„schön, friedlich und still“
27. Juli 2022 von Thomas Hartung
Angst kannte er nicht. Der gefährlichste Moment für einen Tiefseeforscher sei die Autofahrt zwischen Büro und U-Boot, sagte er einmal. „Am Grund war es dann so schön, friedlich und still, da kamen wir nicht auf die Idee, Angst zu haben.“ Kurz vor seinem Tod bekannte er in der NZZ, dass er auch gerne Astronaut geworden wäre. „Das hätte mich natürlich interessiert“, sagte er und fügte bescheiden hinzu, dass die Landung auf dem Mond doch eine deutlich interessantere Expedition gewesen sei als sein Ausflug in die Tiefsee. Es dürfte in der Familie liegen, dass er die entgegengesetzte Richtung einschlug wie sein Vater Auguste, der 1932 einen jahrzehntelang gültigen Rekord mit einem Stratosphärenballon erzielte: Jacques Piccard, der am 28. Juli vor 100 Jahren in Brüssel zur Welt kam.
Nach einer unbeschwerten Kindheit als Professorensohn studierte Piccard Wirtschaft und Geschichte in Genf und wurde Mitarbeiter seines Vaters – der sich seit 1947 nicht mehr in die Höhe, sondern die Tiefe orientierte. Zusammen bauten sie das Tiefseetauchgerät „Trieste“, ein Bathyscaph, eigens als Forschungs-U-Boot für mittlere Tiefen konstruiert. 1953 stießen beide im Tyrrhenischen Meer auf 3150 Metern vor. Jacques setzte dann die Arbeit seines Vaters fort. Die US-amerikanische Marine fand Interesse an diesem U-Boot und erwarb es 1957, nachdem sie eine Reihe von Tauchfahrten vor der Insel Capri finanziert hatte. Der inzwischen verheiratete Piccard wurde darauf als wissenschaftlicher Berater der US-Administration tätig.
1958 war das Boot an mehreren Suchaktionen nach verschollenen Schiffen und U-Booten beteiligt, unter anderem an der Suche nach dem verlorenen Atom-U-Boot USS Thresher. Anschließend es Fahrzeug umgerüstet, um für Tauchgänge in größeren Tiefen geeignet zu sein. Die eigentliche Druckkörperkugel wurde von Krupp in Essen geschmiedet und ließ nunmehr Tauchfahrten bis zu maximal 36.000 Fuß (≈11.000 m) zu. Piccard soll das U-Boot nicht, wie bei einer Schiffstaufe üblich, mit Champagner, sondern mit Weihwasser bespritzt haben. Ein besonderes Sicherheitsmerkmal war der aus etlichen Stahlkugeln bestehende Teil des Ballasts, der von Elektromagneten gehalten wurde. Bei einem Ausfall der Stromversorgung hätten sich die Kugeln sofort gelöst und das Boot wäre selbsttätig aufgetaucht. Als Auftriebskörper dienten rund 85 m³ Benzin in einem zylinderförmigen Blechtank.
„warum sollten wir es noch einmal tun“
Nachdem die USA den Wettlauf in den Kosmos zunächst verloren hatten, versuchten sie in der Tiefsee Boden gutzumachten, und wählten dazu den Marianengraben rund 2000 Kilometer östlich der Philippinen. Kurz vor dem Rekordtauchgang wollten die US-Amerikaner Piccard gegen einen ihrer Landsleute austauschen, was er jedoch verhindern konnte: Sein Vertrag gibt ihm das Recht, bei jedem „besonderen Tauchgang“ dabei zu sein. Er und der US-Marineleutnant Don Walsh ließen sich in der „Trieste“ hinabgleiten, mit Schokoriegeln, Sauerstoff für zwei Tage und einem Unterwassertelefon. In 4 Stunden und 47 Minuten gelangten sie in eine Tiefe von 10.916 Metern – der in Süßwasser kalibrierte Tiefenmesser zeigte gar über 11.000 Meter an.
Die Temperatur an Bord sank von mehr als 30 Grad an der Wasseroberfläche auf eiskalte 1,8 Grad Celsius. Piccard hörte „eigentümliche prasselnde Laute, so als brate man Speck“, vermutlich als Folge des ungeheuren Drucks. Für Bewohner der Erdoberfläche wäre allein der tödlich, die Lunge würde sofort bersten. Dazu ist es vollkommen dunkel. Es gibt weder Pflanzen noch Algen. Fische, Muscheln, Quallen und andere Lebewesen sind hoch angepasst an diese Umwelt und haben keine Lufträume in ihren Körpern. Bei ca. 10.000 Meter hörten die Aquanauten eine laute Implosion: „Weil wir noch lebten und alle Instrumente funktionierten, sagten wir uns: Es kann nicht so schlimm gewesen sein, und entschieden uns, den Tauchgang fortzusetzen“, so Walsh.
Nach dem Aufstieg stellte sich heraus, dass eines der Fenster in der Einstiegsröhre geborsten war, doch dank seiner 19 Zentimeter Dicke dem Wasserdruck standhielt. 20 Minuten blieben beide ca. vier Meter über dem Meeresgrund, einer Wüste aus hellem Schlick, auf der zu ihrer Überraschung sogar ein Plattfisch lag, dann tauchten sie auf und stiegen zähneklappernd wegen der Kälte aus. „Jetzt können wir im Meer überall hin“, kommentiert Piccard später. Es ging nicht darum, dort etwas zu entdecken – es ging darum, dort gewesen zu sein. Nach dreieinhalb Stunden Aufstieg warfen die Aquanauten einen Behälter mit der US-Flagge in die Tiefe. Neun Jahre später hissten Astronauten die US-Flagge auf dem Mond.
