Wo Stresemann seine Karriere startete
12. Juli 2022 von Thomas Hartung
Bis 1972 gibt es in der DDR noch über 11.000 private Betriebe. Oft stellen sie Nischenprodukte her, die aus dem Alltag aber nicht wegzudenken waren. Unter Erich Honecker ist Schluss mit dem Privatunternehmertum: Am 13. Juli 1972 vermeldet er seinem politischen Ziehvater, Kremlchef Leonid Breschnew, stolz den Abschluss der Verstaatlichungskampagne. Von der war auch die Dauerbackwarenfabrik BerBö betroffen. 1936 von den Striesener Waffelbäckern Max und Gerhard Berger und einem Privatier namens Böhme aufgebaut, machte sie sich nach dem Krieg einen Namen als gefragter Produzent von Russisch Brot – zu DDR-Zeiten eine klassische „Bückware“, nach der sich die Verkäuferin bücken musste, um sie aus den geheimen Vorräten unter dem Verkaufsregal zu holen.
Die Nascherei aus Eischnee, Zucker, Kakao, Mehl, Karamellsirup und Zimt, in Buchstaben aufs Backblech gespritzt, hatte der Dresdner Bäcker Ferdinand Friedrich Wilhelm Hanke in St. Petersburg kennengelernt und in Dresden damit 1845 eine „Deutsche & Russische Bäckerei“ eröffnet, in der Deutschlands erstes Russisch Brot mit lateinischen Buchstaben gebacken wurde. Aus der Zwangsenteignung der BerBö entstand der „VEB RuBro“, der bereits zwei Jahre später im „VEB Dauerbackwaren Dresden“ aufging.
Trotz des Direktors Herbert Wendler, dem Erfinder der Dominosteine, war das der Anfang vom Siechtum einer mittlerweile fast 200jährigen Tradition. Denn als „Werk II“ des VEB Süßwarenfabriken „Elbflorenz“ schluckte der Betrieb unter anderem „Gerling & Rockstroh“ (gegr. 1894), die „Schokoladen- und Nährmittelfabrik Dr. med. Sperber“ (gegr. 1922), die Schwerter-Schokoladenfabrik (gegr. 1888), die Schokoladen- und Marzipanfabrik Vadossi in Radebeul-Kötzschenbroda (gegr. 1920) und die Emerka Bonbon- und Schokoladenfabrik Lindenau & Ulbricht in Niedersedlitz (gegr. 1915).
Allerdings stellte sich mit der Zeit heraus, dass die Schokoladen-, Zucker- und Dauerbackwarenindustrie der DDR dem internationalen Wettbewerb immer weniger gewachsen war. Traditionelle Produkte wurden gestrichen, um mit einem neuen Sortiment höhere Stückzahlen produzieren zu können. Zudem mussten die Produkte dem Vergleich mit den bunt verpackten Waren aus dem Westen Deutschlands standhalten.
1987 unternahm gar das DDR-Fernsehen den Versuch, die darbende Branche mit einer Unterhaltungsrevue aufzuhübschen: „Showkolade“, die vom Dresdner Bass Gunter Emmerlich moderiert wurde und in der Comedian Wolfgang Stumph eine ständige Rubrik hatte. 1990 starb die Sendung nach 13 Ausgaben und ging „Elbflorenz“ in die Liquidation. Viele Dresdner beschämt und ärgert das bis heute – waren Anfang des 20. Jahrhunderts in den Süßwarenfabriken der Sachsenhauptstadt doch noch 7.000 Menschen angestellt.
Zucker und Elbschifffahrt
Puristen lassen die Schokoladentradition Dresdens bereits mit Jean-Étienne Liotards „Schokoladenmädchen“ beginnen, das 1745 für die Dresdner Gemäldesammlung Königs August III. gekauft wird – aber erst seit 1855 in der Gemäldegalerie Alte Meister zu sehen ist. 1767 erteilt die Stadt dem italienischen Kaufmann Giovanni Andrea Puricelli das Privileg zur Herstellung von Trinkschokolade. 1771 beantragt der Wiener Schokoladenfabrikant Franz Klopf die Erlaubnis, eine Schokoladenfabrik zu eröffnen. Außerdem wollte er Hof-Schokoladen-Lieferant werden. Die Behörden erlaubten ihm zwar die Produktion, waren sich aber unsicher über den Status der Schokolade in Dresden. Der Verkauf war allen Specereyhändlern sowie den italienischen Händlern erlaubt, die Herstellung lag in den Händen der Konditoren.
