Darüber hinaus riefen einige Vorstöße Coudenhove-Kalergis bei der Bonner Regierung Irritationen hervor. Er forderte für das Ziel der Wiedervereinigung Deutschlands die Beendigung des Kalten Krieges, was für ihn eine Anerkennung Ostdeutschlands beinhaltete. Darüber hinaus vertrat der Paneuropa-Präsident sehr vehement das Konzept eines Europas der Nationalstaaten, ebenso wie der seit 1959 amtierende französische Präsident Charles de Gaulle, was bei vielen deutschen Europabefürwortern eher reserviert aufgenommen wurde.
Aus Protest gegen die Unterstützung der Präsidentschaftskandidatur von François Mitterand durch die Europäische Bewegung legte er seine Ehrenpräsidentschaft nieder. In den letzten Lebensjahren stand Coudenhove-Kalergi der europapolitischen Konzeption von Franz Josef Strauß nahe. Nach Ballys Tod heiratete er 1969 noch Melanie Benatzy, die Witwe des „Weißen Rössl“-Komponisten. In Anerkenntnis seiner Lebensleistung, der Hartnäckigkeit, mit der er für sein Ziel, die europäische Einigung, kämpfte, verlieh ihm die Bundesregierung 1972 schließlich das Große Bundesverdienstkreuz mit Stern. Coudenhove-Kalergi konnte die Feiern zum 50. Jubiläum der Paneuropa-Union noch erleben, bevor er wenige Wochen später, am 27. Juli 1972, starb.
Die NS-Propaganda gegen ihn sowie einige dekontextualisierte Aussagen Coudenhove-Kalergis führten dazu, dass sich nach 1945 eine Reihe von Mythen um einen geheimen Plan formierten, den Coudenhove-Kalergi angeblich geschmiedet habe und der bis heute verfolgt würde. Ein zentraler Bestandteil dieser Mythen ist die Behauptung, Coudenhove-Kalergi hätte mit seinem Plan die „Heranzüchtung“ einer „eurasisch-negroiden Zukunftsrasse“ unter der Führung einer jüdischen „Adelsrasse“ angestrebt. Als vermeintlicher Beweis für diese Behauptung werden bis heute Zitate falsch paraphrasiert und aus ihren Kontexten gerissen. Der Terminus „Kalergi-Plan“ wurde vermutlich von dem österreichischen verurteilten Holocaustleugner Gerd Honsik 2003 geprägt.
Er wurde 54 Mal für den Friedensnobelpreis nominiert, erhielt ihn allerdings nie. Die Leitung der Union übernahm sein Vertrauter und Mitarbeiter aus den Jahren des Exils, Otto von Habsburg. Mit dem offiziellen Antritt seiner Präsidentschaft formulierte von Habsburg die Straßburger Grundsatzerklärung vom 11./12. Mai 1973, in der die Wiedervereinigung Europas in den Mittelpunkt gerückt wurde. Bekanntester Ausdruck dieser Überzeugung ist das Paneuropäische Picknick vom 19. August 1989 an der ungarisch-österreichischen Grenze, in dessen Verlauf Hunderte von DDR-Bürgern über die Grenze in den Westen flohen.