Die Tiefsee ist zwar nach Aussagen von Wissenschaftlern der größte Lebensraum der Erde, bisher wurden aber erst wenige Quadratkilometer des Meeresbodens systematisch untersucht. Niemand zweifelte daran, dass Piccard und Walsh mit ihrer Pioniertauchfahrt ein Tor aufgestoßen hatten, das die weitere Erforschung und Eroberung der Tiefsee nach sich ziehen würde. Doch eigenartigerweise blieb eine solche Entwicklung aus, zum tiefsten Punkt der Meere wollte niemand mehr zurück. Der Erkenntnisgewinn schien zu gering, die Kosten zu hoch. 98 Prozent der Ozeane seien nicht tiefer als 6000 Meter, sagte Piccard. „Es ist wichtiger, ein paar U-Boote für 6000 Meter zu haben, als eines, das noch tiefer taucht.“ Der Pilot des Nachfolgerschiffes „Trieste II“, Ross Saxon, sagte: „Was wir daraus gelernt haben? Nicht viel, außer, dass wir es können. Es ist wie die Landung auf dem Mond. Wir haben es gemacht, warum sollten wir es noch einmal tun?“
„Einer der letzten großen Entdecker“
In den folgenden Jahren entwickelte Piccard das von der Schweizer Regierung in Auftrag gegebene Tauchboot „Auguste Piccard“. Dabei musste er sich Piccard mit diversen Experten auseinandersetzen, die zwar niemals ein U-Boot betreten hatten, jedoch Piccards Konzept misstrauten, da er kein studierter Ingenieur war. Letztlich wurden Piccards Pläne genehmigt, und das Boot konnte rechtzeitig zu Schweizerischen Landesausstellung 1964 in Lausanne am Genfersee seinen Betrieb aufnehmen. Es ist das größte jemals gebaute Tourismus-U-Boot und das größte nichtmilitärische Unterwasserfahrzeug, das 1964 etwa 33.000 Passagiere auf den Grund des Genfersees brachte.
Zwei Tage vor dem Start der Mondlandemission Apollo 11 startete 1969 das von ihm entwickelte U-Boot „Ben Franklin“ zur Erforschung des Golfstroms Boot vor der Küste Floridas nahe Palm Beach. Die Crew von sechs internationalen Wissenschaftlern wurde von Piccard als Missionsleiter angeführt. In etwa 300 bis 350 Metern Tiefe ließ sich die Crew vier Wochen unter Wasser mit dem Golfstrom treiben. Nach gelungener Mission besuchte ihn Wernher von Braun – die NASA interessierte sich vor allem mit Blick auf die psychischen Auswirkungen auf die Crew während einer so langen Mission dafür und ließ die dabei gewonnenen Erkenntnisse in die Skylab-Missionen und das Space-Shuttle-Programm einfließen.
In den 1970er-Jahren entwickelte Piccard das U-Boot „F. A. Forel“, mit dem von 1978 bis 2005 die Schweizer Seen erforscht wurden. Alle seine Tauchfahrzeuge existieren noch heute und sind teilweise als Ausstellungsstücke zu besichtigen. Daneben gründete er eine Stiftung, die sich intensiv für die Bewahrung und die Erforschung des marinen Lebens einsetzt. Bis ins hohe Alter von 82 Jahren nahm er noch an Tiefseeexpeditionen teil und schrieb mehrere Bücher. Sein Sohn Bertrand wurde knapp zwei Jahre vor dem legendären Tauchgang geboren. Eine seiner ersten Erinnerungen sei, dass er seinen Vater im Fernsehen sah und hinter die Kiste kroch, um zu sehen, ob der Vater sich dort versteckt hatte, erzählt er. Ihn zieht es wieder in die Lüfte: Er umrundet 1999 als erster die Erde in einem Ballon: „Jeder von uns hat etwas gemacht, von dem man zu dem Zeitpunkt annahm, dass es unmöglich war.“ Ihm und seinen Geschwistern Marie-Laure und Thierry habe Piccard seine Sicht aufs Leben vermittelt, dass „Träume durch Hartnäckigkeit wahr werden können“.
Sein Vater und er erhielten im Februar 2008 die Ehrendoktorwürde der Université catholique de Louvain. Am 1. November 2008 starb Jacques Piccard in seinem Haus am Genfersee. „Einer der letzten großen Entdecker des 20. Jahrhunderts (…) ist gegangen“, schrieb Phil Mundwiller, Sprecher von Piccards letztem Forschungsprojekt „Solar Impulse“. Nach Piccards Feststellung, dass auch in der Tiefsee Strömungen vorhanden sind, hatte er vor der Versenkung radioaktiver Abfällen im Meer gewarnt – dass entsprechende Pläne bis heute nicht umgesetzt wurden, rechnen ihm manche als weiteres bleibendes Verdienst an. Im Mai 2019 meldete der US-Abenteurer Victor Vescovo, er sei in einem Spezialgefährt bis auf 10.928 Meter Tiefe getaucht und habe damit Piccards Rekord gebrochen. Die Darstellung wird bis heute bezweifelt.