Die Handelsinnung ignorierte die Erlaubnis der Behörde, verbote Klopf den Verkauf von Schokolade und verklagte ihn beim Rat. Er sei nicht nur ein Fremder ohne Bürgerrecht, sondern auch kein Mitglied der Handelsinnung. Der Rat verbot also Klopf den Verkauf von Schokolade und bedrohte ihn mit einer Strafe von 5 Talern. Am 7. Dezember 1772 beantragte Klopf vom Rat das Recht, Schokolade in einem Laden zu verkaufen. Diesmal erlaubte die Behörde Klopf den Verkauf der Schokolade, weil sie ein, wenn auch exotisches und unübliches, Dresdner Produkt sei.
Als eigentlicher Begründer der süßen Tradition gilt allgemein Heinrich Conrad Wilhelm Calberla (1774-1836), ein Kaufmann, der 1817 mit der Calberla‘schen Zuckersiederei ein Unternehmen gründete, das für die Schokoladenproduktion grundlegend war. Für den einfacheren und kostengünstigeren Transport von Rohrzucker etablierte er zugleich den Dampfschiffverkehr von Dresden nach Hamburg auf der Elbe. Die erste Schokoladenfabrik entstand 1823 in Dresden-Neustadt als „Zichorien-, Schokolade- und Zuckerwarenfabrik Jordan & Timaeus“. Eine Jordan- und eine Timaeusstraße sind heute davon noch übrig geblieben. Das zunächst auf die Herstellung von Zichorienkaffee spezialisierte Unternehmen hatte von 1828 an auch „Dampfschocolade und Cacaoware“ im Angebot.
Dabei war die Herstellung von Schokolade damals noch ein geschäftlich riskantes Unterfangen. Durch die Zugabe von Milch wurde die Schokolade feiner, weicher und zarter. Um 1830 erfand der Holländer Coenraad Johannes van Houten schließlich ein Verfahren zur Entölung von Kakao. Die Dresdner Firma hat dann ab 1839 die weltweit erste Milchschokolade unter Verwendung von Eselsmilch (!) hergestellt. Die „Cacaomassen“ in Tafeln und Blöcken, in Dessert- oder „Speisechocoladen“ und Figuren von Jordan und Timaeus waren wirtschaftlich ein Renner, so dass der Betrieb expandierte, darunter ins böhmische Bodenbach (Děčín). Das Unternehmen engagierte sich auch gesellschaftlich. Dem Sohn des Firmengründers, Ernst Albert Jordan, ist die Gründung einer Aktiengesellschaft zur Errichtung des Alberttheaters am Albertplatz zu verdanken.
Zu den weiteren Firmen der Branche, die sich im 19. Jahrhundert auf Schokolade spezialisierten, gehörte Lobeck & Co. in Löbtau. Der lösliche entölte „Kakao Lobeck“ wurde in vielen Staaten patentiert. Lobeck schaffte es bis zum sächsischen Hoflieferanten. Andere Fabriken wie die von Petzold & Aulhorn in Dresden oder Otto Rüger in Sobrigau exportierten ihre Produkte bis nach Übersee, Rüger wurde gar zum k.u.k. Hoflieferanten ernannt. Er erkannte, wie wichtig Werbung ist, und erfand die Werbefigur des sympathischen „Hansi-Jungen“. Der wurde von Kunstmaler Hermann Otto Zieger geschaffen, vermutlich stand dabei sein Sohn Paul Otto Modell. Die Reklame mit „Hansi“ auf Emailtafeln und Druck sind bis heute begehrte Sammlerobjekte.
Auch die Firma Riedel & Engelmann gehörte zu den bekannten Schokoladenherstellern an der Elbe. Sie besaß Werksverkaufsstellen, belieferte Dresdner Geschäfte und auch das sächsische Königshaus. Der königlichen Familie schmeckte die Schokolade so gut, dass sie der Firma schon um 1888 herum die Auszeichnung „Führen der Kursächsischen Schwerter“ verlieh. So wurden die Schwerter Markenzeichen der Firma. Die Dresdner kauften „Schwerter-Chocolade“ und „Schwerter-Cacao“.
Sehr beliebt gerade zur Weihnachtszeit waren auch Figuren aus Schokolade. In dieser Beziehung fügte es sich günstig, dass ein anderer Dresdner, Anton Reiche, als Klempnergeselle seine Wanderjahre in Frankreich verbracht und dort die Herstellung von Schokoladenformen erlernt hatte. Nach seiner Rückkehr gründete er in Dresden die bedeutendste „Schokoladenformen- und Blechemballagenfabrik“ Deutschlands. So fanden die Kinder auf ihren Weihnachtstellern Weihnachtsmänner, Zwerge, Engel aus Schwerter-Schokolade, die in den detailreichen Formen der Firma Reiche gegossen worden waren. Um 1880 wurden in Dresden 550 Tonnen Schokolade jährlich hergestellt. Das war damals etwa ein Drittel der deutschen Gesamtproduktion.
Schwerter, Tell und Nudossi
Derweil drängte Rüger auf die Einhaltung von Qualitätsstandards und war 1877 Mitbegründer des Verbandes deutscher Schokoladenfabrikanten, ab 1881 dessen Vorsitzender. Aus den 20 Gründungsunternehmen, darunter fünf aus Dresden, wurden letztlich 178 Mitglieder. Seit 1878 gab es eine Verbandmarke, welche die Reinheit der Produkte garantierte. Jeder Hersteller, der diese Marke auf seinen Produkten abbilden wollte, musste unangekündigte Qualitätskontrollen in seiner Fabrik zuzulassen. Wenn vom Verband abgelehnte Stoffe verwendet wurden, gab es beim ersten Mal eine Verwarnung, beim zweiten Mal wurde einer Geldstrafe zwischen 50 und 100 Mark verhängt und beim dritten Mal das Unternehmen aus dem Verband ausgeschlossen. Der Verstoß wurde mit Angabe der Ausschlussgründe in mehreren Tageszeitungen publiziert.
Von 1901 bis 1904 arbeitete Gustav Stresemann in der Position eines Assistenten als Interessenvertreter und Rechtsberater beim Verband. Ihm gelang es, unter den unterschiedlich strukturierten Mitgliedsunternehmen einen Interessenausgleich herbeizuführen. Es kam auf seine Initiative hin zu einer Verständigung über einen Mindestpreis für die Produkte. Erst nach Ausscheiden Stresemanns endete diese Absprache und führte 1906 zu einem langen Preiskampf. Stresemann, der in Dresden auch seine Frau Käte kennenlernte und heiratete, gründete den Verband sächsischer Industrieller mit und macht später als Reichskanzler Karriere. 1934 wurde der Schokoladenverband zwangsaufgelöst, indem er in die Fachgruppe Süßwarenindustrie der Wirtschaftsgruppe Lebensmittelindustrie überführt wurde, für die eine Zwangsmitgliedschaft bestand.
Zu den prominenten Firmen jener Zeit gehörten auch die Dresdner „Cacao-, Chocoladen-, Confecturen-, Marzipan und Waffelfabriken“ von Hartwig & Vogel, deren Anfänge ins Jahr 1870 zurückreichen. Das Unternehmen kreierte den „Tell-Apfel“, ein zerlegbarer, aus mehreren Schokoladenelementen bestehender Artikel. Zudem brachte das Unternehmen zerlegbare Schokoladenerzeugnisse in Tier- und Fruchtform auf den Markt, etwa die Tell-Glücksvögel oder den Tell-Bären. Das Werk wurde nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst VEB Tell, später Werk I und anschließend Stammsitz der VEB Süßwarenfabriken „Elbflorenz“. Nach und nach wurden alle Dresdner Unternehmen, sofern sie nicht stillgelegt oder in anderen Kombinaten aufgegangen waren, dem Verbund angeschlossen.
Im Zuge dieser Zusammenschlüsse wurden das Produktionsprogramm umstrukturiert, die Pralinenproduktion eingestellt und stattdessen die Herstellung von Schokoladengrund- und Fondantmassen, Vollmilchpulver und anderen Kakaoprodukten erweitert. Bis 1989 wurden auch Marzipankartoffeln für das Kölner Unternehmen Hitschler International GmbH & Co. KG produziert. Einige Süßwaren der Handelsunternehmen Genex, Intershop oder Delikat wurden nicht in der BRD, sondern als Lohnproduktion in der DDR hergestellt, z. B. Lübecker Marzipanbrot. Als Herkunftsbezeichnung wurde nicht „Made in West Germany“, sondern „Made in Germany“ aufgedruckt – was heute prophetisch wirkt.
Eine weitere Umstrukturierung nach 1989 schlug ebenso fehl wie der Versuch, den VEB Dresdner Süßwarenfabriken an ein westdeutsches Unternehmen zu verkaufen. Auch die Nachkommen der Alteigentümer lehnten eine Übernahme ab: Anfang 1990 wurden die Produktion in den Dresdner Werken I und II eingestellt, die Grundstücke verkauft, die Gebäude abgerissen. Auf dem Gelände des Stammhauses steht heute das Dresdner „World Trade Center“. Lediglich Vadossi wurde an die 1972 enteigneten Alteigentümer zurückübertragen und firmiert heute als „Sächsische und Dresdner Back- und Süßwaren GmbH“ in Radebeul, die Schokoladen-, Waffel- und Oblatenprodukte verkauft. Die bereits 1954 eingetragene Wort- und Bildmarke „VEB DRESDNER SÜSSWARENFABRIKEN DRESDEN – ELBFLORENZ“ wird heute von Vadossi genutzt, deren bekannteste Marke der Ende der 1960er Jahre entwickelte Nutella-Konkurrent „Nudossi“ ist und bis heute Erfolg hat.
Von RuBro zu Quendt
Rechnet man die Waffelfabrik Haubold & Richter heraus, die heute als Otto Beier Waffelfabrik GmbH in Wilsdruff arbeitet, ist in Dresden selbst gerade ein Unternehmen von einst 39 übrig geblieben. Zu danken ist das dem Lebensmitteltechnologen Helmut Quendt, der an der TU Dresden zum Thema „Weizenteigbereitung bei hohen Knetbeanspruchungen“ promoviert hatte. Er entwickelte die einst vom VEB RuBro gebaute Maschine in den 1980er Jahren am alten Standort weiter zu einer Anlage zur kontinuierlichen Fertigung von Russisch Brot. Als der VEB Dauerbackwaren abgewickelt werden sollte, rettete Quendt seine Fertigungslinie in einer Nacht- und Nebelaktion vor dem Verschrotten und gründete 1991 die „Dr. Quendt Backwaren GmbH“, um die Produktion fortzuführen. Anfangs fuhr er im rostigen Lieferwagen übers Land, um sein Russisch Brot zu verkaufen.
1992 ließ er sich den Namen „Dr. Quendt“ schützen, begann 1994 mit der Herstellung von Original Dresdner Christstollen und übernahm 1999 die insolvente „Firma Herbert Wendler“ und mit ihr die Produktion von Dominosteinen. 2013 geriet das Unternehmen unter anderem aufgrund anziehender Rohstoffpreise in finanzielle Schieflage, so dass sich Quendt 2014 mehrheitlich von der Aachener Printen- und Schokoladenfabrik Henry Lambertz GmbH & Co. KG übernehmen ließ, womit die Lambertz-Gruppe drei führende Marken mit großen Herkunftsbezeichnungen im Backwarenbereich vereint: Aachener Printen, Nürnberger Lebkuchen und Dresdner Stollen.
Nach Unternehmensangaben stammt beim Christstollen heute fast die Hälfte der deutschen Jahresproduktion aus der Backwarenfabrik im Südwesten Dresdens. „Sein Name steht nicht nur für guten Geschmack und beliebte Lebensmittel, sondern auch für den Unternehmermut, der Sachsen nach 1990 wieder stark gemacht hat“, ließ zu Quendts Tod 2016 der damalige sächsische Ministerpräsident Stanislaw Tillich (CDU) verlauten. Ironie der Geschichte: Noch 1989 war Tillich stellvertretender Vorsitzender des Rates des Kreises Kamenz und zuständig für den Bereich Handel und Versorgung – dem Bereich, dessen Engpässe durch den unseligen Schritt 1972 mitverursacht wurden.
2015 scheiterten zwei Lüneburger Unternehmerinnen noch mit einer Wiederbelebung der Marke „Jordan & Timaeus“. Doch seit etwa 15 Jahren haben sich frische, kleine Betriebe in Dresden gegründet, die Tradition und Unternehmertum neu verbinden, so „Tafelwerk“, „Camondas“ mit angeschlossenem Dresdner Schokoladenmuseum, das „Pralinenherz“ Jacqueline Hormes‘, die in Tell’scher Tradition Dino- und andere Schokoladentierfiguren fertigt, oder das „Dresdner Schokoladenhandwerk“ von Amina Kühnel, die neben ausgefallenen Pralinen und Brotaufstrichen auch Faberge-Ostereier aus Schokolade kreiert. Außerhalb Dresdens sind erwähnenswert die Schokoladenmanufakturen Olav Praetsch Wermsdorf, Marcus Schürer Heidenau, die eine Frauenkirche aus Schokolade im Angebot hat, die Sächsische Kaffee- und Schokoladenmanufaktur Grimma oder „Adoratio“ in Pirna.
„Wir sehen Schokolade nicht nur als Genussmittel, sie ist uns ein Rohstoff, den uns die Natur geschenkt hat, um in uns Glücksmomente und Kindheitserinnerungen wachzurufen“, schwärmt Adoratio-Chefin Susanne Engler für ihre Branche. Camondas-Chef Ivo Schaffer erklärt im MDR, viele seiner Kreationen, etwa die „Stollenschokolade“, entstünden abends als Ideen bei Bier und Wein. „…das müsste man mal machen. Und am anderen Morgen, wenn das immer noch eine coole Idee ist, da sagt man sich dann, warum macht man aus ‚müsste‘ nicht ‚man macht‘“. Es sind solche Macher, die nicht nur – wieder – die Dresdner Schokoladenbranche, sondern unsere Wirtschaft insgesamt vorantreiben. Das kann man zu Zeiten linksgrüner Umverteilungs- und Enteignungsphantasien – eingedenk des warnenden Jahrestags – gar nicht oft genug betonen.